Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 05.05.2003

Untertitel: Am 5. Mai 2003 in Karlsruhe sagte Bundeskanzler Schröder: "Wir müssen die Systeme und Strukturen unserer sozialen Sicherung und der Arbeitsmärkte den radikalen und rapiden Veränderungen an der ökonomischen Basis anpassen... Und wenn wir später einmal auf diese Zeit am Anfang des 21. Jahrhunderts zurückblicken, dann wollen wir sagen können: Wir haben damals die Zeichen richtig erkannt und den Mut zur Veränderung gehabt."
Anrede: Herr Professor Würth, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/51/482851/multi.htm


Magnifizenz,

Als ich gebeten wurde, hier an Ihrem Institut zu sprechen, habe ich spontan zugesagt. Und zwar nicht nur wegen der liebenswürdigen Einladung durch Professor Würth. Sondern auch aus einer gewissen Neugier.

Ein Institut für Existenzgründer - noch vor fünf Jahren gab es so etwas in Deutschland gar nicht. Heute sind an unseren Hochschulen fast fünfzig solcher Lehrstühle entstanden. Ich bin froh, dass die Bundesregierung das maßgeblich fördern und unterstützen konnte. Denn Mut und Kreativität, Eigeninitiative und die Lust, eine gute Zukunft zu schaffen - also all das, was es für eine Existenzgründung braucht - , sind auch die Eigenschaften, auf die unser Land insgesamt so angewiesen ist. Wenn wir Reichtum, Freiheit und die Substanz von Sozialstaatlichkeit in unserem Land erhalten wollen, dann brauchen wir den Mut zur Veränderung.

Das bedeutet, und das ist der Weg, den ich in der "Agenda 2010" beschrieben habe:

Wir müssen die Systeme und Strukturen unserer sozialen Sicherung und der Arbeitsmärkte den radikalen und rapiden Veränderungen an der ökonomischen Basis anpassen. Das wird uns viel neues Denken und auch einige Einschnitte abverlangen. Aber wir sollten diese Veränderungen als Chance begreifen, als Herausforderung an unsere Energie und Kreativität. Und wenn wir später einmal auf diese Zeit am Anfang des 21. Jahrhunderts zurückblicken, dann wollen wir sagen können: Wir haben damals die Zeichen richtig erkannt und den Mut zur Veränderung gehabt.

Meine Damen und Herren,

die "Agenda 2010" ist ein Zukunftsprogramm. Es geht dabei eben nicht nur um den Umbau der Sozialsysteme. Der ist dringend notwendig - aber wir dürfen dabei nicht stehen bleiben. Die Agenda 2010 ist auch ein Bekenntnis zu Innovation, Bildung und Forschung. Eine florierende Wirtschaft lebt von innovativen Produkten und Dienstleistungen. Sie lebt von Existenzgründern, die vordenken und mit neuen Produkten neue Märkte erschließen. Sie lebt von neuen, auch unkonventionellen, Ideen, von Wagemut und harter Arbeit. Wir stehen in Deutschland in einer großen Tradition von Existenzgründern. Auch Gottlieb Daimler oder Werner von Siemens haben einmal als Pioniere ihrer Branchen angefangen. Unser Land ist stark geworden durch hervorragend qualifizierte, motivierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die gemeinsam mit tüchtigen, mutigen Unternehmern etwas aufgebaut haben. So ist Deutschland mit seinen Erfindungen und Produkten an die Weltspitze gelangt. Wir müssen jetzt alles tun, um nicht ins Mittelfeld abzurutschen.

Deshalb habe ich ein Programm vorgelegt, die Agenda 2010, mit der wir bis 2010 wieder einen Spitzenplatz erreichen können. Unser Modell hat sich bewährt: Es ist das Zusammenspiel aus Könnerschaft und Teilhabe, aus sozialer Sicherheit und individueller Flexibilität. Das wollen wir erhalten und ausbauen. Deshalb müssen wir die Soziale Marktwirtschaft modernisieren. Dabei gilt es, das Soziale zu erhalten - aber die Freiheit und Eigenverantwortung weiter zu stärken. Deshalb finde ich es so bedeutsam, wenn junge Menschen bereit sind, Risiken auf sich zu nehmen, eine eigene Existenz oder ein Unternehmen zu gründen.

Die rot-grüne Bundesregierung hat von Beginn ihrer Amtsübernahme an vieles getan, um die Bedingungen für Existenzgründungen zu verbessern. Lassen Sie mich als Beispiel nur die Biotechnologie nennen: In den Jahren 2001 bis 2005 stellen wir insgesamt 970 Millionen Euro für die Förderung der Biotechnologie zur Verfügung.

Damit haben wir die Mittel für die Projektförderung in nur fünf Jahren verdoppelt. Allein für die Genomforschung stehen Fördermittel in Höhe von 430 Millionen Euro zur Verfügung. Nirgendwo in Europa sind in den letzten Jahren mehr Biotechnologie-Firmen gegründet worden als in Deutschland. Die Zahl der Beschäftigten im Biotechnologie-Sektor ist in nur einem Jahr um 35 Prozent gewachsen. Kurz- und mittelfristig - das sagen uns die Experten - werden in diesem Bereich mehr als 300.000 Jobs in kleinen und mittleren Unternehmen entstehen: In der pharmazeutischen und chemischen Industrie, in der Landwirtschaft, in der Lebensmittelverarbeitung und im Umweltbereich.

Das gleiche gilt übrigens für den IT-Sektor. Auch dank des Engagements der Bundesregierung ist Deutschland heute einer der modernsten Orte in der Informationstechnik weltweit. Wir haben die größte IT-Forschungseinrichtung mit mehr als 2.500 Mitarbeitern und einem jährlichen Finanzvolumen von mehr als 200 Millionen Euro. Um diese Führungsposition noch weiter auszubauen, haben wir im letzten Jahr das Programm "IT-Forschung 2006" aufgelegt: Damit stellen wir insgesamt 3 Milliarden Euro für die Forschung im Bereich Nanoelektronik, Software, Kommunikationstechnik und Internet zur Verfügung.

Meine Damen und Herren,

der zweite Schlüssel zum Erfolg ist Bildung. Hier kommt es auf drei Punkte entscheidend an:

Erstens: Wir brauchen Chancengleichheit beim Zugang zu den Bildungseinrichtungen und bei der Förderung. Denn wir können es uns nicht leisten, auch nur auf eine einzige Begabung zu verzichten.

Zweitens: Wir müssen unsere jungen Menschen so ausbilden, dass sie international konkurrenzfähig sind - denn auch unsere Märkte sind heute international.

Drittens: Wir müssen ihnen konkrete Hilfestellung bei der Existenzgründung geben - und das schon in der Ausbildung.

In puncto Chancengleichheit haben wir viel erreicht. Für die Generation unserer Eltern und Großeltern war der Weg zum Studium auch bei großer Begabung keineswegs selbstverständlich. Für mich selbst war es das übrigens auch nicht. Hier hat sich inzwischen vieles verbessert. Aber noch immer erreichen nicht alle die Ausbildung, die ihren Fähigkeiten entspricht.

Es ist mir daher sehr wichtig, dass wir mit dem neuen BAföG noch einmal Impulse gegeben haben. Ähnliches gilt für das neue Meister-BAföG. Wir bauen damit den freien Zugang zu Bildung immer weiter aus. In diesem Zusammenhang steht auch unser Programm zur Verbesserung der Ganztagsbetreuung in den Schulen. Es geht darum, mehr und besser zu fördern. Mehr Zeit zum Lernen und Lehren zu haben. Aber es geht nicht nur um die Rahmenbedingungen unserer Bildungsangebote. Es geht auch um die Qualität unserer Ausbildung. Deshalb brauchen wir nicht nur mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortung bei den Lernenden - sondern auch innerhalb unserer Bildungsinstitutionen. Mehr Eigenständigkeit, aber auch größere Bereitschaft, sich dem Wettbewerb zu stellen und Rechenschaft zu geben - darum geht es mir.

Meine Damen und Herren,

der zweite Punkt betrifft die Internationalität unserer Ausbildung. Viele von Ihnen werden bereits eine Zeit Ihres Studiums im Ausland verbracht haben. Die meisten werden ganz selbstverständlich in ihrer täglichen Arbeit mit Englisch als natürlicher Zweitsprache umgehen. Manche Bildungsexperten haben ja schon angeregt, Englisch eher als "Instrument" zu begreifen und selbstverständlich zu unterrichten - und nicht so sehr als "Fremdsprache". Was wir als Bundesregierung zur Internationalität und Weltoffenheit unserer Hochschulen beitragen können, das tun wir - nicht nur durch die Förderung von Austauschprogrammen und Kooperationen in aller Welt. Vor wenigen Wochen war ich an der Tongji-Universität in Shanghai - ein Drittel der Dozenten dort hatte in Deutschland studiert oder promoviert!

Wir haben auch bei uns viel erreicht:

Bachelor- und Masterstudiengänge; die Förderung innovativer Fachrichtungen; eine stärkere Betonung der Lehre und mehr Selbständigkeit für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Internationalität, Flexibilität, Vielsprachigkeit und Weltoffenheit - dieses große Potential müssen wir nutzen.

Schließlich der dritte, vielleicht entscheidende Punkt: Wir müssen Ihnen auf dem Weg zur Selbständigkeit und Existenzgründung die nötige Unterstützung geben. Auch auf dem Gebiet haben wir schon einiges angestoßen. Ich sagte es schon: vor fünf Jahren gab es in Deutschland keinen einzigen Existenzgründerlehrstuhl - heute sind es fast fünfzig! Mit Hilfe unseres Programms EXIST sind inzwischen 15 Existenzgründerregionen an Hochschulen entstanden - eine davon ist Karlsruhe. 90 Prozent der Gründungsvorhaben an Universitäten, die wir bisher gefördert haben, wurden weiterverfolgt, ausgebaut und fanden später eine eigene Finanzierung. Das ist ein großer Erfolg, der für dieses Programm spricht.

Gründer wollen sich auf das Wesentliche konzentrieren können. Auf die Umsetzung ihrer Ideen. Auf den Aufbau ihres Unternehmens. Was Gründer heute brauchen sind: Eine gute Infrastruktur. Gut ausgebildete Mitarbeiter. Und das nötige Startkapital.

Unsere Infrastruktur ist weiterhin eine der besten der Welt. Und auch beim Startkapital haben wir entscheidende Verbesserungen angestoßen, die nötig waren, weil nach dem Schock durch den Zusammenbruch des neuen Marktes neues Vertrauen geschaffen werden musste. Die Bundesregierung unterstützt inzwischen Existenzgründer über Ihre Förderbank, die Mittelstandsbank des Bundes. Wir stellen den Gründern Beteiligungskapital nach ihren individuellen Bedürfnissen und Voraussetzungen zur Verfügung. Oder zinsgünstiges langfristiges Fremdkapital. Wir leisten Hilfe bei der Übernahme eines Familienbetriebs oder der Übernahme eines Betriebs durch die leitenden Mitarbeiter. Aber auch die Kreditinstitute müssen sich wieder stärker bei der Unterstützung junger Existenzgründer engagieren.

Gründer brauchen Infrastruktur, Mitarbeiter und Startkapital. Was Sie ganz und gar nicht brauchen, sind unnötige und unüberwindliche bürokratische Hürden. Auch hier sind wir im Rahmen der Agenda 2010 tätig geworden: Mit dem "Small Business Act" vereinfachen wir das Steuerrecht. Wir senken die Steuerbelastung. Wir reduzieren die Buchführungspflichten und liberalisieren die Handwerksordnung. Der "Small Business Act" befreit junge Unternehmen von Beitragszahlungen an die Kammern und verbessert die private Altersvorsorge von Selbständigen. Darüber hinaus arbeiten wir an einem "Hightech Master Plan". Denn wer besonders intensiv in neue Technologien investiert, muss besonders gefördert werden. Wie das in Frankreich und Großbritannien geschieht, werden auch wir hier Hilfen bei der Finanzierung und Eigenkapitalbildung schaffen.

Aber so gut diese Programme auch sind: Ich allein kann keine High-Tech-Unternehmen gründen. Ich habe auch noch kein Patent angemeldet. Und ich nehme einmal an, dasselbe gilt für meine Minister und Staatssekretäre. Wir können nur Anstöße geben und für gute Startbedingungen sorgen. Die Möglichkeiten nutzen, ihre eigenen Ideen umsetzen - das müssen Sie selbst tun.

Liebe Existenzgründer von morgen,

wenn wir diesen Weg konsequent weitergehen, dann werden wir wirklich neue Chancen für Deutschland schaffen. Neue Verfahren und Anwendungen, neue Techniken und neue Industrien können das Leben und den Optimismus ganzer Generationen prägen. Wie es der erste Flug zum Mond getan hat. Oder der Aufbruch ins Computerzeitalter. Wir brauchen heute wieder einen solchen Schub an Zuversicht und Innovationsbegeisterung. Sie sind es, die dazu Entscheidendes beitragen können. Sie sind die Zukunft unseres Landes. Sie werden eher früher als später die Geschicke dieses Landes gestalten. Sie werden einst Unternehmen aufbauen, bahnbrechende Erfindungen machen oder als Professoren die Grundlagenforschung vorantreiben und Ihr Wissen an neue Generationen von Studierenden weitergeben. Verwirklichen Sie Ihre Pläne. Was wir dazu beitragen können, wollen wir tun. Der Rest liegt bei Ihnen. Wir leben in einem großartigen Land in einer einzigartigen Region. Wir leben in Frieden, Stabilität und Sicherheit. In Freiheit und Demokratie, umgeben von freundlichen Nachbarn. Wir sollten uns immer wieder vor Augen halten, dass das keineswegs selbstverständlich ist. Wir haben exzellente Ausgangsbedingungen. Wir müssen uns ihrer nur wieder häufiger bewusst werden. Wir brauchen Zutrauen zu unseren Fähigkeiten. Wir brauchen die Erfindungen, die Sie noch machen werden, und die Unternehmen, die Sie gründen werden. Wir brauchen Ihr soziales Engagement - und Ihr politisches natürlich auch! Wir brauchen wieder den Glauben daran, dass Initiative und Ideale Berge versetzen können. Dann sehe ich nicht nur neue Chancen für Deutschland. Dann sehe ich die allerbesten Chancen für Deutschland.

Ich danke Ihnen.