Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 29.01.2003
Untertitel: Gerhard Schröder: "In den Verhandlungen mit der Europäischen Kommission ist es uns gelungen, einen gesicherten Rahmen für die Förderung der Steinkohle zu erhalten. Spekulationen vom nahen Ende der deutschen Steinkohle, wie sie ja bei einigen angestellt worden sind, ist damit der Boden entzogen."
Anrede: Lieber Ludwig Ladzinski, lieber Hubertus Schmoldt, lieber Peer Steinbrück, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/91/464991/multi.htm
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich bin gern nach Wesel gekommen, nicht zuletzt, um zu unseren energiepolitischen Vorstellungen hier Stellung zu nehmen. Aber bevor ich das tue, will ich auch in diesem Kreis eines deutlich machen: Es sind schwierige Zeiten, in denen wir diese und andere Politikbereiche bearbeiten müssen. Die internationale Situation, insbesondere die Krise im und um den Irak, macht mir Sorge - mehr, als man gelegentlich vermutet. Sorge, ob es uns gelingt, Krieg zu vermeiden und den Konflikt friedlich zu lösen. Ich finde, wir müssen alle Kraft darauf verwenden, dass es gelingt.
Wenn gelegentlich kritisiert wird, dass dies unser fester Wille ist, will ich daran erinnern, dass insbesondere die Deutschen Erfahrung mit Krieg haben. Auch diejenigen, die ihn - wie ich - nicht unmittelbar erleben konnten. Tief in das kollektive Gedächtnis unseres Volkes hat sich diese Erfahrung eingegraben. Das ist auch und gerade an die jungen Menschen weitergegeben worden. Deswegen meine ich: Gewerkschaften, Parteien, Bundesregierung, aber auch andere Gruppen, wie die Kirchen sollten mit dafür sorgen, dass eines jedenfalls in unserer Öffentlichkeit und in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich wird, nämlich Krieg als normales Mittel von Politik zu begreifen.
Die Aufgaben, die vor uns liegen, sind klar definiert: Es geht jetzt darum, die Resolution des Weltsicherheitsrates umzusetzen. Deshalb muss der Irak - muss ein diktatorisches Regime - dazu gebracht werden, mehr als in der Vergangenheit zu kooperieren. Dabei müssen wir dafür sorgen, dass die Inspektoren jenes Maß an Zeit bekommen, das sie brauchen, um vernünftige Ergebnisse vorzulegen, die dann auch eine Bewertung rechtfertigen. Wir müssen das im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen möglichst einvernehmlich tun. Denn das ist der Ort, an dem über solche Fragen entschieden werden kann und werden muss.
Vor diesem Hintergrund haben wir schwierige Zeiten durchzustehen. Aber ich bin sehr optimistisch, dass wir hier in Deutschland die Kraft dazu aufbringen und die Fähigkeit unter Beweis stellen, das Maß an Gemeinsamkeit in unserer Gesellschaft zu entwickeln, das man insbesondere dann braucht, wenn es um die Lösung solch internationaler Krisen geht. Ich will meinen Beitrag dazu leisten, und ich bin froh, auf die Unterstützung des Deutschen Gewerkschaftsbundes und damit aller Einzelgewerkschaften bei diesem Vorhaben bauen zu können.
In den Verhandlungen mit der Europäischen Kommission ist es uns gelungen, einen gesicherten Rahmen für die Förderung der Steinkohle zu erhalten. Das bedeutet, dass all jenen Spekulationen vom angeblichen nahen Ende der deutschen Steinkohle der Boden entzogen worden ist. Das ist ein wichtiger Erfolg gemeinsamer Politik der nordrhein-westfälischen Landesregierung, der Bundesregierung, aber auch von Hubertus Schmoldt und der IG BCE. Ohne die Unterstützung, die Unbeirrbarkeit und den festen Willen der Betriebsräte und der Menschen, die im Bergbau arbeiten, wäre dieses Ergebnis nicht möglich gewesen.
Damit ist klar - das gilt für die Bundesregierung: Unsere heimische Steinkohle bleibt weiterhin ein wichtiger Baustein der deutschen Energieversorgung.
Was sind nun die energiepolitischen Ziele der Bundesregierung? Den meisten hier sind sie bekannt. Aber ich will sie mit drei Punkten noch einmal erwähnen. Es geht um Versorgungssicherheit, es geht um Wirtschaftlichkeit, und natürlich geht es auch um Umweltverträglichkeit.
Lassen Sie mich mit dem Aspekt der Versorgungssicherheit beginnen. Wie Sie wissen, ist Deutschland bei der Energieversorgung sehr stark von Importen abhängig. Die Europäische Kommission erwartet für die Mitgliedstaaten der Union in den nächsten beiden Jahrzehnten einen Anstieg der Energieimporte. Bereits heute ist es so, dass mehr als 50 Prozent der in Europa benötigten Energie importiert werden müssen. Bei uns in Deutschland sind es bereits 60 Prozent. Deshalb ist richtig, was Peer Steinbrück angedeutet und skizziert hat: Eine Abhängigkeit der Wirtschaft von importierter Energie allein macht uns anfälliger für die Folgen internationaler Krisen. Deswegen ist es ein Stück vorbeugender, weitsichtiger Wirtschaftspolitik, die hier auf dem Sektor der Energiepolitik thematisiert und umgesetzt wird.
Das Wichtigste und das Beste, das wir dieser Gefahr der übermäßigen Abhängigkeit entgegensetzen können, sind unsere intensiven und erfolgreichen Bemühungen, die Energieeffizienz bei allen Primärenergieträgern deutlich zu steigern. Und doch spüren wir die unmittelbaren Auswirkungen von Krisen - wie jetzt wieder im Nahen Osten und auch in Venezuela - auf die Energiepreise, auf die produzierende Industrie, auf die gesamte Volkswirtschaft ganz eminent.
Das verdeutlicht immer mehr, wie außerordentlich vernünftig es ist, wenn man einen Mix der Energieträger nicht nur anstrebt, sondern, wo er möglich ist, bewahrt und weiter ausbaut. Daher setzen wir auf eine krisenfeste Energieversorgung mit diesem Mix aus Braunkohle, Steinkohle, Gas und Öl, aber natürlich auch aus erneuerbaren Energien.
Rund die Hälfte unseres Strombedarfs - das müssen wir jenen, die mit dem Bergbau nicht so vertraut sind, immer wieder sagen - decken wir mit Hilfe von Steinkohle und Braunkohle. Neben der Braunkohle ist die deutsche Steinkohle der einzige heimische Energieträger von wirklicher Bedeutung. Genau das ist der Grund - und keinesfalls Anflüge von Nostalgie, wie gelegentlich unterstellt wird - meines Engagements für die Kohle. Für diese Politik stehen auch Peer Steinbrück und Wolfgang Clement.
In Deutschland haben Steinkohle und Braunkohle auch deshalb Zukunft, weil wir über die weltweit modernste und umweltfreundlichste Kraftwerkstechnologie verfügen.
Im vergangenen Jahr ist in Niederaußem das modernste Braunkohlekraftwerk der Welt ans Netz gegangen. Mit einem Wirkungsgrad von 43 Prozent ist diese Anlage ein hervorragender Beweis dafür, dass die deutsche Energie- und Kraftwerkstechnologie weltweit höchsten Maßstäben genügt.
Das für Nordrhein-Westfalen geplante Referenzkraftwerk für Steinkohle verspricht übrigens eine nochmalige Steigerung. Mit einem Wirkungsgrad von dann fast 50 Prozent wird es weltweit neue Maßstäbe setzen.
Nicht mehr rauchende Schlote in grauer Landschaft, sondern modernste Technik mit höchster Energieeffizienz und geringem Schadstoffausstoß - das ist heute Kohleverstromung "Made in Germany". In diesem Sinne sollten wir auch die Erneuerung des veralteten Kraftwerkparks in den nächsten Jahren natürlich in Deutschland, aber auch in ganz Europa und darüber hinaus in Angriff nehmen.
In den nächsten 30 Jahren wird sich der globale Energieverbrauch deutlich erhöhen. Dann muss mit Rücksicht auf die Energiepreise und die Endlichkeit der Ölreserven auch die Kohle stärker zur Energiegewinnung herangezogen werden.
In wichtigen Ländern kann man das bereits sehen und feststellen. Das wird zum Beispiel in China und in Indien, aber auch in Russland und in den Vereinigten Staaten zu einem starken Anstieg der Kohleförderung und des Kohleverbrauchs führen. Die Internationale Energie-Agentur rechnet deshalb in diesem Zeitraum mit einem weltweiten Anstieg der Kohleförderung um mehr als 50 Prozent.
Auch wegen dieses Anstiegs und der Klimaschutzproblematik braucht die Welt - nicht nur Deutschland - also eine saubere und effizientere Verbrennung von Primärenergieträgern, insbesondere der Kohle, und die entsprechenden Kraftwerke, die wir auf den Märkten der Welt anbieten wollen.
Die deutsche Industrie ist in der Lage, für diesen großen Bedarf passende Angebote zu machen. Deshalb ist es nicht falsch, wenn wir gerade in der Kohledebatte davon sprechen, dass es hier um industriepolitische Belange von großer Bedeutung geht.
Ich muss hier nicht hinzufügen, dass auch die deutsche Bergbautechnik im engeren Sinne heute schon international führend und natürlich in jeder Hinsicht wettbewerbsfähig ist. Kunden in aller Welt wissen: Mit deutscher Bergbautechnik erwerben sie ein ausgereiftes Produkt und - was noch wichtiger ist - ein Produkt, das sicher ist, sicherer als das meiste andere in der Welt. Das ist für diejenigen, die unter Tage zu arbeiten haben, sehr wichtig.
Im letzten Jahr wurde in Brüssel die Einführung des europaweiten Emissionshandels beschlossen.
Wir haben viele Bedenken gehabt - wir haben das auch sehr intensiv mit Hubertus Schmoldt und den anderen besprochen - , aber wer sich die Ergebnisse ansieht und sie vor allen Dingen mit dem vergleicht, was am Anfang vorgesehen war, kann nicht umhin zu sagen: Die Verhandlungen waren schwierig, aber wir haben in wichtigen Punkten wirklich Erfolge erzielt. Wir haben durchgesetzt, dass Emissionsrechte mindestens bis 2012 kostenlos zugeteilt werden können. Gegenüber dem Entwurf der Kommission ist das eine deutliche Verbesserung für die Stromerzeugung auch und gerade aus Kohle.
Wir haben durchgesetzt, dass die Vorleistungen der deutschen Wirtschaft beim Klimaschutz anerkannt werden können. Die Vorleistungen sind gewaltig gewesen: Drei Viertel all dessen, was in Europa geleistet worden ist, wurde von Deutschland erbracht.
Wir haben schließlich durchgesetzt, dass bis 2007 bestimmte Anlagen und Branchen aus dem Emissionshandel herausgenommen werden können. Jetzt kommt es darauf an, den in Brüssel beschlossenen Emissionshandel national umzusetzen. Dabei werden wir die Möglichkeiten, die wir bei der Umsetzung haben, im Sinne unserer Vorstellungen und industriepolitischen Positionen nutzen. Natürlich gilt dies gerade und nicht zuletzt für die Kohle. Neue und hoch effiziente Kohlekraftwerke werden wir genauso mit kostenlosen Zertifikaten ausstatten, wie das bei bestehenden Anlagen auch der Fall sein wird.
Der Emissionshandel wird so wie wir ihn ausgestaltet haben und weiter ausgestalten werden, keine Strategie, die von der Kohle wegführt. Neben Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit ist natürlich Wirtschaftlichkeit auch ein Ziel unserer Kohlepolitik.
Wie Sie wissen, liegen die Kosten der deutschen Steinkohle über den einschlägigen Weltmarktpreisen. Das gleichen wir im vernünftigen Rahmen aus. Deshalb unterstreiche ich ausdrücklich, was der Gesamtbetriebsratsvorsitzende gesagt hat und was andere auch thematisiert haben: Es geht nicht um Almosen, sondern um die sozialverträgliche Angleichung eines wichtigen Industriezweiges an veränderte Bedingungen.
Die aufgewendeten Mittel müssen in einem angemessenen Verhältnis zum nationalen Ziel der Versorgungssicherheit stehen. Der Kohlekompromiss von 1997 regelt die Förderung bis 2005. Wir haben ihn nach Punkt und Komma eingehalten.
Die im vergangenen Juli mit der Kommission erreichte Anschlussregelung für den auslaufenden EGKS-Vertrag war ein Erfolg. Auch er ist nur zustande gekommen, weil die Kraft der Gewerkschaften, der politische Wille des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen zusammengefasst waren, und wir dann in Brüssel entsprechend verhandeln konnten. Der neue EU-Rahmen erlaubt es uns, die Steinkohle weiterhin in angemessenem Maße zu fördern. Wir werden das tun. Die Vereinbarung gibt Ihnen und den Kollegen Sicherheit bis ins Jahr 2010 - ich füge hinzu: zunächst.
Wie bei anderen Beihilfearten auch, wird in der neuen Kohleverordnung allerdings ein weiterer Abbau der Hilfen vorgeschrieben. Das war unvermeidbar. Wir haben durchgesetzt, dass der Abbau sozialverträglich und geordnet wie bisher auch verlaufen kann. Und - das ist entscheidend für mich - dass er aus Gründen der Versorgungssicherheit die Zukunft der deutschen Steinkohle nicht in Frage stellt.
Wir haben also der deutschen Steinkohle auch für die Zeit nach 2010 eine Perspektive erhalten. Bei dem, was wir jetzt unmittelbar vor uns haben, geht es um die Förderung der Steinkohle im Zeitraum von 2006 bis 2010. Bei den anstehenden Verhandlungen werden wir festlegen, wie das im Detail zu machen ist. Das werden wir sehr vertrauensvoll mit den Beschäftigten, ihren Gewerkschaften, mit der Landesregierung auch in Angriff nehmen. Schwierige Anpassungsprozesse, wie sie der Steinkohlebergbau durchläuft, lassen sich politisch und für die Beteiligten verträglich gestalten. Ich möchte abschließend noch ein paar Bemerkungen zu allgemeinen Themen machen.
Wir haben schwierige Zeiten, in denen wir politisch zu agieren haben. Die Weltwirtschaft ist nicht zuletzt der internationalen Krisen wegen in einem nicht zufriedenstellenden Zustand. Das hat auch Auswirkungen auf Europa und damit natürlich auch auf unser Land. Das hat auch Auswirkungen auf die Frage, wie wir mit den bewährten Systemen der sozialen Sicherung in unserem Land umgehen.
Globalisierung und weltweit veränderte Rahmenbedingungen erzwingen Anpassungsleistungen. Aber ich will hier sehr deutlich machen, dass es bei aller notwendigen Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an radikal veränderte Bedingungen im Kern darum geht, die Substanz dieser Systeme zu erhalten und sie eben nicht in Frage zu stellen.
Wir werden einen schwierigen und auch gelegentlich schmerzhaften Reformprozess durchstehen müssen. Aber so, wie wir bei der Kohlepolitik Wort gehalten haben, liegt es mir daran, gerade vor Betriebsräten und den Spitzen der Gewerkschaften deutlich zu machen: Wenn wir in diesem schwierigen Prozess - der auch mit Nachteilen verbunden sein wird - auf eure Unterstützung setzen und setzen müssen, dann tun wir das nicht, um die Balance zwischen Wirtschaftlichkeit einerseits und sozialer Sicherheit andererseits preiszugeben, sondern wir tun das, um sie zu erhalten. Erhalten können wir sie nur, wenn wir sie den veränderten Bedingungen auch anpassen.
Das bedeutet, dass wir vor allen Dingen auf dem Arbeitsmarkt die Balance zwischen Sicherheit und Flexibilität neu definieren müssen. Das bedeutet auch, dass wir nach den Erfolgen, die wir bei der Absicherung der Altersversorgung bereits erzielt haben, bei der Reform des Gesundheitswesens vorankommen müssen.
Hier geht es im Kern darum, dass das medizinisch Notwendige zur Wiederherstellung der Gesundheit für alle, die arbeitenden Menschen insbesondere, geleistet werden muss, und zwar grundsätzlich unabhängig vom persönlichen Einkommen.
Das wird auch mit schwierigen Gesprächen und großen Auseinandersetzungen verbunden sein. Ich hoffe, dass es konsensorientierte Auseinandersetzungen sein werden. Ziel ist, mehr Transparenz und mehr Markt in das System zu bringen, weil wir darauf zu achten haben, dass die Beiträge bezahlbar bleiben.
Das ist eine sehr schwierige Aufgabe für dieses Jahr und vermutlich bis weit ins nächste Jahr. Aber ich bin ganz sicher, dass wir sie so leisten werden, wie wir es für den Bereich, über den hier im Schwerpunkt zu sprechen war, auch geleistet haben.
Bei all dem brauchen wir die aktive Unterstützung derjenigen, die in den Betrieben Verantwortung für viele Menschen tragen. Wir brauchen eure Unterstützung für eine sozial abgesicherte Zukunft in unserem Land und eure Unterstützung für die Aufrechterhaltung einer friedlichen Welt. Das ist mein Wunsch, das ist meine Bitte.