Redner(in): Christina Weiss
Datum: 02.05.2003

Untertitel: "Ohne tiefgreifende Strukturreformen sind unsere Institutionen nicht überlebensfähig": Kulturstaatsministerin Christina Weiss appelliert in ihrer Eröffnungsrede zum 40. Theatertreffen an den "Mut, Neues zu wagen". Das Theatertreffen, bei dem neben einem Rahmenprogramm und Podiumsdikussionen zehn ausgewählte Aufführungen nach Berlin eingeladen werden, wurde 1963 im Rahmen der Berliner Festwochen gegründet und ab 1964 als eigenständiges Festival weitergeführt. Es findet vom vom 2. bis 18. Mai 2003 zum 40. Mal in Berlin statt.
Anrede: Lieber Herr Sartorius, verehrter Herr Rischbieter, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/30/482530/multi.htm


wie Sie wissen, sollte man mit Glückwünschen zu vierzigsten Jahrestagen gerade in dieser Stadt besonders vorsichtig sein. Wer blind den Jublern vertraut, könnte am Ende die Welt nicht mehr verstehen. Man schrieb das Jahr 1961, als die später Machtlosen in Ost-Berlin schon um ihre Herrschaft zitterten und damit begannen, ein ganzes Volk einzumauern. Die westliche Halbstadt geriet in Gefahr und höchste Not, zwar frei, aber doch isoliert zu sein. Drei Jahre nach dem Mauerbau versorgte eine Luftbrücke des Schauspiels die Köpfe der amputierten Stadt. Das Berliner Theatertreffen erblickte das Licht der Welt und hatte in dem legendären Berliner Kultursenator Tiburtius einen wachen wie entschlossenen Geburtshelfer. Zwar vermisste man im Sich-messen der deutschen, österreichischen und schweizerischen Bühnen den besonderen Ton der ostdeutschen Theater, doch West-Berlin wurde zu einem Forum für die Diskussion über Inhalte und Formen, Tendenzen und Entwicklungen, Experimente und Beharrungen. Berlin profitierte von dieser Brücke, Günter Rühle geht noch weiter. Er schreibt, dass Regisseure wie Bondy, Grüber, Stein, Zadek oder Schleef in Berlin ihre Krönung erfahren hätten. Das gilt auch für Frank Castorf, den wichtigsten Regisseur der neunziger Jahre. Das gilt für Pollesch und Pucher heute. Eine Einladung zum Theatertreffen war und ist für jede Bühne ein Glanzpunkt, sie entscheidet nicht selten über den Erfolg eines Intendanten. Es soll sogar Häuser geben, die ihre Einladungen rahmen lassen. Das Theatertreffen, das übrigens noch als Wettbewerb gestartet war, avancierte zu einem aufregender Platz hysterischer Kräche, wutschnaubender Proteste und seeliger Verzückung. Gerade weil es diese Spannung ausgehalten hat, weil die Bühnenarbeit davon ungeheuer profitierte, erlangte das Theatertreffen seine Bedeutung und unterschied sich eben dadurch von den landläufigen Festivals. Daran soll erinnert werden, wenn wir heute die vierzigste Auflage feiern. Wir können stolz sein auf diese Messe, bei der sich Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner und Stückeschreiber begegnen, Berlin mag viel verloren haben, aber die Stadt bleibt ein magischer Anziehungspunkt für das deutschsprachige Schauspiel.

Gerade weil das Theatertreffen immer auch mit jeder Menge Theaterdonner im Vorfeld begleitet war, scheint es mir doch erstaunlich, dass die Nominierungen für dieses Jahr erstaunlich geräuschlos zur Kenntnis genommen wurden. Sollte es das geben? Sollte die Jury diesmal wirklich eine Auswahl getroffen haben, mit der alle leben können? Ist der aktuelle Jahrgang also eine solide Mischung aus Alt und Jung, aus illusionistisch und dekonstruierend, aus Klassik und Projekt? Ist es zum Jubiläum gar gelungen, den Konsens zu finden? Die Jury verneint eine solche Absicht ganz vehement: "Gestellt war die Frage nach einer angemessenen reichen und schlüssigen Reflexion veränderter Menschenbilder und Wahrnehmungen in Sprache, Schönheit und Konflikten." So einfach ist das. Den Rest erledigte das achte, das heimliche Jurymitglied: die Deutsche Bahn. Denn nur dort, wo Züge halten, wo Kritiker und Juroren aussteigen können, wird Theater wahrgenommen. Insofern kommt der Deutschen Bahn eine immense Verantwortung für das Überleben des deutschen Stadttheatersystems zu, das wir trotz aller Verwerfungen verteidigen. Aber das Wohl und Wehe des Theaters hängt nicht allein von sieben oder acht Köpfen ab, im Zweifel können sie auch keine Bühne retten, die von der Ignoranz mancher Kommunalpolitiker, der Hartleibigkeit mancher Gewerkschaftsfunktionäre oder dem Reformunwillen mancher Geschäftsführer zermürbt wurde. Wir leben in einer Zeit, in der Kunst allgemein unter ungeheurem Legitimationsdruck steht, in der der Ehrgeiz, künstlerisch anspruchsvolles Stadttheater zu produzieren, nicht mehr selbstverständlich ist. Alles steht auf dem Prüfstand. Das Theater muss sich neu beweisen. Ich habe in letzter Zeit oft davon gesprochen, dass wir vor einem gewaltigen Umbau unserer Kulturgesellschaft stehen. An dieser Stelle möchte ich dies ausdrücklich wiederholen. Gerade auch deshalb, weil zum ersten Theatertreffen 1964 zwei Bühnen eingeladen waren, die inzwischen von der Bildfläche verschwunden sind. Ich spreche vom Schiller- und vom Schlossparktheater, die damals mit Peter Weiss' "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats" in der Inszenierung von Konrad Swinarski und "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" in der Regie von Boleslaw Barlog gastierten. Zehn Jahre nach der Schließung, die vielen als Fanal vorkam, sind unsere Theater keineswegs sicherer geworden. Ganz im Gegenteil. Die Finanzkrise in den Ländern und Gemeinden geht mit einer Krise unseres gewohnten Kulturbetriebes einher. Ohne tiefgreifende Strukturreformen sind unsere Institutionen, unsere Theater und Museen nicht überlebensfähig. Wir brauchen also auch hier wie überall Mut, Mut und nochmals Mut, Neues zu wagen und uns von alten Sicherheiten zu verabschieden. Der Bund kann diesen gewaltigen Umbau nur anregen, ihn moderieren und dem deutschen Stadttheater Kränze winden. Wir haben uns entschlossen, einen wirkungsvollen Deutschen Theaterpreis auszuloben: für eine signalhafte Inszenierung, eine mutige Intendanz, für Neues, das in der Krise entsteht. Dotiert wird der Preis mit einer Inszenierungshilfe von bis zu 250.000 Euro. Ich bin mir sicher, dass die sattsam beschriebene Krise, die Peter Stein schon 1988 als Mutter des Theaters beschrieben hat, für Nachwuchs sorgen wird. Und zwar auf der Bühne genauso wie in der Intendantenstube. Das Berliner Theatertreffen wird auch weiterhin das Podium für die dezentralen Metropolen des Schauspiels bilden. Wo, wenn nicht in Berlin und besonders bei diesem Ereignis, ist der abstrakte Begriff der Kulturnation plastischer geworden. Berlin und nur Berlin ist und bleibt der Sehnsuchtsort für das deutschsprachige Theater - genauso wie es Tschechows "Drei Schwestern" nach Moskau zieht! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.