Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 19.03.2003

Untertitel: Am 19. März hat in New York um 10 Uhr Ortzeit (16 Uhr MEZ) eine weitere Sitzung des UN-Sicherheitsrats zum Irak-Konflikt stattgefunden. Bundesaußenminister Joschka Fischer nahm an der Sitzung teil. Fischer flog von den Beratungen der EU-Außenminister in Brüssel am Vorabend direkt Richtung New York. Mit der Teilnahme sollte auch gezeigt werden, dass die Vereinten Nationen weiter im Zentrum der Bemühungen um eine Lösung des Irak-Konflikts stehen. (Die Rede des Ministers, auch in englisch)
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/84/473384/multi.htm


Herr Präsident, ich danke der Präsidentschaft des Sicherheitsrats für ihre gute Arbeit in diesen schwierigen Tagen.

Der Sicherheitsrat versammelt sich heute in einer dramatischen Situation. In diesen Stunden steht die Welt unmittelbar vor Beginn eines Krieges im Irak. In dieser Situation kann der Sicherheitsrat nicht schweigen. Mehr denn je gilt es heute, seine Funktion zu wahren und seine Relevanz zu erhalten. Um dies zu unterstreichen, sind wir heute erneut in New York zusammengekommen.

Die Entwicklungen der letzten Stunden haben die internationale Lage grundlegend verändert und die Arbeit der Vereinten Nationen vor Ort zum Erliegen gebracht. Diese Entwicklung gibt Anlass zu tiefster Sorge.

Dennoch will ich Dr. Blix für seine Erläuterungen zum Arbeitsprogramm danken. Deutschland unterstützt seinen Ansatz auch unter den jetzigen Umständen uneingeschränkt. Das Arbeitsprogramm mit seiner realistischen Beschreibung der noch offenen Abrüstungsfragen liegt jetzt vor uns. Es ist eine klare und überzeugende Handlungsanweisung zur friedlichen Abrüstung des Iraks binnen kurzer Frist. Es ist mir wichtig, diese Tatsache gerade am heutigen Tag zu unterstreichen. Entlang dieser Vorgaben mit engen Fristen ist die friedliche Abrüstung des Iraks möglich. Die friedlichen Mittel sind also nicht erschöpft. Auch und gerade deshalb lehnt Deutschland den drohenden Krieg entschieden ab.

Wir bedauern zutiefst, dass unsere großen Anstrengungen, den Irak nach SR-Resolution 1441 mit friedlichen Mitteln zu entwaffnen, nicht zum Erfolg zu führen scheinen. Zusammen mit Frankreich und Russland haben wir in den letzten Wochen immer wieder Vorschläge für ein effizienteres Inspektionsregime mit klaren, terminierten Abrüstungsschritten gemacht - zuletzt noch am 15. März. Auch andere Mitglieder haben dazu konstruktive Vorschläge bis in die letzten Stunden der Verhandlungen hinein vorgelegt. Wir sind ihnen für ihre Bemühungen dankbar.

In den vergangenen Tagen sind wir unserem gemeinsamen Ziel, der Gefahr irakischer Massenvernichtungswaffen durch vollständige und umfassende Rüstungskrontrolle wirksam zu begegnen, deutlich näher gekommen. Gerade in jüngster Zeit gab es substantielle Fortschritte in der Abrüstung. Die Verschrottung der Al-Samoud-2 -Raketen machte Fortschritte, mittlerweile sind 70 davon zerstört. Und das Regime in Bagdad beginnt unter Druck, die offenen Fragen zu VX und Anthrax aufzuklären.

Die Kooperationsbereitschaft des Irak war nicht zufrieden stellend, sie verlief zögerlich und langsam, darüber besteht im Rat Einigkeit. Aber kann dies allen Ernstes ein Grund für einen Krieg und all seine schrecklichen Folgen sein?

Es besteht kein Zweifel daran, dass Bagdad gerade in letzter Zeit stärker zu kooperieren begann. Die irakischen Informationen an UNMOVIC und IAEO sind Schritte in die richtige Richtung. Die Vorgaben der SR-Resolutionen werden mehr und mehr erfüllt. Warum aber sollte man jetzt - gerade jetzt - den Plan aufgeben, den Irak mit friedlichen Mitteln zu entwaffnen? Die Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrats ist der Meinung, dass es keinen Grund gibt, den Abrüstungsprozess unter der Kontrolle der Vereinten Nationen jetzt abzubrechen.

Lassen Sie mich vor diesem Hintergrund drei Punkte klarstellen:

Der Sicherheitsrat hat nicht versagt. Wir müssen dieser Legende entgegen wirken. Der Rat hat die Instrumente bereitgestellt, um Irak friedlich abzurüsten. Für das, was außerhalb der VN geschieht, ist er nicht verantwortlich. Wür müssen klar feststellen: Unter den gegebenen Umständen hat die Politik der Militärintervention keine Glaubwürdigkeit. Sie wird nicht von unseren Bevölkerungen unterstützt. Wenig hätte es bedurft, um die Geschlossenheit des Sicherheitsrates herzustellen. Für einen Regimewechsel mit militärischen Mitteln gibt es in der Charta der VN keine Grundlage. Wir müssen das Inspektionssystem erhalten und das Arbeitsprogramm indossieren, denn wir werden beides auch nach Beendigung von militärischen Kampfhandlungen brauchen. Die Resolutionen 1284 und 1441 sind nicht aufgehoben, auch wenn es einiger Anpassungen bedarf. Herr Präsident, Deutschland ist überzeugt, dass die Vereinten Nationen und der Sicherheitsrat weiterhin die zentrale Rolle im Irakkonflikt spielen müssen. Dies ist für die Ordnung in der Welt von entscheidender Bedeutung und muss auch für die Zukunft gelten. Die VN sind die wichtigste Institution für den Erhalt von Frieden und Stabilität und für den friedlichen Interessensausgleich in der Welt von heute und morgen. Für ihre friedensbewahrende Funktion gibt es keinen Ersatz. Der Sicherheitsrat trägt die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Die weltweit von Millionen von Menschen verfolgten Verhandlungen über die Irakkrise der vergangenen Wochen und Monate haben gezeigt, wie relevant, wie unverzichtbar, wie alternativlos die friedensstiftende Rolle des Sicherheitsrats ist.

Wir brauchen weiterhin ein wirksames internationales Nichtverbreitungs- und Abrüstungsregime, das die Gefahr der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen beseitigt und das hierbei entwickelte Instrumentarium nutzt, um die Welt sicherer zu machen. Die Vereinten Nationen sind der einzig richtige Rahmen dafür. Abrüstungskriege können doch allen Ernstes nicht unsere Perspektive sein!

Die humanitären Folgen eines Krieges im Irak erfüllen uns mit tiefer Sorge. Es geht jetzt darum, alles nur mögliche zu tun, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Der VN-Generalsekretär wird hierzu Vorschläge vorlegen. Der Sicherheitsrat hat gestern seine Bereitschaft erklärt, diese Vorschläge aufzugreifen. Mit dem Oil-for-food-Programm haben die Vereinten Nationen 60 % der irakischen Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen versorgt. Diese Erfahrungen müssen auch künftig genutzt werden.

Herr Präsident, eine sehr große Mehrheit der Menschen in Deutschland und in Europa ist voll tiefer Sorge über den drohenden Krieg im der Irak. Unser Kontinent hat die Schrecken des Krieges nur allzu oft erleben müssen. Wer unsere europäische Geschichte kennt, der weiß, dass wir nicht auf der Venus leben, sondern die Überlebenden des Mars sind. Krieg ist furchtbar, er ist eine große Tragödie für die Betroffenen und für uns alle und darf wirklich nur letztes Mittel sein, wenn alle friedlichen Alternativen erschöpft sind.

Und dennoch hat Deutschland zweimal in den letzten Jahren die Notwendigkeit des Krieges akzeptiert, weil alle friedlichen Alternativen erschöpft waren: Deutschland hat an der Seite seiner Verbündeten gekämpft, als es im Kosovo darum ging, die massenhafte Vertreibung der albanischen Bevölkerung und einen drohenden Völkermord zu verhindern. Und als es nach den schrecklichen und verbrecherischen Anschlägen auf die Regierung und das Vold der Vereinigten Staaten in Afghanistan darum ging, den Kampf gegen den menschenverachtenden und gefährlichen Terrorismus der Taliban und von Al Qaida zu führen. Wir werden zu unserer Verpflichtung in diesem Kampf gegen den Terror stehen.

Jetzt aber sind wir in Deutschland nicht davon überzeugt, dass es zu militärischer Gewalt als letztem Mittel keine Alternative mehr gibt. Wir sind ganz im Gegenteil der Auffassung, dass die Abrüstung des Irak mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden kann. Daher werden wir jede Chance zum Frieden nutzen, und sei sie auch noch so klein.

Ich danke Ihnen.