Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 31.05.2002
Untertitel: Schröder: "Kein Staat kann für sich allein Sicherheit garantieren, sondern wir brauchen ein großes Maß an internationaler Zusammenarbeit."
Anrede: Herr Ostermann, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/71/82771/multi.htm
Herr Ostermann, ich bin sehr gerne gekommen, um mit Ihnen darüber zu reden, welches die Rolle Deutschlands in der internationalen Politik, aber natürlich auch in der internationalen Wirtschaftspolitik ist.. Herr Ostermann hat mir eben gesagt, dass Sie heute alle Probleme der Weltwirtschaft besprochen haben. Deswegen gehe ich auch davon aus, dass Sie sie gelöst haben und deswegen meinen Rat und meine Bemerkungen lediglich als einen amüsanten Teil des heutigen Abends verstehen. Ich denke also, dass wir eine intensive Diskussion führen sollten. Ich habe gehört, es seien nur drei Fragen erlaubt. Meinetwegen können es auch 30 sein. Ich habe keine so schrecklichen Zeitprobleme heute Abend.
Ich denke, nicht erst seit dem 11. September - nach den fürchterlichen Anschlägen auf New York und Washington - hat sich die Welt politisch und - als Folge dessen oder auch parallel dazu - auch ökonomisch verändert. Klar geworden ist: Kein Staat kann für sich allein Sicherheit garantieren, sondern wir brauchen ein großes Maß an internationaler Zusammenarbeit. Wir brauchen ein großes Maß an internationaler Kooperation. Hinzu kommt: Innere und äußere Sicherheit kann man nicht mehr voneinander trennen. Wir hatten uns ja angewöhnt, politisch zu formulieren: Die Nationalstaaten sind für die innere Sicherheit - also für die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger, für die Aufrechterhaltung auch ökonomisch verlässlicher Strukturen - verantwortlich, und der Rest ist Sache internationaler Politik. Ich glaube, der 11. September hat deutlich gemacht, dass man beides nicht mehr voneinander trennen kann. Übrigens: Das Gleiche gilt auch für andere politische Vorstellungen. Ohne Sicherheit gibt es keine Gerechtigkeit, keine Teilhabe an einer vernünftigen gesellschaftlichen Entwicklung, und letztlich keine Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung in der Welt. Allerdings heißt das auch, dass es ohne eine hinreichende Sicherheit - und zwar global - auch keine dauerhafte ökonomische Perspektive gibt. Wir müssen also im nationalen Maßstab, aber auch in der internationalen Zusammenarbeit, neue Antworten auf die Bedrohung von Stabilität und Sicherheit entwickeln.
Dabei hat sich, denke ich, etwas Entscheidendes verändert. Wir waren es gewöhnt, in bestimmten Bedrohungsszenarien zu denken: Bedrohung ging von bestimmten Staaten aus, die die Wertvorstellungen, nach denen wir unsere Gesellschaften organisieren, bedroht haben. Zentral ging die Bedrohung von mehr oder minder hoch gerüsteten Staaten aus. Ich denke, in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass diese Bedrohungsanalyse so nicht mehr stimmt. Wenn es eines Beweises dafür bedurft hätte, dann ist er am letzten Dienstag in Rom erbracht worden.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn mir einer vor 15 Jahren gesagt hätte, dass Russland im Grunde gleichberechtigter Partner der NATO sein würde, dann hätte ich den glatt für verrückt erklärt. Ich denke, es gibt viele hier, die mir dabei zustimmen. Inzwischen ist das - als Folge von Rom - Wirklichkeit. Russland steht im Grunde in einer Beziehung zur NATO und damit zur westlichen Welt, die ich jedenfalls für kaum mehr auflösbar halte: im Grunde gleichberechtigter Partner der NATO - natürlich nicht involviert in die Feststellung des Bündnisfalles, nicht involviert in die Frage, wie viele Mitglieder die NATO haben soll, aber über alle wesentlichen, operativen Fragen wird Russland im NATO-Russland-Rat mit entscheiden und nicht nur konsultiert werden, wie es vorher war.
Übrigens heißt das nach meiner Auffassung, dass damit eine ganz wesentliche Voraussetzung geschaffen worden ist, dass Präsident Putin die Erweiterung der NATO, ohne Legitimationsschwierigkeiten großen Ausmaßes zu bekommen, wenn nicht mit vorantreiben kann - das wäre wohl eine zu große Erwartung - , so doch jedenfalls akzeptieren kann. Auch das ist etwas, denke ich, das wir alle zusammen vor einem Dutzend Jahren noch für völlig unmöglich gehalten hätten.
Wenn das nicht die Bedrohung unserer Art zu leben und unserer Art zu wirtschaften ist, dann fragt sich: Was ist denn heute die Bedrohung? Ist sie dadurch geringer geworden, oder ist sie nur anders geworden? Die Antwort lautet, dass sie nicht geringer geworden ist, aber entscheidend anders. Die Bedrohung von Sicherheit weltweit geht heute nicht mehr in erster Linie von staatlich organisierter Gewalt aus, sondern von privatisierter Gewalt. Die größte Herausforderung - darin stimme ich übrigens mit dem amerikanischen Präsidenten überein - , die uns lange beschäftigen wird, geht von privatisierter Gewalt aus, insbesondere in der Form des internationalen Terrorismus.
Dabei ist es mir wichtig, dass nicht nur in einem solchen Kreis, wo das selbstverständlich ist, sondern auch in der Zivilbevölkerung insgesamt erkannt wird: Der Terrorismus ist nicht die Folge von Globalisierung. Anders ausgedrückt: Die Globalisierung ist nicht die Ursache für politischen Terrorismus. Im Gegenteil: Wenn man genau hinschaut, kann man feststellen, dass die Verunsicherung über eigene Identitäten und Perspektiven, die den Boden für Terrorismus bildet, insbesondere in Regionen der Welt entstanden ist und entsteht, die weniger an globalisierter Wirtschaft teilhaben als zum Beispiel die entwickelten Länder des Westens.
Aber eines muss auch klar sein: Bestehende materielle Unterschiede zwischen amen und reichen Ländern, zwischen der entwickelten Welt und der unterentwickelten Welt sind nicht die Ursache für den Terrorismus, gestatten es aber Terroristen, sich durch diese Ungerechtigkeiten eine Legitimation zu verschaffen, die man für ungerechtfertigt halten kann, die aber gleichwohl Teil der Wirklichkeit ist. Deswegen darf sich der Kampf gegen den Terrorismus nach meiner festen Überzeugung nicht im Gebrauch militärischer Möglichkeiten erschöpfen. Die sind - wir haben das erlebt - in bestimmten Situationen notwendig. Aber wegen dieses Legitimationsproblems dürfen sie nicht die alleinige Antwort auf den internationalen Terrorismus sein, sondern es muss die Sorge für eine gerechtere und auch ökologisch intakte Welt hinzukommen, und das ist nicht nur Aufgabe der Politik, sondern allemal auch Aufgabe global tätiger Unternehmen. Übrigens heißt das zugleich: Sicherheit in einem sehr umfassenden Sinne werden wir nach meiner Auffassung nur erreichen in einem Zusammenspiel von materieller, sozialer, ökologischer und rechtlicher Sicherheit und - das muss ich hinzufügen - in einer Behauptung unterschiedlicher kultureller Identitäten.
Wir haben feststellen können: Wenn es in dieser Weise an Sicherheit fehlt, dann trifft das zuerst die weltwirtschaftlichen Prozesse. Ich will damit nicht darüber hinwegreden, dass Erschütterungen in der Weltwirtschaft - in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa - schon vor dem 11. September erkennbar waren; keine Frage, dass das so ist. Wer wüsste das besser als Sie? Aber ich glaube, der 11. September und die Sicherheitsverluste, die damit einhergegangen sind, haben den negativen Prozess in der Weltwirtschaft verstärkt. Wir hatten vor den Anschlägen gesagt: "Wirtschaftliche Entwicklung braucht Frieden, und Frieden braucht wirtschaftliche Entwicklung", und das war gewiss richtig. Ergänzend würden wir heute wohl sagen und sagen müssen: "Sicherheit fördert Entwicklung, aber Entwicklung fördert auch Sicherheit." Auch das ist, denke ich, eine Aufgabe, die nicht nur auf die Politik zukommen wird.
Was versuchen wir, in Europa und in Deutschland politisch zu machen, um in diesem Sinne zu mehr Stabilität zu kommen? Zunächst will ich mich damit beschäftigen, was ich zur europäischen Entwicklung zu sagen habe: Europa war nach dem Zweiten Weltkrieg die Antwort unserer Völker auf Krieg und Vernichtung auf unserem Kontinent. Europa ist heute nicht zuletzt die Antwort auf die Globalisierung. Die europäische Einigung hat diesem Kontinent ein Maß an Frieden, Sicherheit und Wohlstand gebracht, das in der Geschichte Europas, die Sie so gut wie ich kennen, einmalig ist.
Mit der bevorstehenden Osterweiterung - es ist eines der wichtigsten Ziele, jedenfalls meiner Regierung, das zu realisieren - bietet sich unserer Generation die historisch wirklich einmalige Chance, dieses Europa zu einen - wir hatten uns ja angewöhnt, von Europa zu sprechen, als ginge es nur um Westeuropa, was historisch natürlich ziemlich unsinnig ist - und es damit zu einem Ort dauerhaften Friedens einerseits und dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen andererseits zu machen. Das ist eine riesige Chance, die sich den Eliten der heutigen Generation stellt. Ich meine damit nicht nur die politischen Eliten, sondern allemal auch die kulturellen, die wissenschaftlichen und die wirtschaftlichen Eliten. Ich denke, wir würden wirklich vor der Geschichte versagen, wenn wir diese einmalige Chance nicht realisierten.
Durch die Osterweiterung - deswegen legen wir Wert darauf - entsteht nicht nur ein riesengroßer Markt - das interessiert Sie allemal auch - , sondern mehr als das: Es entsteht eine Möglichkeit, Entwicklungsperspektiven dauerhaft zu verankern, wie es sie nie zuvor gegeben hat. Aber den Markt - das ist für Leute, die in der Wirtschaft tätig werden, nicht unwichtig - gibt es auch. Von der Ostererweiterung - ich bin fest davon überzeugt - werden die Beitrittsländer, die sich entwickelnden Demokratien Mittel- und Osteuropas, ebenso profitieren wie wir.
Ich füge hinzu - Sie können davon ausgehen, dass ich mich darüber freue: Deutschland wird aufgrund seiner geografischen Lage, aufgrund der bereits jetzt vorhandenen wirtschaftlichen Verflechtungen, aufgrund der historischen Beziehungen, auch aufgrund der Sprachkenntnisse, die es im Osten Deutschlands gibt, und der grenzübergreifenden regionalen Kulturen einen ganz besonderen Nutzen von der Osterweiterung haben - mehr als andere. Es wäre nicht richtig, wenn ich Ihnen verschweigen würde, dass ich nicht unfroh darüber bin, um es diplomatisch auszudrücken. Das heißt übrigens auch, dass Deutschland der Ort ist, von dem aus Sie wirtschaftliche Aktivitäten, die sich auf die Märkte Mittel- und Osteuropas beziehen - lassen Sie es mich in der mir eigenen Bescheidenheit sagen - am besten organisieren können. Also kommen Sie ruhig; das lohnt sich. Aber - das ist mir wichtig zu betonen, und ich hoffe, das ist auch deutlich geworden - es geht auch um die eben genannte politische Dimension, keineswegs nur um die wirtschaftliche.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen Hinweis machen: Ebenso wie wir die Erweiterung der Europäischen Union voranbringen müssen, werden wir uns um eine wirklich strategische Beziehung zu Russland kümmern. Das hat enorme politische, aber auch wirtschaftliche Folgen. Ich glaube, dass es wirklich historisch genannt werden kann, was am letzten Dienstag in Rom geschehen ist, nämlich nicht nur eine Beziehung zur NATO, sondern eine Hinwendung Russlands mit all seinen enormen Möglichkeiten zum Westen, insbesondere zu Europa. Wenn man in Russland über Europa redet, spricht man natürlich auch - ich würde sogar sagen: nicht zuletzt - über Deutschland. Es gibt also enorme Möglichkeiten, die sich da auftun. Aber das Angenehme, das Gute und Wichtige ist, dass sich Russland mit dieser Entscheidung, sich selbst und seine Entwicklung auf den Westen auszurichten, nicht auf Europa beschränkt, so dass Ängste kleinerer Partner oder historisch begründete, wiewohl nicht länger berechtigte Ängste in den Vereinigten Staaten gegenstandslos geworden sind; denn parallel zu der Entwicklung einer strategischen Beziehung Russlands zu Europa gibt es, Gott sei Dank - das ist der wirklich große, historische Schritt, den der amerikanische Präsident George W. Bush getan hat - , eine ebenso entwickelte oder entwicklungsfähige Partnerschaft zwischen Amerika und Russland. Es gibt also auf der politischen Ebene nicht die Konkurrenz zwischen Europa einerseits und Amerika andererseits um diese strategische Beziehung zu Russland, sondern es gibt einen Gleichklang, der mit dem Treffen zwischen Putin und Bush in Slowenien begonnen hat und in Texas fortgeführt worden ist. Ich glaube, für die Entwicklung des Friedens und damit auch für die wirtschaftliche Entwicklung in der Welt waren das Entscheidungen von epochaler Bedeutung, die - ich will das auch noch einmal in diesem Zusammenhang erwähnen - wir alle zusammen vor zwölf Jahren so niemals für möglich gehalten hätten.
Ich denke, dass diese Beziehungen Europas und Amerikas zu Russland sowohl wirtschaftlich enorme Auswirkungen haben als auch natürlich politisch die Gefahren von Auseinandersetzungen zwischen hoch gerüsteten Staaten entscheidend reduzieren werden und als Folge dessen wir uns gemeinsam auf den Kampf gegen Formen privatisierter Gewalt beschränken können - eine Gemeinsamkeit, die man übrigens sehr nachdrücklich bei der Bekämpfung der Taliban und des von ihnen ausgehenden Terrorismus in Afghanistan schon hat sehen können.
Ich hoffe, verdeutlicht zu haben, dass aus deutscher Sicht aus diesem Grunde alles dafür spricht, Deutschland - das heißt immer auch Europa, weil das nicht mehr voneinander getrennt werden kann und darf - mit den Partnern in Amerika zusammen in eine solche Beziehung zu Russland zu bringen.
Was bedeutet dies dafür, was wir im Inneren Europas zu tun haben? Ich glaube, mit der Einführung der gemeinsamen Währung ist ein Schritt getan worden, der nicht mehr zurückgenommen werden kann. Aber nicht nur das ist getan worden, sondern es ist zugleich ein Schritt gemacht worden, der notwendigerweise und ohne, dass es einer politischen Erklärung bedürfte, weitere Schritte nach sich ziehen muss. Der Erfolg der Währung wird auf Dauer davon abhängen, ob es uns gelingt, Europa nicht nur zu erweitern, sondern auch zu vertiefen. Das ist die zweite große Aufgabe, die wir neben der Erweiterung haben und die wir als Deutsche durchaus so sehen. Das heißt, wir müssen parallel zur Erweiterung ein Mehr an Integration schaffen, weil ein gemeinsamer Währungsraum auch viel mehr koordinierte Politik bei den Finanzen und der Wirtschaft erfordert.
Wir haben den Schritt getan, die Geldpolitik von einer unabhängigen Europäischen Zentralbank vereinheitlichen zu lassen, und dies in Unabhängigkeit; das ist auch richtig so. Aber natürlich kann das auf Dauer nur funktionieren, wenn wir es schaffen, der Geldpolitik mehr Koordination in den auch wirtschaftlich wirklich relevanten Fragen der Finanzpolitik und der Steuerpolitik hinzuzufügen. Das wird die große Aufgabe in der kommenden Zeit sein.
Darüber hinaus werden wir die europäischen Institutionen in ihrer Arbeit effizienter gestalten müssen. Das heißt, wir brauchen eine neue Zuordnung der Institutionen zueinander. Wir brauchen eine starke Exekutive - wie man die nennt, ist dabei völlig gleichgültig, ob Kommission, Regierung oder wie auch immer - , aber diese starke Exekutive muss auch von einem starken Parlament demokratisch kontrolliert werden, sonst kann das nicht funktionieren. Wenn ich sage "starkes Parlament", dann meine ich vor allen Dingen auch ein den Bürgern gegenüber verantwortliches Parlament. Eines der großen Probleme in der europäischen Politik ist zur Zeit, dass es ein Auseinanderfallen gibt zwischen "Entscheiden können" auf der einen Seite und "Verantworten müssen" auf der anderen Seite. Das heißt, es gibt Vorstellungen in der europäischen Exekutive, wo nach Lehrbuch entschieden wird, ohne dass einer, der entschieden hat, dem Volk gegenüber verantwortlich wäre. Das müssen dann wir sein. Es ist immer misslich, etwas verantworten zu müssen, das man selber gar nicht entschieden hat.
Also werden wir nicht nur die Arbeitsweise der Institutionen untereinander neu klären, sondern auch festlegen müssen: Was ist Sache der europäischen Ebene, was wird dort entschieden, und was ist und bleibt sinnvollerweise Sache der Nationalstaaten? Das ist die zweite wichtige Aufgabe bei der Schaffung von mehr Integration und mehr Vertiefung.
Die dritte wird sein: Wie wird dieses integriertere Europa finanziert werden? Dabei wissen wir, dass wir, weil wir wirtschaftlich am meisten davon haben, auch wirtschaftlich immer am meisten an der Finanzierung beteiligt sein werden. Das ist in Deutschland auch keine wirklich kontroverse Frage. Es geht aber um die Frage, ob es dabei nicht Grenzen geben muss. Eine Politik, die der eine oder andere unserer Partner ganz gerne sieht, die nach dem Motto läuft "Wenn wir Europa erweitern, dann lassen wir bei dem, was es an Zahlungen Europas an die jetzigen Mitglieder gibt, alles beim Alten, und wenn neue Länder kommen, erhöhen wir einfach die Zahlungen, und die Rechnung schicken wir nach Berlin", ist eine Art und Weise des Umgangs mit den Problemen - ich sage das sehr diplomatisch, weil hier auch schreibende Presse anwesend ist - , die man einmal hinterfragen und folglich auch reformieren muss.
Aber der Integrationsgesichtspunkt - parallel zur Erweiterung - ist wichtig, weil nur auf diese Weise Europa politisch führbar bleibt; denn darum geht es letztlich. Wenn Sie sich ein Europa mit 25 Mitgliedstaaten vorstellen - darüber wird bis Ende des Jahres entschieden, und das wird 2004 realisiert sein - , dann ist völlig klar, dass sich die Arbeitsweise der Institutionen grundlegend verändern muss, wenn dieses erweiterte Europa politisch führbar sein soll und es seine ihm zukommende Rolle, etwa im Wettstreit der Triade, zu führen in der Lage sein soll.
Was bedeutet diese Konzeption zum einen für die Zuordnung im internationalen Bereich, aber auch für das, was in Europa und für Deutschland notwendig ist? Dazu will ich abschließend noch ein paar Bemerkungen machen. Der Vorsitzende hat freundlicherweise darauf hingewiesen, dass wir mit der Regierungsübernahme ganz bestimmte Anstrengungen gemacht haben, um Deutschland - das die wichtigste und kräftigste Volkswirtschaft in der Europäischen Union ist - instand zu setzen, seine Rolle auch wirklich annehmen zu können. Dafür bedurfte es weitreichender Reformvorstellungen, mit denen wir nicht am Ende sind. Ich muss Ihnen hier nicht sagen, weswegen wir uns bemühen, die Wahl am 22. September zu gewinnen. Deswegen brauche ich hier auch keine Werberede zu halten. Aber wir machen das, weil wir den Reformprozess, den wir begonnen haben, fortsetzen wollen und müssen. Ich nenne einige Aspekte und die Gründe dafür.
Erstens. Der Vorsitzende hat freundlicherweise auf die Steuerreform hingewiesen. Wir haben eine Steuerreform in Deutschland gemacht, von der wir glauben, dass sie eine sinnvolle Balance herstellt zwischen der Angebotsseite zum einen und der Nachfrageseite zum anderen. Ich beschäftige mich - weil das, glaube ich, hier nahe liegt - vor allem mit der Angebotsseite. Wir haben ein Unternehmensteuerrecht geschaffen, das im europäischen und auch im internationalen Maßstab vergleichbar ist und eher im unteren Drittel dessen liegt, was zu zahlen ist.
Wir haben eine wichtige Entscheidung getroffen, die hochkontrovers in unserer Gesellschaft diskutiert worden ist und wird. Dabei geht es um die Frage: Was geschieht mit Beteiligungen, die zum Beispiel in den Depots von Banken, Versicherungen, aber auch von anderen Kapitalgesellschaften liegen? Kann man erreichen, dass diese Beteiligungen mobilisiert und auf den Markt gebracht werden, um daraus neue wirtschaftliche Aktivitäten entstehen zu lassen? Unsere Vorstellung war: Das kann man nicht nur erreichen, das muss man sogar erreichen. Deswegen - nicht, weil wir irgendjemandem Geschenke machen wollten - haben wird gesagt: Wir müssen dafür sorgen, dass diese Beteiligungen, wenn sie mobilisiert werden und aus diesen Beteiligungen reinvestiert wird, dass das ohne Abzug von Steuern geschieht. Das war eine Entscheidung - das will ich hier hinzufügen - , die durchaus kontrovers - insbesondere in meinem eigenen politischen Lager - gewesen ist.
Wir haben nun den grotesken Tatbestand, dass wir diese Entscheidung mit diesem Ziel, das auch erreicht wird - davon bin ich fest überzeugt - , getroffen haben und dass wir in der Innenpolitik eine Opposition haben - obwohl vorgeblich wirtschaftsnäher - , die das aus, so behauptet sie, sozialen Erwägungen hart kritisiert. Ich sage: Die wirklichen sozialen Erwägungen liegen in der Entscheidung selber; denn wenn es gelingt, diese Beteiligungen, die ja Finanzbeteiligungen waren, in wirtschaftliche Tätigkeiten umzusetzen - das wird gelingen - , dann ist das für die ökonomische Prosperität des Landes sehr wichtig.
Wir haben zweitens - auch darauf ist hingewiesen worden - dafür gesorgt, dass in Deutschland die Versorgung im Alter auf zwei Säulen gestellt wird. Wir hatten den Tatbestand, dass die Altersvorsorge finanziert wird durch Beiträge von Unternehmen sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, und zwar ausschließlich. Das war nicht durchzuhalten, weil wir auf der einen Seite veränderte Arbeitsbiographien haben mit der Folge, dass es veränderte Beitragszahlungen gibt, und wir auf der anderen Seite eine - es betrifft jeden irgendwann, Gott sei Dank - alternde Gesellschaft sind, also die Leute älter werden. Das gibt Druck auf diese Form der Finanzierung. Wir sind in Deutschland hergegangen und haben gesagt: Wir müssen eine zweite Säule daneben stellen, und die heißt Kapitaldeckung.
Natürlich ist das schwierig, wenn man eine solche Entscheidung trifft und einen solchen partiellen Wechsel macht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass die Säule Kapitaldeckung an Umfang zunehmen wird und zur Entlastung der anderen Säule beitragen wird. Ich halte das für eine der wichtigsten Reformmaßnahmen, die in diesem Land gemacht worden sind und die letztlich die Kraft der deutschen Volkswirtschaft stärken wird.
Wir haben eine Reihe von anderen Maßnahmen ergriffen, die in der Konsequenz dazu geführt haben - ich sage das mit einem gewissen Stolz - , dass Deutschland jetzt völlig ungeachtet von der öffentlichen Debatte, die aus vordergründigen Motiven gegenwärtig geführt wird, in der Krise der Weltwirtschaft nicht schwächer, sondern stärker geworden ist. Mir liegt daran, zu verdeutlichen, dass wir froh darüber sind, dass Deutschland in einer weltwirtschaftlich schwierigen Situation, die Sie debattiert haben, seine Marktanteile auf dem Weltmarkt vergrößert hat - eine Leistung, die vor dem Hintergrund einer sehr außergewöhnlichen Situation nicht genügend gewürdigt werden kann.
Die außergewöhnliche Situation hat damit zu tun, dass wir seit der Einheit jährlich zwischen 100 und 150 Milliarden DM - heute müsste man es in Euro sagen - von West nach Ost zur Finanzierung der Einheit - was nötig war - transferiert haben. Wenn Sie sich einmal vor Augen führen, was dieser Transfer auf der einen Seite und die Erfolge der deutschen Wirtschaft, die es auf der anderen Seite auf den Märkten der Welt gleichwohl gegeben hat, bedeuten und was daraus für die Kraft der Volkswirtschaft zu schließen ist, können Sie vielleicht verstehen, dass wir Leute sind, die nicht ohne Besorgnisse auf die ökonomische Entwicklung in unserem Land, in Europa und in der Welt schauen, aber schon mit großem Optimismus. Dieser Optimismus, den wir haben, ist gegründet auf Fakten, aber auch auf Entscheidungen, die wir getroffen haben und die wir in Bereichen wie dem Arbeitsmarkt oder dem Gesundheitssystem in den nächsten vier Jahren noch fortführen werden. Das ist unsere Aufgabe, und wenn wir die erfüllt haben werden, werde ich gerne bereit sein, wiederzukommen und Ihnen zu erklären, was wir dann geleistet haben werden.