Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 12.05.2003
Untertitel: "Die Freiheit ist das höchste Gut der Menschenwürde. Das heißt, dass Freiheit jedem Menschen angeboren ist - und keinesfalls etwas, das vom Staat, gleichsam als Belohnung, verliehen werden müsste. Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass wir auf eine Welt hin arbeiten, die allen die Möglichkeit gibt, ihre Fähigkeiten zu entfalten und am Wohlstand dieser Welt teilzuhaben - im Haben und im Sagen. Sicherheit schließlich ist die Voraussetzung von allem." so Bundeskanzler Schröder anlässlich der Einladung des Instituts für Diplomatie und Auswärtige Beziehungen
Anrede: Herr Minister, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/66/484966/multi.htm
Die Welt, in der wir heute leben und in der unsere Kinder morgen leben sollen, ist voller neuer Chancen. Es ist eine Welt grenzenloser Kommunikation, Informationen, Gedanken und Meinungen. All das wird über Tausende von Kilometern hinweg täglich, ja stündlich, ausgetauscht. Globale Medien oder das World Wide Web bringen die Menschen unterschiedlichster Herkunft einander näher, als ihre Eltern jemals zu träumen wagten.
Zugleich ist dies eine Welt, in der die Gewalt, die wir in den internationalen Beziehungen längst überwunden glaubten, zu einer ganz neuen Aktualität geworden ist: durch einen menschenverachtenden, ideologisch und fundamentalistisch verhetzten Terrorismus. Dieser Terrorismus, den wir gewiss bekämpfen müssen, darf uns aber auch nicht dazu verleiten, den Krieg wieder als normales Instrument zur Durchsetzung außenpolitischer Interessen zu akzeptieren. Weil das so ist, steht die Diplomatie vor großen Herausforderungen. Ich möchte mit Ihnen gern über diese Chancen sprechen; denn nur, wenn wir, die Älteren und die Jüngeren, diese Chancen erkennen und entsprechend nutzen, werden wir die zerstörerischen Gefahren des 21. Jahrhunderts eindämmen.
Die jüngere Vergangenheit hat uns, spätestens seit den furchtbaren Terroranschlägen des 11. Septembers, gelehrt, wie verwundbar unsere Welt geworden ist - wenn grenzenlose Technik für grenzenlose Vernichtungswut und blinden Hass missbraucht wird. Das war die schreckliche, neue Qualität des 11. Septembers. Wir sollten uns hüten, die daraus vorscheinende Gefahr zu verniedlichen oder die Opfer von New York und Washington gegen die vielen Toten anderer blutiger Konflikte aufzurechnen. Meine Regierung hat deshalb im Einklang mit unseren Partnern in aller Welt sofort nach den Attentaten klar gemacht: Wir werden alles tun, um terroristische Gewalt zu bekämpfen, aber wir werden auch alles dafür tun, die Ursachen zu beseitigen, die Menschen mit dieser Art des Hasses sympathisieren lassen.
Viele kluge Menschen haben uns damals geraten, einen ehrlichen Dialog mit dem Islam zu führen. Das war ein guter und wichtiger Ansatz. Unter allen Umständen müssen Sie und wir verhindern, dass aus Terror und Krieg neuer, pauschaler Hass oder gar ein, wie man es genannt hat, Kampf der Kulturen wird. Keine Religion der Welt rechtfertigt Mord und kriegerische Zerstörung. Allerdings ist auch kein Glaubensbekenntnis dem anderen oder auch denen, die nicht religiös sind, überlegen. Respekt vor der Schöpfung, vor dem Leben und der Würde des Menschen ist das wichtigste Grundgesetz friedlicher Koexistenz.
Auf dieser Grundlage beginnt, gerade in diesen schwierigen Zeiten, Diplomatie. Sie ist die Verfeinerung und Fortsetzung des Dialogs mit anderen Mitteln. Ich denke, es gibt für das Zusammenleben der Menschen keine edleren Ziele als Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit. Diplomatie ist die Kunst, Kompromisse zu finden. Das unterscheidet sie übrigens nicht von der Innenpolitik. Aber so notwendig Kompromisse im Vorgehen und in den Einzelheiten sind, so unmöglich sind die Werte und Ziele, die uns verbinden, verhandelbar.
Freiheit ist das höchste Gut der Menschenwürde. Das heißt, dass Freiheit jedem Menschen angeboren ist und keinesfalls etwas ist, das vom Staat, gleichsam als Belohnung, lediglich verliehen wird. Gerechtigkeit bedeutet für mich, dass wir auf eine Welt hinarbeiten, die allen die Möglichkeit gibt, ihre Fähigkeiten zu entfalten und am Wohlstand dieser Welt teilzuhaben, in dem, was wir gewinnen, und in den Entscheidungen, um die es geht. Sicherheit schließlich ist die Voraussetzung von allem, und damit meine ich die Sicherheit des einzelnen Menschen vor Willkür und Unterdrückung, die Sicherheit vor Kriminalität und Terror, die Sicherheit vor Not und Elend und den Schutz vor globalen Katastrophen und Epidemien, aber auch das, was man "kulturelle Sicherheit" nennt: das Aufgehoben-Sein in einer Identität, einer Familie, einer Nachbarschaft, einem Land oder auch einer Region.
Erstens: Ich fürchte, wir alle haben "Sicherheit" viel zu lange als einen polizeilichen oder auch militärischen Begriff verstanden. Aber wenn es erst zu polizeilichen oder militärischen Einsätzen kommt, dann hat die Politik - das zeigen alle Erfahrungen - nicht mehr viel Spielraum. Das heißt nicht, dass es nicht manchmal Situationen gibt, in denen nur kontrollierte Gewalt Sicherheit schafft. Im Gegenteil: Wer nicht will, dass das Recht des Stärkeren herrscht, der muss wollen, dass das Recht auch stark ist. Vorausschauende Politik sollte aber an den Ursachen von Unsicherheit ansetzen. Diese Ursachen sind allzu oft Armut, Unrecht, Ungleichheit der Chancen, aber sehr häufig auch Unwissen. Deshalb ist es so, dass der Anfang aller Diplomatie und Völkerverständigung das Wissen und Verstehen des jeweils anderen ist. Diese Erkenntnis macht Institute wie dieses, vor dem ich die Ehre habe zu reden, übrigens so wichtig.
Zweitensmüssen wir Realisten genug sein, zu erkennen, dass die allerbesten Freundschaften die sind, die auf gemeinsame Interessen abzielen. Kulturelle, soziale, aber sicherlich auch ganz wesentlich wirtschaftliche Interessen sind damit gemeint. Geschäftskontakte sind im Kern auch persönliche Begegnungen, aus denen nicht selten Freundschaften werden. Auch Studienaufenthalte bringen nicht nur unsere Wissenschaftler, sondern eben auch unsere Völker und Kulturen einander näher. Das macht zum Beispiel den besonderen Wert der neu gegründeten Alumnivereinigung von Malaysiern, die in Deutschland studiert haben, aus. Wir freuen uns darüber, dass es Derartiges gibt.
Besonders gelungen scheint mir auch die deutsch-malaysische Zusammenarbeit im Bildungsbereich. Zum Beispiel bringt seit zehn Jahren das "German-Malaysian Institute" Menschen aus beiden Ländern zusammen. Meine Regierung ist entschlossen, über Studienmöglichkeiten hinaus den Gedankenaustausch mit der islamischen Welt und natürlich mit Malaysia zu vertiefen. Wir sollten dabei aber die Menschen, Länder und Völker nicht unter ein gemeinsames Etikett, etwa das des Islams, subsumieren. Zu häufig noch verbinden wir in Europa den Islam ausschließlich mit dem Ursprungsraum dieser Religion, also der Arabischen Halbinsel.
Nicht nur wegen seiner ethnischen und religiösen Vielfalt hat Ihr Land für die weltweite Zusammenarbeit der Kulturen - ich habe das gelegentlich einen "Kampf um die Kultur" genannt - eine ganz besondere Bedeutung. In Ihrem Land hat die frühe Begegnung von Islam, Buddhismus und Hinduismus eine sehr tolerante Form der Religionsausübung erlebt. Deshalb denke ich, dass Malaysia sehr gut geeignet ist, eine Brückenfunktion zwischen den Kulturen zu übernehmen.
Die malaysische Regierung ist für Deutschland auf regionaler wie auf multilateraler Ebene ein wichtiger Partner im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Ich begrüße es ausdrücklich, dass die südostasiatischen Staaten in jüngster Zeit ihre polizeiliche Kooperation verstärkt haben. Zentrale Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das geplante regionale Antiterror-Zentrum in Kuala Lumpur. Malaysia kann als multireligiöser Vielvölkerstaat ein Modell für andere Länder sein. Voraussetzung dafür ist, dass im Innern das friedliche Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen und die Gleichberechtigung aller Menschen - unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Religion - gewährleistet sind und auch bleiben. Ich denke, es gibt großen Anlass dafür, Ihre Vielfalt als Reichtum zu betrachten, den man bewahren muss.
Ich hatte versprochen, Ihnen kurz von den Chancen der Diplomatie zu berichten, auch und gerade in Zeiten vermehrter internationaler Gewalt. Ich denke, diese Chancen bestehen vor allem in der Vergegenwärtigung unserer Eigenheiten, unserer Möglichkeiten und unserer Verhandlungskunst. Vielleicht können zum Beispiel die beiden Bundesstaaten Malaysia und Deutschland gerade dort voneinander lernen, wo es um den Ausgleich von Gegensätzen in einem staatlichen Gemeinwesen geht. Ich hielte es auch für an der Zeit, dass sich unsere beiden Staaten auf ein Kulturabkommen verständigen, das die Arbeit der verschiedensten Kulturmittler endlich auf eine gesicherte Grundlage stellt.
So wichtig die Gespräche zwischen unseren Regierungen sind, sie werden ergänzt durch die vielfältigen Kontakte in regionalen und multilateralen Foren. Deutschland hat in den vergangenen 50 Jahren immens von der europäischen Integration profitiert. Diese Integration hat für Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung gesorgt, den Nachkriegsfrieden stabilisiert und die Stellung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten in der Welt gefestigt. Die Europäische Union sucht starke Partnerorganisationen, weil wir viele Probleme nur durch Vereinbarungen zwischen Regionalorganisationen lösen können.
Wir möchten die bestehende Partnerschaft von Europäischer Union und ASEAN ausbauen. Dies wird am besten gelingen, wenn die südostasiatischen Länder ihre Integration vorantreiben. Malaysia kann der Motor einer solchen Integration sein; denn dieses Land hat international schon immer eine aktive Rolle eingenommen. Sie zeigt sich in diesem Jahr besonders sichtbar durch den malaysischen Vorsitz in der Blockfreienbewegung und der Islamischen Konferenz. Unsere Politik zielt darauf, Brücken zu bauen zwischen diesen beiden Vereinigungen und dem, was man gemeinhin den Westen nennt. Dies beginnt, wie Sie es als Diplomaten immer wieder erleben, mit der Wahl der Worte.
Manch einer von Ihnen wird in nächster Zeit am Sitz der Vereinten Nationen arbeiten oder gearbeitet haben. Die Bundesregierung misst dieser weltumspannenden Institution eine große Bedeutung zu. Sicher: Es gibt manches an den Vereinten Nationen zu verbessern. Diese Arbeit kann effizienter werden, die Zusammensetzung ihres wichtigsten Gremiums auch repräsentativer. Dennoch sind die Vereinten Nationen der beste Ort, um über die Bedrohungen und Herausforderungen zu diskutieren und zu verhandeln, denen die gesamte Weltgemeinschaft ausgesetzt ist: Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und andere Gefahren für den Frieden, neuartige Krankheiten, Zerstörung natürlicher Lebensräume, Klimakatastrophen und andere gewaltige Risiken nicht nur für uns, sondern vor allem für unsere Kinder und deren Kinder. Im Übrigen sind es vor allem die Vereinten Nationen, in denen das Recht gewahrt und entwickelt wird, jenes Recht, das unsere internationalen Beziehungen regeln kann; ich rede vom Völkerrecht.
In unserer heutigen Welt mangelt es nicht an Wissen. Doch dieses Wissen muss allen Menschen zugänglich sein. Nur in einer offenen Gesellschaft wird es uns gelingen, die Möglichkeiten eines jeden Einzelnen zur Entfaltung zu bringen. Ich bin sehr froh darüber, wenn ich durch meinen Besuch dazu beitragen kann, dass Brücken zwischen Malaysia und Deutschland gebaut werden; denn eines ist klar: Auch das schnellste Internet kann und soll persönliche Kontakte nicht ersetzen. Ich lade Sie deshalb herzlich ein, solche Kontakte immer wieder neu zu knüpfen und, wo sie vorhanden sind, zu pflegen, und zögern Sie nicht, wenn Sie die Gelegenheit haben, nach Deutschland zu reisen. Sie werden uns dort jederzeit herzlich willkommen sein.