Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 29.05.2002

Untertitel: Schröder: "Teilhabe am Sagen" heißt für mich z. B. betriebliche Mitbestimmung in einer modernen Betriebsverfassung. "
Anrede: Lieber Michael Sommer, lieber Dieter Schulte, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/80/82080/multi.htm


Zuerst möchte ich dir, lieber Dieter, für deine freundschaftliche Zusammenarbeit danken. Einer Zusammenarbeit, bei der wir gelegentlich auch zu streiten hatten - das aber auf einer Basis, bei der immer klar war, dass es eine Auseinandersetzung auf der Grundlage gemeinsamer Wertvorstellungen war. Du hast dich in all den Jahren - Michael hat das ausführlich gewürdigt - für die Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingesetzt und unglaublich viel vorangebracht - in deiner Funktion als Betriebsrat, dann bei der IG Metall, und natürlich erst recht in den acht Jahren, in denen du Vorsitzender des DGB warst. Michael Sommer hat eben gesagt "du hast dich um die Gewerkschaftsbewegung verdient gemacht", und das ist richtig. Aber weil du dich um die Gewerkschaftsbewegung verdient gemacht hast, hast du dich auch um Deutschland verdient gemacht.

Dir, lieber Michael Sommer, möchte ich ganz herzlich zu deiner überzeugenden Wahl gratulieren. Das deutliche Votum des Kongresses deines DGB wird für dich ganz gewiss Rückhalt bei der Lösung der vor dir liegenden Aufgaben sein. Ich bin ganz sicher: Diese Form freundschaftlichen - wenn gelegentlich auch kritischen - Dialogs, den wir immer mit Dieter Schulte hatten, werden wir miteinander fortsetzen; denn wir haben noch eine ganze Menge vor und eine ganze Menge vor uns. Auch den übrigen Vorstandsmitgliedern spreche ich meine Glückwünsche zur Wahl aus, und ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.

In weniger als vier Monaten geht es um eine Richtungsentscheidung für unser Land. Es geht um die Entscheidung zwischen Zukunft oder Vergangenheit, zwischen Erneuerung oder Stillstand, zwischen den richtigen Antworten auf die Probleme unserer Zeit oder den untauglichen Rezepten von vorgestern verkörpert durch das Personal von gestern. Lasst uns das im Einzelnen betrachten.

Die Themen, die uns in Zukunft gemeinsam bewegen werden, hast du, lieber Michael Sommer, gestern in deiner Grundsatzrede angesprochen. Ich möchte darauf eingehen und will mit den Arbeitnehmerrechten beginnen: Bei der politischen Gestaltung von Rechten der Arbeitnehmerschaft orientieren sich Gewerkschaften auf der einen und Sozialdemokratie auf der anderen Seite gemeinsam an einem wesentlichen Ziel: Es geht uns um die umfassende Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Haben - also am erarbeiteten Wohlstand in der Gesellschaft - , aber auch am Sagen, also an den Entscheidungen in der Gesellschaft, und diese dürfen sich nicht nur auf den politischen Prozess beziehen. Teilhabe am Sagen "heißt für mich zum Beispiel betriebliche Mitbestimmung in einer modernen Betriebsverfassung." Teilhabe am Haben " gibt es nur, wenn es Tarifverträge gibt, auf deren Basis die Gewerkschaften den Beschäftigten ihren gerechten Anteil an den erarbeiteten Werten in unserer Gesellschaft sichern. Dass das funktioniert, haben wir - allen Unkenrufen zum Trotz - in den letzten Wochen in der Che-mie- , aber auch in der Metallindustrie gesehen. Ich bin sicher: Auch beim Bau, in der Druckindustrie und im Einzelhandel wird es am Ende zu vernünftigen Ergebnissen kommen.

Ich denke, diese Tarifrunde hat erneut den Sinn und die Stärke der Tarifautonomie bewiesen. Gewerkschaften und Arbeitgeber haben bewiesen, dass sie Einmischung von außen nicht brauchen. Ihr wisst: Andere sehen das anders. CDU und CSU haben angekündigt, zum Beispiel das Günstigkeitsprinzip zu Lasten der Beschäftigten zu ändern. Macht euch nichts vor, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die wollen das wirklich, auch, wenn sie gegenwärtig vorzugsweise Kreide verspeisen. Ich erinnere mich nur zu gut daran, dass die anderen viele Anträge mit dieser Stoßrichtung allein in dieser Legislaturperiode in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Daraus folgt: Da liegt einiges fertig in der Schublade. Sie wollen den Tarifverträgen ihre Schutz- , Ordnungs- und Friedensfunktion nehmen. Sie wollen einen Lohndumping-Wettbewerb in den Betrieben. Sie wollen Tarifverträge zur unverbindlichen Richtschnur degradieren - Tarifautonomie ist eben doch ein Fremdwort für diese Leute - , und sie wollen damit die Streikfähigkeit der Gewerkschaften aushebeln. Kurzum: Mit diesem Programm legt man die Axt an die soziale Dimension der Marktwirtschaft in Deutschland. Deswegen ist der Vorwurf gerechtfertigt, dass sie eine andere Gesellschaft wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist mit mir nicht zu machen, und ich hoffe, das ist mit euch nicht zu machen.

Betriebsräte sichern Teilhabe, und wir wollen deshalb aktive Betriebsräte. Wir sind damit - das gilt es, den Skeptikern zu sagen - in Deutschland gut gefahren. Die Kraft unserer Volkswirtschaft, ihr Erfolg und ihre Fähigkeit, in Krisen durchzustarten - wie es gegenwärtig wieder geschieht - , haben auch etwas mit der Fähigkeit dieser Volkswirtschaft zu tun, immer wieder zu einem gerechten Interessenausgleich zwischen den breiten Schichten der arbeitenden Menschen und den anderen Teilen der Gesellschaft zu kommen. Dieser Interessenausgleich ist nur mit starken Gewerkschaften möglich. Deshalb wollen wir starke Gewerkschaften und wollen sie als Partner in kritischer Solidarität mit uns. Im Übrigen: Alle wissen eigentlich, dass so manches Unternehmen in Deutschland nicht mehr existieren würde, wenn nicht ausgerechnet gute und erfahrene Betriebsräte die Absicherung mit übernommen hätten.

Hierin liegt der Grund, warum wir daran gegangen sind - zusammen mit den Spitzen der Gewerkschaften - , die Betriebsverfassung umfassend zu modernisieren. Auch hier gilt: Andere wollten das nicht, und andere haben angekündigt, das alles wieder auf den Stand von vor 30 Jahren zurückzuversetzen. Auch das steht im September zur Wahl, und auch das muss man wissen, wenn man Bilanz zieht und sich entscheidet.

Wir glauben: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wissen selbst am besten, was sie wollen, und sie können selbst am besten die Entscheidungen, die notwendig sind, treffen. Wir wollen zum Beispiel nicht, dass der Arbeitgeber allein entscheidet, ob jemand in Teilzeit gehen darf oder nicht. Das entspricht nicht unserem Bild eines mündigen Arbeitnehmers oder einer mündigen Arbeitnehmerin. Genau deshalb haben wir den Teilzeitanspruch eingeführt, und wir wollen, dass das beibehalten wird. Auch darum wird es am 22. September gehen. Diejenigen, die angekündigt haben, mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf Teilzeitarbeit würde die Teilzeitbeschäftigung zurückgehen, haben sich übrigens geirrt, und sie sollten es zugeben. Die neueste Statistik, die wir heute Morgen im Kabinett behandelt haben, weist aus, dass wir vielmehr 350.000 zusätzliche Teilzeitarbeitsstellen haben, und keineswegs weniger - ein Erfolg unserer gemeinsamen Politik, denke ich. Wir haben dieses Recht also eingeführt, und wir stehen dafür, dass es bestehen bleibt.

Wir wissen im Übrigen, dass eine Einschränkung des Kündigungsschutzes niemandem etwas bringt, und schon gar nicht neue Arbeitsplätze. Die Logik hat man mir vergebens zu erklären versucht, die darin besteht, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Einführung des Prinzips "hire and fire" zu verunsichern und sie dadurch zu bewegen, mehr zu konsumieren. Wie diese Logik funktionieren soll, ist mir jedenfalls unerfindlich. Deshalb haben wir seinerzeit den Kündigungsschutz, den die alte Regierung mit dem Personal, das heute wieder zur Wahl steht, abgeschafft hatte, wieder eingeführt, und wir wollen, dass das so bleibt; denn wir wollen eine vernünftige Beziehung zwischen den Erfordernissen der Flexibilität und der Sicherheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die ihre Sicherheit brauchen, um ihr eigenes Leben und das ihrer Familien sinnvoll planen zu können. Ich denke, auch darum geht es.

Die anderen wollen zurück in die Vergangenheit. Diesmal geht es gegen die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Natürlich sagen sie "das ist alles freiwillig", aber schaut genau hin. Das stimmt nicht. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab einem gewissen Alter sollen erpressbar gemacht werden. Das ist unsozial und zynisch. Eine solche Aushöhlung der Schutzrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird es - jedenfalls mit uns - nicht geben.

An der Frage des Kündigungsschutzes und der sozialen Gerechtigkeit ist 1996 das alte Bündnis für Arbeit gescheitert. Dieter weiß es sehr genau: Ihr habt diese Runde damals mit Recht dieser Frage wegen verlassen. Deshalb sage ich: Nicht zuletzt auf einer solchen Basis hat unser Bündnis Bestand, und das liegt daran, dass die Belange der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei uns gemeinsam in guten Händen sind.

Übrigens wird übermorgen im Bundesrat über unser Tariftreuegesetz entschieden werden. CDU und CSU haben bisher erklärt, sie lehnten das ab. Ich fordere den bayerischen Ministerpräsidenten auf, hier morgen ganz klar zu erklären, dass die CDU / CSU-geführten Länder diesem arbeitnehmerfreundlichen Gesetz zustimmen werden. Damit ich klar verstanden werde: Die Anrufung des Vermittlungsausschusses reicht nicht; denn vermittelt worden ist genug. Was jetzt notwendig ist, ist die Zustimmung zu einem Gesetz, das Sozialdumping in Deutschland verhindern soll. Das ist dringend notwendig.

Bei den Schutzrechten für abhängig Beschäftigte habt ihr euch auf uns verlassen können, und ihr habt mein Wort darauf, dass wir - nicht zuletzt aus den gleichen Gründen - an einem solidarischen Gesundheitssystem festhalten werden. Bei unserer Gesundheitsreform wird die weitere Stärkung der Prävention ein zentrales Element sein. Darüber hinaus brauchen wir Qualitätsverbesserungen im Gesundheitssystem, insbesondere für chronisch kranke Menschen. Wir brauchen Effektivitätsgewinne - keine Frage - , und wir können uns dabei auf wichtige Vorarbeiten in dieser Legislaturperiode stützen. Wir setzen auf Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Jung und Alt, zwischen denen, die weniger, und denen, die mehr verdienen.

Solidarität in diesem Bereich heißt für mich vor allen Dingen: Wir werden sicherstellen, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Einkommen die notwendige medizinische Versorgung bekommen. Um das zu gewährleisten, muss es bei der paritätischen Finanzierung des Gesundheitssystems bleiben. Die anderen wollen eine Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen. Das ist mit uns nicht zu machen. Wir wollen einen einheitlichen Leistungskatalog beibehalten, der das medizinisch Notwendige auch denen gibt, die geringere Einkommen haben. In diesem Land darf es nicht so sein, dass der, der arm ist, früher sterben muss. Es wird mit uns also keine Zwei-Klassen-Medizin geben.

Wir wollen mehr Wettbewerb im Interesse des Patienten. Wir wollen bessere Vorsorge und eine Konzentration auf erwiesenermaßen erfolgreiche Behandlungsmethoden und Therapien, aber wir wollen keine Aushöhlung des Solidarprinzips. Im Übrigen: Wer läuft denn, im Interesse einzelner Interessengruppen, Sturm gegen mehr Wettbewerb zum Beispiel im Apotheken-Sektor? Das sind doch nicht wir; das sind diejenigen, die sonst immer sehr, sehr laut nach mehr Wettbewerb rufen, aber eben nur, solange es ihrer eigenen Klientel nicht an die Profite geht.

Die Zeichen sind deutlich: Ungeachtet all dessen, was verbreitet wird, gibt es einen wirtschaftlichen Aufschwung, und der wird sich auch auf den Arbeitsmarkt auswirken. Aber wir setzen am Arbeitsmarkt eben nicht allein auf wirtschaftliches Wachstum, das wir brauchen und fördern. Es reicht nicht aus. Wir setzen auf aktive und aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Wir müssen und wir werden weiterhin alle Anstrengungen unternehmen, damit wir hierbei vorankommen. Genau dafür haben wir mit unserem Job-AQTIV-Gesetz die Voraussetzungen geschaffen, und darauf bauen wir auf. Wir werden die begonnene Reform der Bundesanstalt für Arbeit und der Arbeitsvermittlung fortsetzen, und ich begrüße sehr, dass der DGB diesen Prozess aktiv mitträgt.

Am 16. August wird die Hartz-Kommission ihren Bericht vorlegen. Ich erwarte von der Kommission machbare Vorschläge: Wie muss die Bundesanstalt für Arbeit strukturiert sein, um das zu leisten, was in unser aller Interesse ist, nämlich eine schnellere und präzisere Vermittlung von Arbeitslosen in die freien Stellen? Wir brauchen Vorschläge, wie aktivierende Arbeitsmarktpolitik unter den völlig veränderten Anforderungen der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft umgesetzt werden kann, Vorschläge, wie Arbeitsmarktpolitik mit den unterschiedlichsten Erwerbsbiographien umgehen soll, und vor allen Dingen Vorschläge, wie wir Angebot und Nachfrage zusammenbringen. Dabei wird es auch darum gehen, die Unternehmen zu fordern, die behaupten, es gebe mehr als eine Million freie Stellen. Dann sollen sie sie auch melden, damit wir die Arbeitslosen in diese Stellen bringen können.

Wir setzen alles daran, die Nachfrage nach Arbeit und die Nachfrage nach Arbeitskräften zusammenzubringen. Das ist eine gemeinsame Aufgabe von Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften. Wenn das alle mit dem notwendigen Nachdruck tun werden, dann werden wir auch große Fortschritte erzielen.

Um die Verbesserung der Arbeitsmarktintegration geht es auch bei der Verzahnung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Die Hilfe muss aus einer Hand, von einer Stelle erfolgen. Damit wollen wir nicht Geld, sondern Bürokratie sparen. Uns geht es gerade nicht darum, Leistungen für Arbeitslose in diesem Bereich auf Sozialhilfeniveau abzusenken, sondern es geht uns darum, die Zersplitterung, in Bezug auf die Leistungen, aufzuheben. Wir setzen auf eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, auf Vermittlung und Eigeninitiative, auf Fördern gewiss, aber auf Fordern auch, auf Qualifizierung, für die wir - erfolgreich - eine Menge im Bündnis für Arbeit getan haben - ein Thema, das nicht zuletzt immer das Thema von Dieter Schulte gewesen ist.

Die Ausgangssituation ist heute besser als vor vier Jahren. Wir haben - das sind die Zahlen aus dem April - 500.000 Arbeitslose weniger als im April 1998, und wir haben seitdem 1,2 Millionen Erwerbstätige mehr. Ich möchte richtig verstanden werden: Das reicht mir bei weitem nicht. Aber lassen wir es nicht zu, dass diejenigen, die uns seinerzeit fast fünf Millionen Arbeitslose hinterlassen haben, jetzt daherkommen und sagen, es habe keinen Fortschritt gegeben und sie müssten nun wieder ran. Das dürfen wir nicht zulassen.

In den Jahren ihrer politischen Arbeit ist die Sockelarbeitslosigkeit ständig gestiegen. Nach jeder Krise in der Weltwirtschaft hatten wir nicht weniger, sondern mehr Sockelarbeitslose. Wir haben diesen Trend zum ersten Mal gebrochen. Zum ersten Mal ist die Sockelarbeitslosigkeit am Ende einer Wirtschaftskrise und am Beginn eines neuen Aufschwungs nicht gestiegen, sondern um jene 500.000 zurückgegangen. Dies ist ein Erfolg, auch wenn er uns gemeinsam nicht reicht. Mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit können wir nicht zufrieden sein - und ich bin der Letzte, der das wäre - , aber wir haben Erfolge vorzuweisen, auf die wir aufbauen können und müssen.

Eine Konsequenz der Kohl-Jahre waren übrigens auch Hunderttausende Jugendliche ohne eine berufliche Perspektive. Nicht zuletzt das zeigt deutlich, in welchen Zustand jene Regierung unser Land hat kommen lassen. Bei CDU / CSU und FDP waren diese jungen Leute abgeschrieben. Wir haben mit dem Ausbildungskonsens, den wir im Bündnis für Arbeit verabredet haben - nicht zuletzt mit unserem JUMP-Programm - , mehr als 400.000 Jugendlichen eine neue Perspektive auf Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit gegeben. Viele von denen hatten ihre Hoffnung darauf, im Arbeitsmarkt jemals Fuß fassen zu können, schon längst aufgegeben.

Darunter sind zum Beispiel 70.000 Jugendliche, die durch soziale Betreuung und durch Hinführung an Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen überhaupt erst wieder Kontakt mit dem Erwerbsleben bekommen haben. Das zeigt, dass wir die jungen Menschen eben nicht - wie andere - hängen lassen, sondern die für uns verfügbaren Instrumente nutzen, um sie in den ersten Arbeitsmarkt einzugliedern. Darunter sind - ich weiß, dass das keine gewaltigen Zahlen sind, aber es sind ja Schicksale, die hinter den Zahlen stehen - 7.000 Jugendliche, die nicht einmal einen Hauptschulabschluss hatten und den sie haben nachholen müssen. Damit erhalten sie erst die Voraussetzung, auf dem Ausbildungsmarkt Fuß fassen zu können. Darunter sind 30.000 Jugendliche, die durch Arbeit und Qualifizierung erst für eine Ausbildung fit gemacht wurden, und 40.000 Jugendliche - übrigens der Großteil von ihnen in Ostdeutschland - haben über diese Programme eine außerbetriebliche Ausbildung beginnen können. Hier gleichen wir mit JUMP fehlende betriebliche Angebote aus, und ich sage: Das wird auch noch eine ganze Weile so bleiben müssen, nicht, weil wir das miteinander so wünschen, sondern, weil wir die jungen Leute nicht auf der Straße sitzen lassen können. Das ist unsere Aufgabe. Das ist eine Politik, wie ich sie für richtig halte, das ist sozialdemokratische Politik. Wir geben eben niemanden auf, wir nehmen jeden mit, und darauf bin ich stolz.

Ich weiß, dass die Situation für junge Menschen im Osten immer noch schwierig ist. Wir sind vorangekommen, aber auch hier reicht es noch nicht. Insbesondere beim Einstieg in den Beruf hakt es. Deshalb werden wir mit einem JUMP-Plus-Programm gerade an dieser so genannten "zweiten Schwelle" ansetzen. Das wird eine der wichtigen Aufgaben in der kommenden Legislaturperiode sein. Eine gute Ausbildung zu haben, ist für mich - ich denke, auch für euch - nicht zuletzt eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.

Das Gleiche gilt übrigens für den Zugang zur Bildung schlechthin. Wir wollen jedenfalls, dass jeder junge Mensch eine gerechte Chance hat, Deutschlands höhere und höchste Schulen zu besuchen. Ich will nicht, dass die Frage des Zugangs zu den Bildungsinstitutionen vom Geldbeutel von Mama oder Papa oder den eigenen Verdienstmöglichkeiten abhängig ist. Ich sage das vor dem Hintergrund sehr eigener Erfahrungen, gerade, was den Zugang zur Bildung angeht. Ich habe jedenfalls nicht vergessen, was meine Mutter an Arbeit leisten musste, um die Chance auf vernünftige Bildungsabschlüsse aufrecht zu erhalten. Ich habe nicht vergessen, wo ich herkomme, und deswegen weiß ich auch ganz genau, wo ich hingehöre.

Gleiche Chancen in der Bildung sind mir wirklich ein Herzensanliegen. Deshalb haben wir seit 1998 zum Beispiel die Ausgaben für das BAföG, auf das viele Kinder - gerade aus Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerfamilien - angewiesen sind, um die Hälfte erhöht.

Ich höre, das reicht nicht. Alles reicht nicht, mein Lieber, aber ich zähle jetzt einmal auf, was wir trotzdem gemacht haben, nachdem die anderen dabei wirklich einen Kahlschlag veranstaltet haben.

Ich möchte das erklären. Mit dem, was wir auf diesem Sektor gemacht haben und was sicherlich noch verbesserungswürdig ist - darum wollen wir ja auch eine zweite Legislaturperiode mit eurer Unterstützung; sonst müsste ich hier ja nicht stehen - , können 80.000 junge Menschen zusätzlich - und zwar ohne große finanzielle Sorgen - studieren. Die anderen hatten das BAföG immer weiter reduziert. Sie wollen eben nicht alle Talente und Begabungen in unserem Land fördern, sondern ihre Politik hätte das Studium wieder zu einem Privileg der Gutbetuchten gemacht.

Aber es gibt bei der Bildung Defizite. Das wissen wir übrigens nicht erst seit der PISA-Studie, aber diese Studie hat uns das noch einmal deutlich gemacht. Besondere Schwierigkeiten haben oft Kinder, die aus Familien von Zuwanderern kommen. Sprachdefizite bei Beginn der Schullaufbahn können nur schwer ausgeglichen werden - mit allen negativen Auswirkungen, die das auf die späteren Berufschancen hat. Deshalb haben wir bei der Steuerung und Gestaltung der Zuwanderung auch so viel Wert auf Integration derer gelegt, die hier bei uns leben; denn hier geht es auch um Bildungs- und Berufschancen für Kinder und Jugendliche. Dass die deutschen Gewerkschaften, die Kirchen, aber auch die Wirtschaft bei der Zuwanderung an unserer Seite stehen, ist wichtig für unser Land, und dafür möchte ich euch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, besonders danken.

Jeder, der die Sorgen der Menschen wirklich kennt, weiß: Wir müssen noch mehr als in der Vergangenheit für die Familien tun. Die materiellen und auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für Familien haben wir seit 1998 entschieden verbessert. Insgesamt haben wir für die Aufwendungen für Familien mehr als 13 Milliarden Euro zusätzlich ausgegeben und diesen Etat auf inzwischen 53 Milliarden Euro erhöht. Aber ich denke, wir sind uns einig darin, dass Familien mehr als materielle Hilfen brauchen. Dringender als vieles andere sind Betreuungsangebote für die Kinder insbesondere aus den Familien der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Angesichts der Realität in unserer Gesellschaft - das mag man beklagen oder auch nicht - eröffnen sich nur durch die massive Verstärkung von Betreuungsangeboten die Voraussetzungen dafür, Familie und Beruf in Einklang zu bringen, eröffnen sich neue Chancen im Beruf für junge Frauen und damit neue Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben, für Kinder aus diesen Familien auf gleiche Startchancen. Das ist nur mit massiven Investitionen in die Betreuung zu machen, und wir wollen und werden das tun.

Auch in der Familienpolitik stehen wir im September übrigens vor der Richtungsentscheidung, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft - auch und nicht zuletzt in dieser Frage - bewegen soll. Wir haben angekündigt - das ist gerechnet, und zwar von Hans Eichel, und der rechnet sehr penibel, wie manch einer hier, ich auch, weiß - : Wir werden in der nächsten Legislaturperiode, obwohl formal nicht zuständig, den Gemeinden und Ländern vier Milliarden Euro für den Ausbau von Betreuungseinrichtungen zur Verfügung stellen. Warum machen wir das? Warum machen wir das so und nicht anders? Wir machen das, weil wir wollen, dass sich wirklich jede Frau - um die geht es doch vor allen Dingen - frei entscheiden kann, ob und wie sie Familie und Beruf miteinander vereinbart.

Die Union verspricht demgegenüber ein Familiengeld in Höhe von monatlich 600 Euro. Das heißt, so richtig wohl ist es denen bei den vielen Versprechungen ja nicht. Das folgt dem Prinzip: "Wir schreiben das einmal in das Wahlprogramm, dann kommt der Lothar und kassiert alles wieder ein." Das ist das Unseriöseste an Versprechungen, was mir bislang begegnet ist. Beschäftigen wir uns aber gar nicht in erster Linie mit der Unfinanzierbarkeit, mit der Unseriosität dieser Förderung, sondern mit dem familienpolitischen Gehalt. Der familienpolitische Gehalt ist ein ganz bestimmter. Hinter ihm steht ein bestimmtes Familienbild: Junge, häufig gut ausgebildete Frauen sollen eine Prämie erhalten, damit sie zu Hause bleiben. Ich denke, das ist ein verstaubtes, antiquiertes und völlig veraltetes Familienbild - eher der Kaiserzeit entlehnt als auf unsere Zeit passend.

Gerade an diesem Punkt wird sich zeigen, was diese Gesellschaft will. Wollen wir mit massiven Anstrengungen bei der Betreuung dafür sorgen, dass insbesondere Frauen in Deutschland so leben, wie sie es wollen, und nicht, wie es die alten Herren von der CDU wollen? Die Menschen - dessen bin ich sicher - sind viel weiter als diese Herren. Die Menschen wollen keine Reise in die Vergangenheit. Sie wollen eine kinder- und familienfreundliche Zukunft durch den Ausbau der Betreuungsangebote, und das ist unser Programm. Das ist nur mit uns zu machen, mit den anderen nicht. Auch darum wird es am 22. September gehen.

Letztlich kann man das, worum es geht, zusammenfassen. Es geht um die Erneuerung unserer Gesellschaft in sozialer Gerechtigkeit. Das sind die wirklichen Alternativen. Dass wir - Gewerkschaften und SPD - uns dabei in den Grundsätzen einig sind, aber in den Details miteinander zu reden haben, ist klar. Aber eines ist jedenfalls genauso klar: Wir setzen auf einen starken und solidarischen Sozialstaat, einen Staat, in dem es gerecht zugeht. Das ist der Grund, warum wir - und nur wir - in der Lage sind, den sozialen Zusammenhalt dieser Gesellschaft politisch zu organisieren. Wir wissen: In einer Zeit des raschen Wandels in Gesellschaft und Arbeitswelt und in einer Zeit, in der es viel Verunsicherung bei den Menschen gibt, ist ein Stück soziale Sicherheit, ist das Wissen um Sicherheit durch den Sozialstaat und um dadurch gewährte neue Chancen wichtiger denn je. Nur der, der eine sinnvolle Balance zwischen den Veränderungsnotwendigkeiten einerseits und den Sicherheitsbedürfnissen der abhängig Beschäftigten andererseits organisiert, wird die Menschen auf den Weg in die notwendigen Veränderungen mitnehmen. Die anderen lassen sie allein in ihrer Verunsicherung.

Deshalb ist es unsere gemeinsame Aufgabe, in diesen Zeiten so rascher Veränderungen den Sozialstaat weiter zu sichern und ihn krisenfest zu machen. Die anderen wollen - das wird deutlich, wenn man ihre Programme liest - zurück in die Politik des Sozialabbaus. Niemand soll hinterher sagen, er hätte das nicht gewusst. Wenn wir jetzt nicht gegen diese rückwärts gerichtete Politik kämpfen, wird es bei dem einen oder anderen ein ziemlich böses Erwachen geben. Allein das Ziel, das ja verkündet worden ist, bei der Staatsquote auf unter 40 Prozent zu kommen, würde Einnahmeausfälle für die öffentlichen Haushalte auf allen Ebenen in einer Größenordnung von 170 Milliarden Euro bedeuten. Was das für Investitionen in Familien, für Investitionen in Bildung und Ausbildung, aber auch für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur bedeutet, muss ich, denke ich, euch nicht ausmalen. Das ist kein Weg in die Zukunft; das ist ein schlechter Weg in die Vergangenheit.

Ein solcher Rückzug des Staates heißt: Es gibt keinen Spielraum für Zukunftsinvestitionen, und es bleibt nichts übrig für den Sozialstaat. Selbst, wenn wir sämtliche Leistungen für Familien und Kinder streichen, Verkehrsinfrastrukturinvestitionen auf Null bringen und den Bildungs- und Forschungsetat einfach abschaffen würden - das zeigt schon den Wahnwitz dieser Forderungen - , hätten wir nicht einmal die Hälfte dessen eingespart, was die Union angeblich einsparen will. CDU und CSU - das muss klar sein - setzen die Abrissbirne an die Grundmauern des Sozialstaates und damit an die Zukunft unseres Landes.

Ich möchte abschließend ein paar Punkte nennen, um die es geht, auch und gerade in der vor uns liegenden Wahlperiode. Wir wollen und wir müssen - wir haben Wege genannt - mehr Menschen in Beschäftigung bringen. Den Weg, den wir begonnen haben, müssen wir fortsetzen. Er ist erfolgreich. Wir wollen eine umfassende Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Wohlstand, und wir stehen dafür, dass in der Gesellschaft auch von uns klar gemacht wird: Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind Teil der Kraft unserer Volkswirtschaft und nicht das Gegenteil dessen.

Wir wollen keine Zwei-Klassen-Medizin. Wir werden das Gesundheitssystem gerecht halten - Effizienzgewinne Ja, Grund- und Wahlleistungen und die Aufgabe des Solidarprinzips Nein. All denjenigen, die anderes vorgaukeln, muss man übrigens doch einmal sagen: Es ist doch nicht so, dass unsere Leute nach England oder Holland gehen, um sich operieren zu lassen, sondern es ist umgekehrt. Da muss doch qualitativ etwas da sein, wenn das so ist, und in der Tat: So ist es auch. Bei allen Effizienznotwendigkeiten: Genau dieses Prinzip wollen und werden wir erhalten.

Wir wollen und werden gerechten Zugang zu den Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten durchsetzen; denn wir wissen, dass die Zukunft unseres Landes - eines Landes, in dem Produkte hergestellt werden müssen, die immer mehr wissensbasiert sind - eben darin liegt, dass wir in die Köpfe - und zwar in die Köpfe aller - investieren.

Wir wollen, dass die Menschen - das heißt, vor allem die Frauen - echte Wahlfreiheit haben und Familie und Beruf vereinbaren können.

Deshalb stehen wir wirklich vor einer Wahl zwischen einer Politik der Freiheit, die sich danach richtet, wie die Menschen selbstbestimmt leben wollen, und einer veralteten Ideologie, die den Menschen vorschreiben will, wie sie leben sollen. Auf der einen Seite einen - gewiss auch nicht immer fehlerfreien - Marsch von einer erfüllten Gegenwart in die Zukunft, und auf der anderen Seite "Zurück mit den Rezepten von vorgestern, dem Personal von gestern in die Vergangenheit" : Das sind die Alternativen, um die es am 22. September geht. Es geht nicht um Lager. Es geht um Richtungen. Es geht um Vergangenheit oder Zukunft.

Das ist der Grund, aus dem ich hier stehe, euch bitte, diese Politik zu unterstützen, und euch bitte, eure Möglichkeiten zu nutzen, darüber in den Familien, in den Betrieben und in den Vereinen zu reden und zu diskutieren. Was ich möchte, ist: Lasst uns den Weg, den wir begonnen haben - der gewiss nicht allen alles gegeben hat, aber für die Beschäftigten in diesem Land Vorteile gebracht hat - , gemeinsam gehen und gemeinsam fortsetzen, über den 22. September hinaus. Das ist meine herzliche Bitte, und dafür werbe ich bei euch um Unterstützung.