Redner(in): Christina Weiss
Datum: 29.10.2002

Untertitel: In ihrer Rede im Bundestag beschreibt die Staatsministerin für Kultur und Medien, Weiss, Kultur als ein Regelwerk des Für- und Miteinanders. Kultur umfasst für sie das Selbstbewusstsein einer Gesellschaft und eines Staates, sie definiert die Verhältnisse des Miteinanderumgehens und die Verhältnisse von Gerechtigkeit und Verantwortung - Verantwortung für den Anderen und für die Gemeinschaft.
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/77/446677/multi.htm


Ich begreife Kultur als ein Regelwerk des Für- und Miteinanders. Sie umgrenzt das Feld der Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit ihren Traditionen und Wurzeln, ihren Werten, ihren Zielen und Konflikten und natürlich ihren Visionen, den zukünftigen Pfaden der Entwicklung. Kultur prägt die Lebensentwürfe der Individuen und bildet zugleich den Nährboden ihrer Realisierung. Und sie umfasst das Selbstbewusstsein einer Gesellschaft und eines Staates, sie definiert die Verhältnisse des Miteinanderumgehens und die Verhältnisse von Gerechtigkeit und Verantwortung - Verantwortung für den Anderen und für die Gemeinschaft.

Wenn der Staat die Kultur vernachlässigt, vergeht er sich an seiner eigenen Zukunft, denn er nimmt sich die kreative Kraft der Zukunftsvisionen, der Utopien - ich zögere nicht, diese großen Begriffe hier einzuführen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es geht mir nicht primär um die Frage des Geldbetrages, den die öffentliche Hand für die Kultur aufbringt ( auch wenn ich gleich zu Beginn meiner Amtszeit durchaus mit fiskalischen Dingen konfrontiert war ) . Es geht mir um die Haltung den Künsten gegenüber, um die Wertschätzung dessen, was Künstlerinnen und Künstler zum Gemeinwohl beitragen.

Die Künste sind ein Spezialfall der Kultur, das Kraftfeld der Kreativität in einer Kultur. In der Begegnung mit den Künsten lernen wir, unsere Subjektivität - unsere innere Vielfalt - auszuprägen, unsere geistige Unabhängigkeit auf der Basis der Gewissheit kultureller Identität. Die Künste erschließen Grundlegendes, aber nicht Selbstverständliches: Sie trainieren die Wahrnehmungsfähigkeit, sie schulen die emotionale Intelligenz ebenso wie das Vermögen, über plurale Weltsichten nachzudenken.

Künstler erkunden Grenzbereiche, sie zeigen Grenzen auf und überschreiten sie zugleich. Und die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung präsentieren sie als Angebot an die Sinne, das in jedem Rezeptionsakt neu und anders ergriffen werden kann. Kunst stellt immer wieder neue Beziehungen her zwischen Optionen der Wahrnehmung und Formen der Reaktion. Die Künste ermöglichen und erfordern auf diese Weise eine Art von Kommunikation, wie sie für unsere Gesellschaft einmalig ist. Diese Art von Kommunikation öffnet uns neue Denkräume und Erfahrungsmöglichkeiten. Kunst ist das Labor für die Energien der Phantasie, des freien, sich selbst reflektierenden Denkens - und das Regelwerk des Miteinanders gründet sich - nur scheinbar paradox - nicht zuletzt auf dieses Denken.

Nun bin ich nicht nur Beauftragte der Bundesregierung für Kultur, sondern auch für Medien. Hier soll eine Anmerkung genügen: Die Medien nehmen innerhalb des eben skizzierten Kontextes eine Doppelstellung ein: Sie sind Teil der Kultur, auch in dem Sinne, dass sie wesentlich zur Ausbildung von Subjektivität beitragen, andererseits vermitteln sie Ausprägungen von Kultur. Damit ist eines der Spannungsfelder benannt, innerhalb dessen wir uns mit den Medien - und damit natürlich mit uns selbst - auseinandersetzen müssen.

Was folgt aus diesen Überlegungen für mein Amtsverständnis? Ich möchte es so beschreiben: Regelwerke, nicht nur juristische, sind auf Anwältinnen und Anwälte angewiesen - damit sie ausgelegt werden und in Kraft bleiben können. In diesem Sinne sehe ich mich als Anwältin der Kultur. Zum Spektrum meiner ( Anwalts- ) Praxis gehört in erster Linie Dreierlei: das Moderieren, das Repräsentieren ( auch verstanden als Vertretung von Interessen ) und, drittens, ebenso das "Missionieren" - das Werben, verstanden als Vermitteln von Kunst und Kultur, und dem, was sie uns als Möglichkeitssinn eröffnen. Und dass mich bei der Verfolgung dieser "Mission" der Wirklichkeitssinn nicht verlässt, dessen bin ich - auch dank der Bindung meines Amtes an dieses Haus - ganz sicher.

Ich sprach von einem Regelwerk des Miteinanders. Beziehen möchte ich diese Leitideen auch ganz praktisch auf die Kooperation mit anderen Ressorts - denn Kulturpolitik muss ressortübergreifend gedacht werden. Und beziehen möchte ich die genannten Ideen vor allem auch auf die Arbeit mit Ihnen hier im Parlament, im Ausschuss für Kultur und Medien und in den anderen Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Es geht mir um eine Kultur des Miteinander-Debattierens und des Miteinander-Entwickelns. Ich bin gespannt darauf, mich mit Ihnen auseinander zu setzen und, soweit möglich, zu verständigen - über Grundsätzliches, aber auch über ganz konkrete kultur- und medienpolitische Fragen. Lassen Sie uns gemeinsam der Kultur, d. h. der geistigen Orientierung unserer Gesellschaft mehr Gewicht verleihen.