Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 30.12.2002

Untertitel: Bundeskanzler Schröder: "Sie als Wissenschaftler wissen aus eigener Erfahrung: Kreativität ist die Entfaltung des freien Geistes. Innovation und Wirtschaftswachstum sind auf Dauer nur in einer offenen Gesellschaft optimal möglich. Einer Gesellschaft, die von ungehindertem Informationsaustausch profitiert."
Anrede: Herr Senatsvorsitzender, sehr verehrte Professorinnen und Professoren, liebe Studentinnen und Studenten, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/33/457033/multi.htm


Frau Präsidentin,

Für die große Ehre, die Sie mir heute erweisen, danke ich Ihnen von ganzem Herzen. Ich verstehe diese Auszeichnung so, dass damit in erster Linie die vorzüglichen Beziehungen zwischen unseren Ländern gewürdigt werden sollen. Ich möchte hier betonen, welch erhebendes Gefühl es für mich ist, die Ehrendoktorwürde gerade von der Shanghaier Universität verliehen zu bekommen, die im Jahr 1907 durch den deutschen Arzt Erich Paulun gegründet wurde. Mehr als an jeder anderen Hochschule Ihres Landes stehen Forschung, Lehre und Unterricht an der Tongji im Zeichen deutsch-chinesischer Zusammenarbeit.

Die Tongji unterhält Partnerschaften mit einem Dutzend deutscher Universitäten. Mehr als ein Drittel ihrer Dozenten hat in Deutschland studiert oder promoviert. An keiner anderen Universität der Welt wirken so viele deutsche Austausch-Lektoren wie hier in Shanghai. Unsere heutige Feierstunde ist insofern Ausdruck der guten Zusammenarbeit, die wir miteinander erreicht haben - die um so beeindruckender ist, wenn man bedenkt, dass wir vor 25 Jahren mit zehn chinesischen Stipendiaten in Deutschland begonnen haben. Die zweisprachigen Studiengänge Ihres Chinesisch-Deutschen Hochschulkollegs sind einzigartig. Die Einrichtung dieser großartigen Institution ist nicht zuletzt durch Ihren persönlichen Einsatz, Frau Professor Wu, möglich geworden. Dafür will ich Ihnen meinen herzlichen Dank und meine große Anerkennung aussprechen.

Denn Regierungen und Behörden mögen noch so vieles vereinbaren und noch so Wünschenswertes beschließen: Am Ende kommt es auf das Engagement von handelnden und zum Handeln bereiten Menschen an, große Projekte wahr werden zu lassen.

Deshalb ist es auch so bemerkenswert, wie großzügig deutsche Unternehmen in Shanghai diese enge deutsch-chinesische Zusammenarbeit an der Tongji unterstützen. Auch dabei handelt es sich um mehr als die bloße Einsicht in Notwendiges und Lohnendes.

Meine Damen und Herren,

wir alle können stolz sein auf den Erfolg des Chinesisch-Deutschen Hochschulkollegs. Deshalb ist es eine so gute Entscheidung, dass der Deutsche Akademische Austauschdienst dieses, sein größtes Auslandsprojekt um weitere fünf Jahre verlängert. Soeben haben wir eine weitere Vereinbarung zur Stärkung unserer Zusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung getroffen.

Äußerlich sichtbar wird das Wachstum des Kollegs durch das neue Gebäude, das Sie seit diesem Wintersemester nutzen. Dieser beeindruckende Neubau bringt etwas zum Ausdruck, das der Besucher überall in der Stadt spüren kann: Dynamik und den sprühenden Elan zum Wandel. Der wirtschaftliche Umbau, die Öffnung und Hinwendung Ihrer Stadt zum internationalen Denken und Geschehen sind geradezu mit Händen zu greifen.

Ich bin sicher, diese Atmosphäre hat dazu beigetragen, dass Shanghai gegen starke Konkurrenz den Zuschlag für die Weltausstellung 2010 erhalten hat. Die deutsche Regierung hat sich frühzeitig für die Vergabe an Shanghai ausgesprochen, und Deutschland freut sich mit Ihnen auf diese Weltausstellung.

Die Weltausstellung wird den in allen Bereichen sichtbaren Aufschwung der Stadt noch stärker beflügeln und weitere Investoren anziehen. Sie ist aber auch Ausdruck der wachsenden Bedeutung Chinas in der Welt. Bereits heute ist die Volksrepublik China die siebtgrößte Volkswirtschaft und die sechstgrößte Handelsnation der Welt. Sie verfügt über die zweithöchsten Devisenreserven und war in diesem Jahr nicht nur regionaler Spitzenreiter beim Wachstum, sondern weltweit das attraktivste Land für ausländische Direktinvestoren.

Durch den Beitritt zur Welthandelsorganisation setzt Ihr Land seine Eingliederung in die Weltwirtschaft konsequent fort. Dies ist eine mutige Politik, die auch weiterhin internationale Unterstützung verdient. Ich bin überzeugt davon, dass ein Land um so besser an den Wohlstandsgewinnen der Globalisierung teilhat, je mehr es sich dem Welthandel öffnet.

Meine Damen und Herren,

der tiefgreifende und rasche Wandel in unserer Welt betrifft nicht nur Shanghai und China. Er hat auch Europa ergriffen. Mag auch Deutschland aus Ihrer Sicht vielleicht ein kleines Land sein - so ist Europa zweifellos um einiges größer. Und wenn wir uns die Geschichte vor Augen führen, so ist dies nicht immer nur ein Kontinent großer kultureller und industrieller Leistungen gewesen. Sondern leider auch ein Kontinent, auf dem es über Jahrhunderte hinweg sehr schwer gefallen ist, den Frieden zwischen den Völkern zu erhalten.

Immer wieder haben europäische Herrscher ihre jungen Männer in Kriege getrieben und ihre Völker in großes Unglück und Blutvergießen gestürzt. Noch im vergangenen Jahrhundert war Europa mehr als 40 Jahre lang durch Mauer, Stacheldraht und einen sogenannten "Eisernen Vorhang" bitter geteilt. Ich erwähne das deshalb, weil es uns nun, Anfang dieses Monats in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen, gelungen ist, diese Spaltung endgültig zu überwinden.

Durch die Aufnahme von zehn mittel- und osteuropäischen Staaten in die Europäische Union haben wir uns zu einer gemeinsamen Zukunft in Frieden, Freiheit und politischer Einigkeit verabredet. Dadurch entsteht ein Binnenmarkt mit mehr als 450 Millionen Einwohnern, der zweifellos noch attraktiver für große Partner wie die USA, China und Russland wird. Aber wir vereinen nicht nur Europas Wirtschaftskraft. Wir wollen auch ein starker Partner sein, der in den internationalen Beziehungen geeint auftritt. Uns verbindet ein festes Fundament von Werten und Prinzipien - namentlich der Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Verantwortung und des friedlichen Interessenausgleichs.

Und ohne dass ich Ihnen diese europäische Erfahrung nun als "Modell" anpreisen möchte - wir alle haben sehr unterschiedliche Erfahrungen damit gemacht, bestimmten "Modellen" nachzueifern - , will ich doch auf die Lehre hinweisen, die wir Europäer aus unserer mitunter schwierigen und schmerzhaften Geschichte gezogen haben: Dass es nämlich möglich ist, auch größere Interessenunterschiede zu überwinden, wenn sich die Völker auf ihre Gemeinsamkeiten konzentrieren und sich auf gemeinsame Werte verständigen: Vor allem auf die Überzeugung, dass die grundlegenden Pflichten und Rechte des Einzelnen den Menschen nicht vom Staat verliehen, sondern unveräußerlich sind. Dass es dem Staatswesen aufgegeben ist, diese Rechte des einzelnen zu wahren und zu schützen. Und dass den Menschen, die den Reichtum schaffen, ein gerechter Anteil zukommen muss - nicht nur am Wohlstand, sondern auch an den Entscheidungen in der Gesellschaft. Dies sind, wie gesagt, unsere Überzeugungen, und ich denke, ein Gutteil auch der wirtschaftlichen Erfolge in Deutschland und Europa beruhen auf der Durchsetzung dieser Prinzipien.

Meine Damen und Herren,

Mit diesen Überlegungen einhergeht - nicht nur in Europa - das Thema Sicherheit. Um Sicherheit geht es angesichts neuer Bedrohungen, angesichts von Terrorismus und privatisierter Gewalt. Aber auch angesichts ungelöster Konflikte und Ungerechtigkeiten, die ihrerseits Gewalt hervorrufen oder fördern. Gerade in der Globalisierung der Wirtschaft und der Kommunikation ist multilaterale Zusammenarbeit notwendiger denn je.

Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, zur Wahrung des Weltfriedens die Vereinten Nationen zu nutzen und zu stärken. Ich begrüße es daher sehr, dass sich alle Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen auf eine gemeinsame Resolution, betreffend die Gefahr durch Massenvernichtungswaffen im Irak, einigen konnten. Diese Resolution muss dafür genutzt werden, die Sicherheit in der nah- und mittelöstlichen Region, aber auch in der Welt insgesamt zu verbessern.

Deutschland wird in den nächsten zwei Jahren ein konstruktiver Partner im Weltsicherheitsrat sein. Denn wir sind davon überzeugt: Wenn sich die internationale Gemeinschaft langfristig und nachhaltig für Frieden, Zusammenarbeit und Interessenausgleich engagiert, können wir Erfolge bei der Lösung von Konflikten erzielen.

Das gilt auch für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, eine der größten Gefahren für die Sicherheit unserer Welt im 21. Jahrhundert. Gewalt gegen Zivilisten ist niemals zu rechtfertigen - und zwar ganz gleich, wo, von wem und mit welcher Begründung diese Gewalt angewendet wird. Gemeinsam mit unseren Partnern in der Welt führen wir deshalb den Kampf gegen den internationalen Terrorismus mit höchster Intensität weiter - und zwar politisch, wirtschaftlich, polizeilich und wo nötig auch militärisch. Wir dürfen dabei leider nicht mit schnellen Erfolgen rechnen. Aber ich bin überzeugt, dass sich am Ende die internationale Gemeinschaft und das Recht durchsetzen werden. Die Entwicklung in Afghanistan kann dafür ein gutes Beispiel sein.

Dabei wissen wir: Sicherheit kann nicht mit militärischen Mitteln allein erreicht werden. Wer Sicherheit schaffen und aufrecht erhalten will, der muss einerseits Gewalt entschieden bekämpfen, andererseits aber auch die Ursachen von Gewalt: Durch Prävention und friedliche Konfliktregelung, durch den Einsatz für Minderheitenrechte und die Eigenständigkeit der Kulturen, durch sozialen Fortschritt und wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Deshalb sagen wir auch: Mit der Globalisierung der Wirtschaft und der Märkte muss die Globalisierung der Gerechtigkeit einher gehen.

Meine Damen und Herren,

wirtschaftliches Fortkommen basiert in unserer heutigen Welt mehr denn je auf wissenschaftlichen Errungenschaften.

Ein hervorragendes Beispiel ist der Transrapid, dessen Betrieb in Shanghai wir morgen feierlich einweihen werden. Wenn ich recht unterrichtet bin, ist Commander Wu an Ihrer Universität ausgebildet worden. Sie als Wissenschaftler wissen aus eigener Erfahrung: Kreativität ist die Entfaltung des freien Geistes. Innovation und Wirtschaftswachstum sind auf Dauer nur in einer offenen Gesellschaft optimal möglich. Einer Gesellschaft, die von ungehindertem Informationsaustausch profitiert.

Ein freies Internet fördert die wirtschaftliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung eines jeden Landes. Ich betone: eines jeden Landes. Auch wir Deutschen wollen davon profitieren, dass durch dieses Medium die Leistungen der großen chinesischen Kultur für jeden Einzelnen erfahrbar sind.

Aber natürlich bleiben wir auch im Zeitalter moderner Informationstechnologien auf direkte Kontakte angewiesen. Das betrifft auch den Austausch zwischen Wissenschaftlern und den Austausch von Wissenschaftlern.

Im Frühjahr dieses Jahres haben wir anlässlich des Staatsbesuches von Präsident Jiang Zemin ein Abkommen über gegenseitige Anerkennungen im Hochschulbereich unterzeichnet. Das war meines Erachtens ein wichtiger Schritt hin zu noch besserer Kooperation.

Chinesen sind inzwischen die größte Gruppe nichteuropäischer Studenten in Deutschland. Unsere Freude darüber bringen wir auch in den Stipendien für Sommerhochschulkurse zum Ausdruck, das wir in den kommenden Jahren den jeweils Jahrgangsbesten der Tongji zur Verfügung stellen werden.

Sehr verehrte Damen und Herren,

wie mir gesagt wurde, bedeutet "Tongji" im Chinesischen sinngemäß, dass man gemeinsam in einem Schiff einen Fluss überquert. Dieses schöne Bild beschreibt treffend den Charakter unserer langjährigen Partnerschaft.

In diesem Geist danke ich Ihnen nochmals für die heutige Ehrung und blicke gemeinsam mit Ihnen zuversichtlich dem 100-jährigen Jubiläum der Tongji-Universität entgegen, das Sie, das wir in fünf Jahren feiern werden.

Ich danke Ihnen.