Redner(in): Christina Weiss
Datum: 19.03.2003

Untertitel: "Literatur kann die Welt zum Denken bringen": Kulturstaatsministerin Weiss betont in ihrer Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse die Bedeutung von Literatur für das Zusammenleben der Völker.
Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Frau Dementjewa, sehr geehrter Herr Musykantskij, sehr geehrter Herr Illtgen, lieber Wolfgang Tiefensee, liebe Frau Limbach, sehr geehrter Herr Schormann, meine Damen und Herren Minister und Staatssekretäre, sehr geehrte Abgeordnete und Exzellenzen, meine sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/94/473294/multi.htm


Kein Buch ", sagt Plinius," ist so schlecht, dass es nicht in irgendeiner Weise Nutzen stiften könnte."Diese universelle Akzeptanz des Buches als Kulturgut ist und war aber nicht immer selbstverständlich. Lange bevor man seine Gedanken zwischen zwei Deckeln festhalten und in Umlauf bringen konnte, verbannte Platon die Dichter aus seinem Staat. Dichterische Erzeugnisse waren aber nicht einfach nutzlos, sie waren für Platons Staat auch gefährlich, weil sie den Menschen von der Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen abbringen und ihm Trugbilder vor Augen führen. Im Sinne Karl Poppers ist Platon einer der Feinde der offenen Gesellschaft, hat er doch diejenige Marschrichtung wenigstens ideell vorgezeichnet, die so manchen Machthaber nach ihm zu tatsächlichem Handeln bewogen hat. Heute wie damals, muss man hinzufügen. Denn noch immer werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller verfolgt. Gilt unsere Solidarität den Opfern, ist es auch unsere Verpflichtung, die Stimmen derer hörbar zu machen, denen sie genommen wurden. Ein völkerverbindender Dialog kann deshalb den wunden Punkt kultureller Unfreiheit nicht außer acht lassen, wo immer er auch sichtbar wird. Angesichts der aktuellen Lage denke ich an die irakische Dichterin Amal Al-Jubouri, die seit einigen Jahren im deutschen Exil lebt und in ihrem Gedicht" Celans Schleier "davon spricht, dass die Angst ein" Meister in meinem Land " ist. Natürlich wird Literatur einen bevorstehenden Krieg nicht verhindern können, aber sie kann die Welt zum Denken bringen. Wer über das Zusammenleben der Völker spricht, muss von Kultur reden!

Es wäre fatal, zu glauben, die Kultur und insbesondere die Kunst seien etwas Zweitrangiges, etwas, dem man sich später widmen könnte, nachdem man die ökonomischen Probleme einer Nation in den Griff bekommen hat. Es wäre fatal, weil Demokratie eine kulturelle Errungenschaft ist und Kunst ihre Dynamik widerspiegelt, ihre Zukunft somit auch vom künstlerischen Antrieb geprägt wird. Denn Kunst ist eine Form des Widerstandes gegen die Unvollkommenheit in dieser Welt und zugleich der Versuch, alternative Realitäten zu kreieren, die uns die Hoffnung geben auf eine bessere Welt.

Die Vielfalt des kulturellen Angebots zu erhalten, ist vor diesem Hintergrund nicht allein eine kulturpolitische Aufgabe, derer sich der Staat anzunehmen hat, sondern letztendlich auch ein Postulat, das alle, die von Büchern leben, sozusagen der ökonomischen Vernunft unterstellen können. Denn Bücher, aber auch Zeitschriften und Zeitungen sind in erster Linie kulturelle Erzeugnisse. Sie sind deshalb dem Markt wie der Kultur gleichzeitig verpflichtet. Die Verwaltung des Profits, der mit Kulturgütern gemacht wird, widerspiegelt das kulturelle Selbstverständnis der Beteiligten. Es hängt vor allem davon ab, ob und wie viel in ein vielfältiges und qualitatives Profil re- investiert wird. Ökonomischer Erfolg mit Büchern, vor allem mit Literatur, ist längerfristig gesehen ja eher ein Glücksfall und weniger ein kalkulierbares Ereignis. Sicherheit bietet deshalb vor allem eine Besinnung auf den kulturellen Wert dieses Wirtschaftszweiges.

Zumal das Buch noch immer existiert, nachdem es schon so oft totgesagt wurde. Es ist unberechtigt, den Medienwandel als eine Form des Fortschritts anzusehen, oder ein neues Medium als das bessere Mittel, um denselben Zweck zu erfüllen, den alle Medien verfolgen. Das Buch, der Film und das Internet in der Reihenfolge ihrer Erscheinung sind spezifische kulturelle Werkzeuge mit jeweils eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Oder mit Borges ausgedrückt ist das Buch "unter den verschiedenen Werkzeugen des Menschen" etwas anderes: "Es ist eine Erweiterung des Gedächtnisses und der Phantasie." Der Leser, der Kinogänger und der Internetbenutzer vertrauen auf verschiedene Werkzeuge, die ihnen eine jeweils andere Erfahrungswelt eröffnen. Die Vorliebe jedoch für eines dieser Werkzeuge hängt mehr von den Referenzen eines Mediums ab als von ihren Differenzen. Soweit diese Überlegungen zutreffen, scheint es mehr als zweifelhaft, an der Konkurrenz der Medien festzuhalten oder, wie das in Bezug auf das Fernsehen immer wieder geschieht, ein Medium gar zu verurteilen. Wer keine Bücher liest, wird im Grunde nicht von der Mattscheibe davon abgehalten, sondern in erster Linie von einem Mangel an Sensibilität für das geschriebene Wort.

Um wie viel ärmer, meine Damen und Herren, würde diese Welt sein, wäre der Buchstabe bloße Information, der Film nur das Bild dazu und die Musik nur ihr Takt. Kunstwerke, Filme, Romane, Essays, Theaterstücke und Gedichte sind dagegen nicht nur Bereicherungen, sie sind Reichtümer, mit denen man ja bekanntlich besser haushalten kann. Wenn der russische Lyriker und Nobelpreisträger Joseph Brodsky Zeit seines Lebens die Überzeugung vertrat, die Literatur sei die Essenz der Kultur, könnte man ihm auf den ersten Blick eine elitäre Sichtweise unterstellen. Vielleicht tun wir Brodsky damit aber unrecht. Sprechen wir hier vom Buch, müssen wir ja auch von der Sprache sprechen. Und welches Vermögen, wenn nicht das Sprachvermögen, könnte einen demokratischeren Anspruch stellen. Unter normalen Umständen hat jeder das Talent zur Sprache, insofern er sie erlernen kann. Ist es ein Gebot, unsere Talente zu nutzen, müssten wir uns auch darauf verständigen können, unsere Sprache vervollkommnen zu wollen. Und welches andere Mittel dazu als die Literatur könnten wir dabei im Sinn haben? In dieser Hinsicht ist die Literatur weniger unsere genetische Bestimmung, wie Brodsky weiter ausführte, als vielmehr eine kulturelle oder, zugespitzt gesagt, eine allzumenschliche Notwendigkeit.

Nicht jeder ist, wohlverstanden, ein Schriftsteller oder sollte einer werden. Es genügt zu lesen und lesen zu lassen. Denn lesen ist Teilhabe am Schaffen. Ossip Mandelstam, auch ein Russe, sagte einmal: "Man müsse immer reisen nicht nur nach Armenien oder Tadschikistan." Obwohl Mandelstam diese Motto seiner Reise nach Armenien vorangestellt hat, ist darin auch die klassische Reise im Kopf enthalten, schlagen wir sein beziehungsweise überhaupt Bücher auf. Müssten wir dann Mandelstams permanenten Aufbruch, drastisch gefragt, nicht auch als Aufforderung verstehen, immer zu lesen, zumindest dann, können wir es einrichten, dann können wir über unsere Freizeit selbst bestimmen? Umberto Eco äußerte jedoch die Befürchtung, der Grossteil der Menschen bliebe unerreichbar für das Buch, und es sei besser, überhaupt etwas werde gelesen, und seien es die Schlagzeilen oder die Anleitungen technischer Geräte. Aber warum sollte dieses scheinbar verlorene Publikum zur Literatur greifen?

In gewisser Weise, um Joseph Beuys zu umschreiben, sind wir alle Kulturschaffende. Durch unsere Überzeugungen, die wir tagtäglich zum Ausdruck bringen, transportieren wir kulturelle Inhalte und nehmen auf andere Einfluss: Dadurch schaffen wir Kultur. Zu einem überwiegenden Teil tun wir das mittels Sprache. Die einfachste Art, um als Kulturschaffende im angesprochenen Sinne erfolgreich zu sein, das heißt: die Welt zu verbessern, ist, sich von der Literatur das entsprechende Rüstzeug zu holen. Da es kaum einen gemeinschaftlicheren Nenner als die Überzeugung gibt, die Welt sei unvollkommen und wir müssten nach Verbesserungen suchen, ist die Literatur nicht nur ein sprachliches, sondern auch ein zutiefst demokratisches Werkzeug. In der Literatur liegt unsere kulturelle Intelligenz und das Lesen fördert sie.

Nicht für jeden Menschen, meine Damen und Herren, ist die Konfrontation mit Literatur aber eine lustvolle Erfahrung. Nicht für jeden Menschen ist ein Buch eine Form der Glücks. Die Literatur macht vielen Menschen unterschwellig Angst, sie fühlen sich angesichts des Verstehen-sollens minderwertig. Zurückweisung und Ablehnung treten an die Stelle der Freude.

Ein auf das Verstehen reduziertes Literaturverständnis widerspricht aber nicht nur Horaz? Überzeugung vom Unterhaltungswert der Literatur, es widerspricht auch unserer sinnlich-geistigen Doppelbedürftigkeit, kurz: unserem Allzumenschlichen. Darüber hinaus ist das Verstehen das individuelle Produkt jedes einzelnen Lesers, mag seine Relevanz noch so gering sein. Denn wir alle haben Sensibilitätsgrenzen, auch intellektuelle. Die geographische Distanz zwischen Menschen aufzuheben, wäre hier ein sich aufdrängender Schritt, um die von Vorbehalten und auch Vorurteilen geprägte Distanz zwischen Büchern und Menschen zu verringern. Die Leipziger Buchmesse und das Literaturfestival "Leipzig liest" sind diesen Schritt schon in der Vergangenheit gegangen, ein quantitativer Schritt, der zu einer qualitativen Nähe von Menschen und Büchern geführt und wie der Erfolg gezeigt hat, da bin ich mir sicher, auch wieder führen wird.

Nicht zuletzt ist die Annäherung von Menschen ist auch Teil des Entwicklungsprozesses der Europäischen Union. Sie ist kein fertiges Gebilde. Sie ist unterwegs und wird es auch nach der für 2004 geplanten Ost-Erweiterung sein. Bei diesem Prozess ist das Europäische als Attribut der Union Zukunftsperspektive und Grundlage zugleich. Neben seiner ökonomischen und politischen Bestimmung hat das Europäische seine kulturelle Basis in einem historisch gewachsenen wertorientierten Selbstverständnis, das sich nicht zuletzt dem geschriebenen Wort verdankt. Zukunftsperspektive wie Grundlage des Europäischen bedingen einander. Angesichts neuer Beitrittskandidaten wie der Türkei etwa, aber auch außenstehender Länder, ist das europäische Selbstverständnis seinerseits als Prozess aufzufassen - nicht zuletzt hier im "Leipziger Europa Forum", das sich den kulturellen Fragen der EU-Osterweiterung widmet, vor allem dem Verhältnis der Europäischen Union zu Russland.

Die Frage, was das Europäische ist oder sein kann, darf dabei weder in eine kulturelle Überheblichkeit münden, noch sich dem historischen Erbe verschließen. Vielmehr gilt es, das Europäische als Folge einer Auseinandersetzung mit der Geschichte zu begreifen. Diesen kulturkritischen Prozess aufrechtzuerhalten, bedeutet gleichzeitig den europäischen Einigungsprozeß zu fördern. Mandelstams Diktum,"man müsse immer reisen", verstanden als beständige kulturelle Auseinandersetzung, hat für die Zukunft des europäischen Gedankens ebenso Relevanz wie das Buch und das Lesen selbst.

Ich bin überzeugt, die diesjährige Buchmesse, meine Damen und Herren, wird uns den Umgang mit dem Werkzeug Buch erleichtern und sich gar für einige Besucherinnen und Besucher als eine Form des Glücks erweisen. In diesem Sinne eröffne ich die Leipziger Buchmesse 2003, eine Messe, die leider unter dem Eindruck der dramatischen Weltlage stattfinden muss.