Redner(in): Christina Weiss
Datum: 30.04.2003

Untertitel: "In der großen Kunst ist es wie in der großen Liebe: Sie macht sehend": Kulturstaatsministerin Weiss würdigt in ihrer Eröffnungsrede den innovativen Charakter der RuhrTriennale. Die RuhrTriennale ist ein Kunstfestival, das große Denkmäler des Industriezeitalters als künstlerische Spielstätten erschliesst. In diesem Jahr finden insgesamt 129 Veranstaltungen in 10 Städten statt.
Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Kollege Vesper, sehr geehrter Herr Stüber, verehrter Gérard Mortier, lieber Patrice Chereau, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/31/482131/multi.htm


Sie kennen alle das wunderbare Bonmot von Oscar Wilde, dass nicht die Kunst die Natur, sondern dass vielmehr die Natur die Kunst nachahme. Blicken wir uns um in diesem nicht zu unrecht Jahrhunderthalle genannten Baudenkmal! Bei ihren rund 150 Metern waagerechter Ausdehnung habe sicherlich nicht nur ich den Eindruck, in einer gewaltigen Theaterdekoration zu stehen. Im Laufe der Entwicklungsgeschichte von Industrie und Technik erscheinen uns die alten, einst hochmodernen Produktionsstätten inzwischen wie die Kulissen zu abgearbeiteten Zukunftsvisionen. Obwohl sie in ihrer ursprünglichen Funktion nicht länger gebraucht werden, haben sie sich ihre Würde und Schönheit bewahrt. Sie können weiter verwendet werden, und sie sollen es auch.

Ich bin sehr froh, daß es der RuhrTriennale mit ihrem Intendanten, Dr. Gerard Mortier, gelungen ist, die stillgelegten Industriemonumente des Ruhrgebiets mit frischem Leben zu füllen und ihnen in der Welt der schönen Künste eine neue Aufgabe anzuvertrauen. Wenn wir heute die bis Mitte Oktober reichende Hauptsaison dieses zweiten Jahres der RuhrTriennale mit 129 Veranstaltungen in zehn Städten eröffnen, ist das Festival bereits als potenter Koproduzent aktiv gewesen und hat die Auftakt-Inszenierung nicht bloß eingeladen, sondern maßgeblich gefördert.

Bochum ist nicht Paris, aber welche Stadt - ausser Paris eben - könnte das schon von sich behaupten? Bochum jedoch zeigt an diesem und an acht folgenden Abenden ein Stück Paris, das wir seit einem Vierteljahrhundert Theatergeschichte mit dem außergewöhnlichen Schauspiel- , Opern- und Filmregisseur Patrice Chéreau verbinden. Ich weiß nicht, wer von Ihnen allen 1976 in Bayreuth war. Die meisten werden sich allerdings noch gut erinnern, was für ein Medienecho und was für Publikumstumulte es damals gab, wie viel extrem geäußertes Pro und Contra. Denn ein Team vorwiegend junger Franzosen, Patrice Chéreau, der Bühnenbildner Richard Peduzzi, der Kostümbildner Jacques Schmidt und natürlich der Dirigent Pierre Boulez führten den Deutschen leicht und gescheit vor, daß der vierteilige "Ring des Nibelungen" ein hochaktuelles Stück ist. Sie rückten das Werk aus der Sagenferne in die Zeit seiner Entstehung und plötzlich sah es auf der erhabenen Bühne des Festspielhauses ein bißchen aus wie jetzt hier.

Erlauben Sie mir, dass ich ein klein wenig Theaterhistorie betreibe, schließlich sind wir ja in der Jahrhunderthalle. Was die besagte Viererbande einst auf die Bühne und aus dem Orchestergraben zauberte, ging nun einmal als Jahrhundertring in die Kulturgeschichte ein. Der Bühnenbildner Richard Peduzzi hatte ein unheimlich schäumendes Stauwehr entworfen, mit eiserner Walze und Schleusentoren. Später kam eine Art enormer Fabrikhalle dazu, mit einem überdimensionalen Pendel und einem riesigen Schwungrad wie für eine Watt'sche Dampfmaschine. Drumherum arrangierte er neureiche Gründerzeitarchitektur und überdies ein imaginäres Bergwerk, für das sich Peduzzi, wie er sagte, auf Stiche von Industrieanlagen des 19. Jahrhunderts bezogen hatte. Als hätte er geahnt, dass er eines Tages mit seinen Bühnenbildern im Herzen des Ruhrgebiets gastieren würde, und als hätte ihn diese Aussicht ungemein inspiriert und beflügelt. Bochum und Bayreuth verbindet offensichtlich doch mehr als der gleiche Anfangsbuchstabe, die RuhrTriennale macht's möglich.

In Peduzzis vielschichtigem, zitatmächtigem Tableau des Frühkapitalismus tat Patrice Chéreau sodann mit den jugendlichen Helden und alten Recken das, wofür er seit seinen ersten Regie-Schritten Mitte der sechziger Jahre berühmt war: Er wischte ihnen behutsam die Patina ab, klopfte ihnen vorsichtig auf den Rücken, lächelte sie verständnisvoll an, horchte auf ihren Herzschlag - und siehe da: Plötzlich entpuppten sie sich als unsere Zeitgenossen. Es tummelten sich vitale Erdenbürger aus dem Hier und Heute, die geliebt werden wollen, unter Ängsten leiden, sich nach Freiheit sehnen, vor Ohnmacht zum Himmel schreien und still werden, wenn sie merken, dass der leer ist. Und damit wir besser studieren können, was den Menschen zum Menschen macht und wie berührend das ausschauen kann, wenn Künstler wie Shakespeare oder Marivaux oder Tschechow oder Mozart oder eben Wagner den Existenzkampf schildern, holt Patrice Chéreau die Figuren gern aus den Verstrickungen der privaten Grabenkriege heraus. Er zeigt sie uns im Großen und Ganzen, allein auf weiter Flur, nackt, ungeschminkt, pur. Sie sind Leinwände, auf die sich das Leben malt. So werden sie Gezeichnete, in denen wir lesen können. Auch "Phèdre et Hippolyte" von Jean Racine ist solch eine Tragödie, die kein Kleingedrucktes kennt. 1677 in Paris uraufgeführt, zwingt sie die unerhörten Leidenschaften, also alles, was sich nicht gehört, auf raffinierteste Weise in die dialektische Klammer des Alexandriners. Eine Ehefrau kann ihre Gefühle nicht verbergen und schert sich nicht um den common sense. Ein Ehemann hält es zu Hause nicht aus und verliert sich in Kriegswirren. Ein junger Mann sucht einen Vater und findet nur die Abwesenheit von Verantwortung. Das Stück ist über dreihundert Jahre alt und wird uns in der Originalsprache vorgespielt. Aber selbst wer kein Französisch spricht, wer nie eine Inszenierung von Patrice Chéreau miterlebt hat, wer nie die archaische Wucht der Räume von Richard Peduzzi verspürte, wird alles verstehen. Denn in der großen Kunst ist es wie in der großen Liebe: Sie macht sehend.

Ich freue mich auf einen besonderen Abend.