Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 31.12.2002

Untertitel: Niemand weiß heute, wie sich die Weltwirtschaft im nächsten Jahr entwickeln wird. Aber wir Deutschen wissen, wie man Probleme löst und Schwierigkeiten meistert. Wir können uns auch für die Zukunft auf unsere Kraft und unser Können verlassen. In diesem Sinne wünschen meine Frau und ich Ihnen allen ein erfolgreiches, gesundes und glückliches Jahr 2003.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/69/456969/multi.htm


Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Das Fernsehen und die Zeitschriften zeigen in diesen Tagen noch einmal die eindringlichsten Bilder des alten Jahres. Wir spüren, die Zeit vergeht schnell. Das merken wir auch daran, dass parteipolitische Polemik meist nicht einmal den nächsten Tag überdauert.

Was bleibt, sind Einschnitte, aus denen wir alle lernen. Deshalb ist die Flutkatastrophe an Elbe und Donau mir und den meisten in Erinnerung.

Die Bilder der Zerstörung, aber mehr noch die Zeugnisse von gemeinschaftlicher Hilfe, Solidarität und Gemeinsinn. Ich wünsche mir, dass uns diese Erlebnisse ermutigen. Sie zeigen, dass wir gemeinsam die Katastrophe schnell in den Griff bekommen haben. Die Tatkraft der Deutschen hat in jenen Tagen Großartiges geschaffen.

Das ist die Lehre aus diesem Ereignis: Wenn jeder tut, was er für ein gemeinsames Aufbauwerk tun kann, dann wird der Erfolg schnell sichtbar. Diese Erfahrung hat die Menschen in Ost- und Westdeutschland enger zusammen geführt.

Ich baue darauf, dass diese Erfahrung unser aller Handeln im nächsten Jahr bestimmt und uns Deutschen zum notwendigen Wandel im Inneren befähigt.

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,

am heutigen Silvestertag haben wir in Shanghai den "Transrapid" eingeweiht: eine bei uns in Deutschland entwickelte Zukunftstechnologie, die eine vorzügliche Lösung der Mobilitätsprobleme bietet.

Auch das zeigt deutlich: Wir in Deutschland haben alles, was zum Erfolg notwendig ist. Wir müssen ihn aber tatsächlich wollen. Niemand darf blockieren oder behindern. Jeder sollte mit seinen Möglichkeiten vorangehen, damit das Ganze vorankommt.

Weltweit - nicht nur in den aufstrebenden und für unsere Zukunft so wichtigen Märkten Asiens - zählen die Menschen auf Deutschland. Sie setzen auf unsere Wirtschaftskraft und unseren Erfindungsreichtum. Und sie vertrauen auf unseren Beitrag zur Stabilität und zur friedlichen Entwicklung der Welt.

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,

von überall her haben mich nach dem tragischen Hubschrauber-Unglück über Kabul Beileidsbekundungen erreicht. Auch mein Mitgefühl gilt in diesen Stunden den Hinterbliebenen der deutschen Soldaten. Diese Soldaten haben ihr Leben gelassen für einen Frieden, wie die Völker ihn wollen. Wo Soldaten die Sicherheit geben, die notwendig ist, um eine humane und demokratische Gesellschaft wieder aufzubauen.

Tragfähige Sicherheit braucht einen wirtschaftlich erfolgreichen Wiederaufbau. Und der Wiederaufbau braucht Sicherheit. Nicht Krieg ist das Ziel, sondern seine Vermeidung mit allen dazu nötigen Instrumenten.

Diese Mischung von Sicherheit und Wiederaufbau hat den Balkan, der zeitweise explosiver war als der Nahe Osten, schon erheblich stabilisiert.

Deutschland ist es seiner Geschichte schuldig, die Alternativen zum Krieg zu betonen. Wir Deutsche wissen aus eigener Erfahrung, dass Diktatoren manchmal nur mit Gewalt zu stoppen sind. Wir wissen aber auch, was Bomben, Zerstörung und Verlust der Heimat für die Menschen bedeuten.

Deshalb bleibt es Ziel meiner Politik, die Durchsetzung der UN-Resolution ohne Krieg zu erreichen. Und ich bin dankbar für die Unterstützung aus der Mitte unserer Gesellschaft, zum Beispiel von Kirchen und Gewerkschaften für diese Politik.

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,

noch aus einem anderen Grund schauen die Menschen in der Welt auf uns Deutsche. Es ist uns, gemeinsam mit unseren Partnern, vor wenigen Wochen gelungen, die Spaltung Europas endgültig zu überwinden.

Durch die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedsstaaten, darunter unsere Nachbarn Polen und Tschechien, in die Europäische Union haben wir das Kapitel der Kriege und Konflikte auf unserem Kontinent ein- für allemal beendet.

Wovon unsere Vorfahren nur träumen durften, ein gemeinsames Europa bauen zu können - , das ist nunmehr greifbare Wirklichkeit geworden.

Das hilft uns politisch, und es verschafft unserer Wirtschaft neue Möglichkeiten.

Wir alle können daran mitwirken, dass aus Europa ein Kontinent des Friedens, der Freiheit und des Wohlergehens wird.

Aber es ist auch wahr: Wenn wir das, was uns in Deutschland und in Europa wirklich stark gemacht hat, erhalten wollen - dann müssen wir die notwendigen Veränderungen entschlossen angehen.

Was hat unser Land vor allem stark gemacht?

Da ist zunächst der friedliche Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Bei uns gilt nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts. Die Grundsätze von Solidarität und Teilhabe haben uns Wohlstand und sozialen Frieden gebracht.

Schließlich: Ein Staat, der das Gemeinwohl sichert, der die Schwächeren schützt und der in die öffentliche Infrastruktur, in Bildung und Ausbildung, kurz: in die Zukunft investiert.

Diese humane Ordnung wollen wir bewahren. All das lässt sich nur bewahren, wenn wir unter den gewandelten äußeren Bedingungen zum Wandel im Inneren bereit sind.

Wir werden unseren Wohlstand, unsere soziale Sicherheit, unsere guten Schulen, Straßen und Krankenhäuser - um die uns so viele Völker beneiden - nur erhalten können, wenn wir uns auf unsere Kräfte besinnen und gemeinsam den Mut zu grundlegenden Veränderungen aufbringen.

Auf dem Arbeitsmarkt und in der Rentenversicherung haben wir damit bereits begonnen. Mit diesen Maßnahmen machen wir unseren Sozialstaat auch gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest.

Wir werden dabei in jeder Hinsicht ein Mehr an Verantwortung brauchen: Mehr Eigenverantwortung jedes Einzelnen und mehr gemeinsame Verantwortung für die Chancen unserer Kinder - nicht zuletzt durch Stärkung der Familien.

Sozial heißt für mich: Jeder hat gleiche Chancen. Das heißt aber auch, jeder hat die Pflicht, seine Chancen zu nutzen. Wer Solidarität ausnutzt, gefährdet das soziale Miteinander.

Morgen, am Neujahrstag, werden eine Reihe von Gesetzen in Kraft treten, die es den Menschen, die Arbeit suchen, einfacher machen, Arbeit zu bekommen.

Das Ziel dieser Maßnahmen ist: Niemand, der arbeiten will, soll aufgrund bürokratischer Hemmnisse daran gehindert werden. Und niemand, der arbeiten kann, soll in Schwarzarbeit flüchten.

Diese Gesetze werden, dessen bin ich sicher, der Anfang sein für eine neue Dynamik wirtschaftlicher Leistung in unserem Land.

Wir haben gute Gründe, zuversichtlich zu sein. Es ist uns gelungen, aus alten Feindschaften neue Partnerschaften in Europa zu schaffen. Nun müssen wir neue Solidarität und neuen Wohlstand in unserer Gesellschaft schaffen.

Niemand weiß heute, wie sich die Weltwirtschaft im nächsten Jahr entwickeln wird. Aber wir Deutschen wissen, wie man Probleme löst und Schwierigkeiten meistert. Wir können uns auch für die Zukunft auf unsere Kraft und unser Können verlassen.

In diesem Sinne wünschen meine Frau und ich Ihnen allen ein erfolgreiches, gesundes und glückliches Jahr 2003.