Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 30.05.2002

Untertitel: Anläßlich der Eröffnung der Günter Grass-Ausstellung zum fünfjährigen Bestehens der Casa di Goethe in Rom würdigt Kulturstaatsminister Nida-Rümelin die Bedeutung des deutschen Kulturinstitutes und betrachtet die wechselvolle und kulturell befruchtende Geschichte zwischen Italien und Deutschland.
Anrede: Sehr verehrte Frau Bongaerts, Sehr verehrte Frau Dr. Popp, Sehr geehrter Herr Dr. Wißkirchen, Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/05/83005/multi.htm


Betrachtet man die Beziehung zwischen Italien und Deutschland unter kulturellen und kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten kann man - jedenfalls aus einer deutschen Sicht - zu einem paradox anmutenden Befund gelangen. Auf der einen Seite gibt es eine große Anziehung und deutliche Parallelen zwischen den Kulturen beider Länder. Ein Grund dafür liegt zweifellos in der in Teilen gemeinsamen Geschichte. Für die Zeit des Mittelalters ist die Verbindung unübersehbar, Parallelen springen aber auch in der Neuzeit ins Auge: Deutschland und Italien sind verspätete Nationen des 19. Jahrhunderts, was jeweils im Inneren der Gesellschaften divergierende Geschwindigkeiten der Modernisierung bedingte. Die späte Nationenbildung hatte nicht zuletzt den Effekt, dass die kulturellen Landschaften beider Länder bis heute in hohem Maße multipolar verfasst sind. Es gibt nicht nur die Zentren Rom und Berlin, sondern auch Mailand, Venedig, Neapel und Turin; Hamburg, München, Frankfurt und das Ruhrgebiet.

Eine Entsprechung - auch daran ist zu erinnern - finden die Parallelen in den dunklen Abschnitten der Geschichte. Eingegraben in das kulturelle Gedächtnis beider Länder ist das Scheitern von Demokratien in der Zwischenkriegszeit und die folgende Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus bzw. Faschismus. Die politische Kultur beider Staaten wird - bei allen Unterschieden - von der Auseinandersetzung mit diesen Zivilisationsbrüchen bis heute mitgeprägt.

Die kulturelle Nähe zwischen Deutschland und Italien äußert sich in der hohen Wertschätzung, die die Leistungen der jeweils anderen Kultur erfahren. Dies gilt für alle Sparten der so genannten Hochkultur, von der Musik über die Literatur und den Film bis zur darstellenden und zur bildenden Kunst. Als institutionellen Niederschlag der wechselseitigen Wertschätzung kann man das zwischen unseren Staaten bestehende dichte Geflecht kultureller Einrichtungen im jeweils anderen Land begreifen. Bemerkenswert ist dabei, dass eine Reihe dieser Einrichtungen auf das 19. Jahrhundert zurückgeht, eine Zeit also, in der der Begriff der auswärtigen Kulturpolitik - jedenfalls im deutschen Sprachraum - noch nicht existierte.

Nicht aus dem Blick geraten sollten angesichts dieser Tradition die gegenseitigen Beeinflussungen unterhalb der Schwelle der so genannten Hochkultur. Auch in Folge der Mitte der 50er Jahre verstärkt einsetzenden Migration hat sich die Lebenswelt in Deutschland in gewisser Weise italianisiert - ich denke hier z. B. an die Bereiche Esskultur, Mode und Design. Aus meiner Sicht wäre es ein Fehler, wenn die Kulturpolitik diese Entwicklungen ignorieren würde, denn sie beeinflussen Wahrnehmungsweisen und ästhetisches Empfinden - und damit das Selbstverständnis - in erheblichem Maße. Zu konstatieren ist in diesem Zusammenhang auch, dass die lebensweltliche Nähe zwischen den Kulturen Italiens und Deutschlands immer noch von tiefsitzenden Klischees überlagert wird - "der ordentliche, effiziente, aber unnötig starre Deutsche";"der herzliche, sympathische, aber wenig zuverlässige Italiener", um nur die bekanntesten zu nennen. Nun ist die gegenseitige Perzeption von Nationen immer von Stereotypen mitgeprägt. Dennoch, so scheint es jedenfalls, halten sich die deutsch-italienischen Klischees mit besonderer Hartnäckigkeit. Und wenn Klischees für ein nur vermeintliches, nicht genuines Verständnis stehen, dann sind sie Indikatoren kultureller Entfernung.

Damit bin ich im Grunde bei der anderen Seite des paradox anmutenden Befundes: Der skizzierten Nähe deutscher und italienischer Kultur stehen eigentümliche Momente der Distanz gegenüber. Ich denke hier insbesondere an das Thema der deutschen Italiensehnsucht. Der langen Tradition der Italien- , besonders der Rom-Aufenthalte deutscher Künstler ist das Motiv der Sehnsucht eingeschrieben, Sehnsucht nach dem Fremden, dem ganz Anderen. Man kann sicherlich im Einzelfall - etwa am Beispiel der seelensuchenden Malerei der "Deutschrömer" - darüber streiten, ob und inwiefern hinter dieser Sehnsucht nicht die Suche nach der eigenen Identität steht. Dass Italien - mit seinen Kunstschätzen von der Antike bis zur Renaissance, seiner Landschaft, seinen Lebensformen - für das nicht nur geografisch Entfernte, für das schwer Fassbare steht, ist aber kaum bestreitbar.

Sehnsucht lautet auch ein zentrales Motiv von Goethes ( erstem ) Italien-Aufenthalt, der zum Inbegriff der klassischen Bildungsreise geworden ist. Züge einer Flucht - nicht zuletzt vor den Zwängen des politischen Amtes in Weimar - verbinden sich mit einer auf Grundlagen zielenden Suche, einer Suche nach Unabhängigkeit des künstlerischen Schaffens, nach Authentischem, nach Ursprünglichem, nach dem Selbst. Goethes Suche - er unterstreicht es mehrfach - ist eine erfolgreiche, erfolgreich auch in dem Sinne, dass hier die Spannung von Nähe und Distanz aufgehoben scheint.

Die Erfahrung des Glücks, die Goethe in Rom zuteil wird, verdankt sich auch dem Modus des ungezwungenen Lebens in der Künstlerwohngemeinschaft. Goethe findet hier einen Ort des Kontrastes zu den Verhältnissen in Deutschland, einen Ort der Freundschaft und ein Forum des produktiven künstlerischen Austausches.

An diese Ideen knüpft die Casa di Goethe an historischer Stelle an. Trotz ihres - gerade für römische Verhältnisse - zarten Alters von fünf Jahren steht sie also in einer langen und beeindruckenden Tradition. Konzipiert ist sie als Ausstellungs- und Veranstaltungsinstitut, das Goethe in Rom lebendig erhalten und in deutsch-italienischem wie internationalem Dialog sein Leben, Werk und dessen Rezeption vermitteln soll. Ich denke, wir können heute übereinstimmend konstatieren, dass die Casa di Goethe die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllt hat. Sie ist ein Ort des interdisziplinären künstlerischen und wissenschaftlichen Austausches geworden, ein Ort, der von Römern, Italiener und Besuchern Roms angenommen wird. Neben zahlreichen Lesungen, Konzerten, Vorträgen und Symposien ist es ihr immer wieder gelungen, Ausstellungen zu präsentieren, die große Anerkennung gefunden haben, nicht zuletzt, weil in ihnen künstlerische Positionen Aspekten von Goethes Werk spannungsreich gegenübergestellt wurden. Erinnert sei hier an die Ausstellungen zu Alfaro und Goethe, Goethe und Barlach, Goethe und Beethoven, Grcic und Goethes Alltagsobjekten und Katharina Sieverdings Auseinandersetzung mit Goethes naturwissenschaftlichen Objekten.

Neben dem Veranstaltungsprogramm ist das internationale Stipendienprogramm ein zentraler Bestandteil der Arbeit der Casa di Goethe. Die Liste der durch die DaimlerChrysler AG geförderten Stipendiaten spiegelt die Leitidee der Casa di Goethe wieder, Goethes Werk sowohl in seinem historischen Kontext zu präsentieren als auch aus dem Blickwinkel der Gegenwart zu befragen. Zu den Stipendiaten gehörten Konzeptkünstler, Fotografen, bildende Künstler, Buchillustratoren, Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Historiker, Journalisten und Journalistinnen, deren Arbeit in der Casa di Goethe sich dem Kulturaustausch zwischen Italien und Deutschland widmete - innovativ und auf hohem Niveau.

Dass die Casa di Goethe ein vielbeachteter Kristallisationspunkt des kulturellen Austausches geworden ist, ist in erster Linie auf den engagierten Einsatz von Frau Bongaerts und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurückzuführen. Für diese Arbeit gilt Ihnen mein herzlicher Dank.

Dank gebührt auch dem Arbeitskreis selbstständiger Kulturinstitute - AsKI - für seine Bereitschaft, die Trägerschaft über die Casa di Goethe zu übernehmen. Mit dieser Trägerschaft ist sie eingebunden in ein Netzwerk, das die kulturellen Kompetenzen seiner 31 Mitgliedsinstitute für interdisziplinäre Aufgaben zu bündeln weiß. Diese nichtstaatlichen Museen, Archive, Akademien, Gesellschaften und Stiftungen spiegeln zugleich bürgerschaftliches Engagement für die Kultur und die kulturelle Multipolarität Deutschlands. Die Casa di Goethe - übrigens das einzige deutsche Museum im Ausland - ist über den AsKI mit den drei deutschen Goethe-Museen in Weimar, Frankfurt am Main und Düsseldorf verbunden. Über dieses unmittelbare inhaltliche Band hinaus bietet der interdisziplinäre Ansatz des AsKI weitere Möglichkeiten der Kooperation, die sich nicht zuletzt bei der heute zu eröffnenden Ausstellung als fruchtbar erwiesen haben.

Person und Werk Goethes repräsentieren in besonderer Weise die enge Verbundenheit zwischen Deutschland und Italien. Ein Goethe-Museum in Rom, das an die Tradition des regen Gedankenaustausches von Intellektuellen aus allen europäischen Ländern anknüpft, entspricht einem zeitgemäßen Verständnis von auswärtiger Kulturpolitik: Es steht für den engen Zusammenhang von nationalen und internationalen kulturellen Kontexten und für den Dialog der Kulturen.

Italien und Deutschland gehören - man kann dies sagen, ohne andere Nationen abzuwerten - zu Kerneuropa. Ich denke hier nicht nur an ihren Status als Gründungsmitglieder der heutigen Europäischen Union, sondern in erster Linie an die Tradition des Humanismus, die im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit vor allem in Italien, später mit dem Neuhumanismus auch in Deutschland ihre Wurzeln hat. Aus dieser Tradition erwächst in meinen Augen eine besondere Verpflichtung - auch mit Blick auf die Erweiterung der Europäischen Union. Das neue Europa - das sich zunehmen den Konturen des alten annähert - darf nicht allein an ökonomischen und administrativen Zielsetzungen orientiert sein, es bedarf vor allem eines kulturellen Fundaments.

Die bereits bestehenden kulturellen Kooperationen zwischen Italien und Deutschland bilden auch unter diesen europäischen Vorzeichen eine ausgezeichnete Basis. Bandbreite und Gewicht der Beziehungen werden im 16. Protokoll über die kulturelle Zusammenarbeit zwischen Italien und Deutschland deutlich, das am 24. April dieses Jahres in der Villa Vigoni unterzeichnet wurde. Sein Umfang spiegelt die Vielfalt, die Dauer und die Intensität der Beziehungen, die zwischen Deutschland und Italien auf allen Gebieten der Kultur und Bildung bestehen. Diese Intensität zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sowohl Deutschland wie Italien im jeweils anderen Land die relativ größte Zahl kultureller Einrichtungen unterhalten. Beide Seiten haben mit diesem Protokoll ein Programm beschlossen, das auf der Basis eines engen Netzwerks auch neue Räume der Verständigung und der Kooperation innerhalb des zusammenwachsenden Europas eröffnet.

Die deutschen Kultur- und Forschungseinrichtungen in Italien - die Goethe- Institute, die archäologischen, historischen und kunsthistorischen Institute, die Villa Romana, die Villa Vigoni und das Deutsche Studienzentrum in Venedig - werden, dessen bin ich sicher, zusammen mit Schulen und Hochschulen auch künftig innerhalb dieses Rahmens gewichtige und wegweisende Beiträge zur Weiterentwicklung der deutsch-italienischen und innereuropäischen Beziehungen leisten. Für die Villa Massimo - um eine römische Einrichtung aus dem Zuständigkeitsbereich meiner Behörde herauszugreifen - wurde eine Neukonzeption erarbeitet, die unter der zukünftigen Leitung von Herrn Dr. Blüher nach dem Abschluss der Sanierungsarbeiten und der Wiedereröffnung im Februar 2003 zum Tragen kommen wird. Diese Neukonzeption zielt nicht zuletzt auf eine engere Vernetzung der Arbeit der Villa Massimo mit der römischen Kulturszene und auf eine Intensivierung der Kooperation mit deutschen und ausländischen Kultureinrichtungen.

Goethe war ein Grenzgänger zwischen den Sparten. Vor allem die Literatur und die bildende Kunst spielen in seinem Werk eine zentrale Rolle - nicht zuletzt sein Rom-Aufenthalt macht dies besonders deutlich. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass die Casa di Goethe ihre Jubiläumsausstellung mit Günter Grass einem Künstler widmet, der ebenfalls die Grenzen zwischen den Kunstformen überschreitet. Grass ist nie nur Schriftsteller gewesen, sondern immer auch bildender Künstler geblieben. Und wie Goethe ist er auch in einem räumlichen Sinne ein Überschreiter von Grenzen: Horizont und Bedeutung beider Oeuvres lässt sich nicht national eingrenzen, sie sind deutsche Literatur und Weltliteratur zugleich.

In Fortführung der Linie, Neues und Unbekanntes zu präsentieren, wird hier in der Casa di Goethe das weniger bekannte bildkünstlerische Werk von Günter Grass im Mittelpunkt stehen, insbesondere seine Illustrationen, die den Zusammenhang zwischen bildender Kunst und literarischem Werk verdeutlichen. Ich wünsche der Ausstellung genaue Blicke, ein breites Publikum und die verdiente Resonanz.

Der Casa di Goethe wie den anderen deutschen Kulturinstituten in Italien und Rom wünsche ich, dass sie den eingeschlagenen Weg auch in Zukunft mit Erfolg beschreiten werden und sage zu, meinen Beitrag dazu zu leisten.