Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 21.03.2002

Untertitel: "Als Außenminister haben Sie es zu ungeahnter Wertschätzung und Popularität gebracht. Ihre Politik, der "Genscherismus", wurde zu einem Markenzeichen", so der Kanzler in seiner Rede.
Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/44/73444/multi.htm


sehr geehrte Frau Genscher, lieber Hans-Dietrich Genscher!

Ganz herzlich gratuliere ich Ihnen zu diesem besonderen Geburtstag.

Da die Redner-Liste ohnehin schon lang ist, gestatten Sie mir, dass ich diese Glückwünsche auch im Namen der Bundesregierung und für die Sozialdemokratische Partei überbringe.

Vor allem aber möchte ich Ihnen heute für alles danken, was Sie in gut 40 Jahren aktiver Politik für unser Land, für das zusammenwachsende Europa und für den Frieden in der Welt geleistet haben.

Sie haben die wechselvolle Geschichte unseres Landes miterlebt und miterlitten. Sie haben Geschichte mitgeschrieben. Und Sie sind selbst ein Stück Geschichte geworden.

Auch bei Hans-Dietrich Genscher, bei dem im Nachhinein vieles den Anschein hat, als füge es sich logisch zueinander, hat der Zufall bisweilen kräftig nachgeholfen.

Nach dem Rücktritt von Willy Brandt sollen Sie in jenen turbulenten Mai-Tagen am Wirtschaftsministerium interessiert gewesen sein. Noch lieber aber wären Sie Finanzminister geworden.

Verehrter Hans-Dietrich Genscher,

ich will jetzt gar nicht spekulieren, was alles anders gekommen wäre. Und schon gar nicht will ich an Ihrem Urteilsvermögen und an Ihrer Entscheidungskraft zweifeln.

Aber seien Sie bloß froh, dass das Amt des Finanzministers Ihnen erspart geblieben ist. Ein Finanzminister kann auf Sympathien, auf Zuneigung oder gar auf Dankbarkeit nicht einmal hoffen. Wie soll ein Finanzminister es zu Beliebtheit bringen? Bestenfalls Respekt wird ihm entgegengebracht. Fragen Sie Theo Waigel oder Hans Eichel.

Als Außenminister dagegen haben Sie es zu ungeahnter Wertschätzung und Popularität gebracht. Ihre Politik, der "Genscherismus", wurde zu einem Markenzeichen.

Zuerst in der Bevölkerung. Erst später und viel zögerlicher in Ihrer damaligen Koalition. Der "große" Vorsitzende der bayerischen Regionalpartei hat sich zeit seines Lebens nicht mit Ihrer Politik anfreunden mögen.

Über den "Genscherismus" ist viel geschrieben worden. Ich will das auch gar nicht um neue Deutungen ergänzen. Nur so viel: Der Begriff konnte sich zum einen durchsetzen, weil das Amt und die Person zu einer politischen Einheit verschmolzen waren. Wohl selten hat es in der deutschen Politik eine derartig perfekte Symbiose gegeben.

Und dann war der Begriff Kennzeichen und Definition einer ganz bestimmten Art der deutschen Außenpolitik. Als Außenminister stand Hans-Dietrich Genscher, dem ansonsten ja allerlei Wendigkeit und Geschmeidigkeit nachgesagt worden ist, in aller erster Linie für Kontinuität, für Berechenbarkeit und Verlässlichkeit.

Er setzte die von der sozial-liberalen Koalition begründete Ost- und Entspannungspolitik konsequent fort. Im damaligen KSZE-Prozess erkannte Hans-Dietrich Genscher die historische Chance für Europa. Er wurde zum Antreiber, zum Protagonisten einer kooperativen Sicherheitspolitik durch Abrüstung und Rüstungskontrolle.

Und in den 80er Jahren bewies Hans-Dietrich Genscher einmal mehr sein so oft gerühmtes Gespür für Veränderungen in der Großwetterlage. Er setzte frühzeitig auf den Reformpolitiker Gorbatschow in Moskau, und er tat gut daran.

Auf dem Weltwirtschaftsgipfel 1987 in Davos warnte der damalige Außenminister Genscher den Westen vor falschen Berührungsängsten. Die Politik von Glasnost und Perestroika erschien ihm als historische Chance zur Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses.

Es mutet aus heutiger Sicht schon einigermaßen skurril an, welche Reaktionen es daraufhin in Deutschland und in manchen westlichen Hauptstädten gegeben hat. Genscherismus " galt in bestimmten Kreisen plötzlich als Synonym für Schaukelpolitik. Und Hans-Dietrich Genscher selbst, dessen Ablehnung aller totalitären Systeme immer außer Frage stand, wurde gar als Sicherheitsrisiko eingestuft:

Weil er alten Feindbildern abschwor, weil er auf den Dialog mit Gorbatschow setzte; weil er aus der Gegnerschaft zu Moskau eine neue Partnerschaft entwickeln wollte.

Damals ging es Hans-Dietrich Genscher um nichts anderes als die Wahrung und optimale Vertretung deutscher und europäischer Interessen.

Nicht anders verhält es sich im Übrigen heute. Wenn wir gefordert sind, Deutschlands neue Rolle in einer veränderten Welt auszufüllen.

Unsere Partner in Europa und in der NATO erwarten vom souveränen Deutschland zu Recht, dass es Verantwortung übernimmt für die Wahrung der Menschenrechte und für die Sicherung von Frieden und Demokratie.

In den vergangenen Monaten hatten wir zum Teil sehr schwierige Entscheidungen zu treffen. Ich bin Hans-Dietrich Genscher dankbar für unsere offenen Gespräche und für die Unterstützung, die ich dabei erfahren habe.

Meine Damen und Herren,

wer so lange Spitzenämter innegehabt hat wie Hans-Dietrich Genscher, der hinterlässt natürlich Spuren.

Spuren beispielsweise in der politischen Karikatur. Für Zeichner war "Der mit den Ohren", wie der unvergessene Herbert Wehner ihn nannte, ein überaus beliebtes Objekt.

Früher als andere hat Hans-Dietrich Genscher begriffen, welche Bedeutung Image, Profil und Prestige in einer Mediengesellschaft haben. Deswegen pflegte er das Bild vom rastlosen und umtriebigen Vielflieger ebenso wie das Bild vom omnipräsenten und allwissenden Strippenzieher, der die Fäden fest in der Hand hält.

Spuren in der Mediengesellschaft konnte er aber auch hinterlassen, weil er aus der halleschen Provinz ausreichend Humor und Selbstironie mitgebracht hatte. Genschman " war, wenn Sie so wollen, der erste Kultstar in der deutschen Politik. Und man tut Hans-Dietrich Genscher ganz gewiss nicht unrecht, wenn man von ihm sagt, dass er es geliebt hat, sich zu stilisieren und zu inszenieren.

Auch wenn das immer wieder anderen unterstellt wird: Die Sprache der Mode hat Hans-Dietrich Genscher mit seinem schrillen und verwegenen gelben Pullunder in die Politik eingeführt.

Und noch auf einem weiteren Feld hat es Hans-Dietrich Genscher zur Meisterschaft gebracht: Ich meine seine legendären Statements.

Legionen von Journalisten hat er zur Verzweiflung gebracht. Zum einen, weil er zu jenen Politikern gehört, die zweimal überlegen, bevor sie nichts sagen.

Zum anderen jedoch durch seine ausgeklügelte O-Ton-Technik. Wenn er in die Mikrofone sprach, dann antwortete er gewissermaßen ohne Punkt und Komma, auf die Sekunde genau entsprechend der vorgesehenen Sendelänge. Zwischenfragen waren unmöglich, nachträgliche Schnitte ausgeschlossen.

In der modernen Sound-Bite-Demokratie ist deswegen der Titel "Mister Eins: Dreißig" auch gar nicht ehrenrührig.

Vermutlich nur einmal in seinem Leben konnte Hans-Dietrich Genscher nicht zu Ende bringen, was er sagen wollte.

Es war der historische Moment auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag. Tausende Flüchtlinge warteten gespannt, als der Bundesaußenminister ans Mikrophon trat.

Seine Worte sind noch in Erinnerung: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." Weiter kam er nicht. Alles andere ging im grenzenlosen Jubel unter. Dieser Augenblick war gewiss ein emotionaler Höhepunkt für Hans-Dietrich Genscher.

Und ich selbst konnte miterleben, als wir im Herbst 1999 gemeinsam in Prag waren, wie dankbar die damaligen Flüchtlinge immer noch sind.

In den Monaten von der Grenzöffnung in Ungarn bis zur Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands vollendete sich der Lebenstraum Hans-Dietrich Genschers.

Für den Hallenser Genscher war die Einheit Deutschlands stets mehr als ein Lippenbekenntnis. Die Einheit war ihm Ziel und Auftrag zugleich, auch wenn ihre Verwirklichung so entfernt und ziemlich ausgeschlossen erschien.

Wie ein moderner Cato beschwor Hans-Dietrich Genscher ab 1976 Jahr für Jahr bei den Vereinten Nationen die deutsche Einheit. Keine Vollversammlung verging ohne sein "ceterum censeo". Der Traum der Einheit ist Wirklichkeit geworden. Und Hans-Dietrich Genscher, der deutsche Europäer, hatte daran maßgeblichen Anteil.

Die Deutschen in Ost und West, unsere europäischen Nachbarn und die Völker in der ganzen Welt sind dem Patrioten Hans-Dietrich Genscher dankbar für seine großen politischen Leistungen zur Überwindung der Blockkonfrontation.

Meine Damen und Herren,

lassen Sie mich mit zwei persönlichen Bemerkungen schließen. Nicht alles, was er vorhergesagt hat, ist auch eingetreten.

So hat er einmal vollmundig das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters vorhergesagt. Das war voreilig.

Und dann habe ich gelesen, dass Hans-Dietrich Genscher einen überaus eigenwilligen Umgang mit Horoskopen pflegt. Da er im Übergang vom Sternbild Fische auf das Sternbild Widder geboren ist, soll er gewöhnlich beide lesen, um auf Nummer sicher zu gehen.

Ich kann dieses Verhalten gut nachvollziehen. Wer Optionen besitzt, kann sich glücklich schätzen. Das gilt bei Sternzeichen wie in der Politik überhaupt.

In diesem Sinne, lieber Hans-Dietrich Genscher, wünsche ich Ihnen für die Zukunft alles Gute und Gesundheit.