Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 13.05.2003

Untertitel: Anlässlich der "Singapore Lecture - In-vestments into the Future: State and Economy at the Beginning of the 21th Century" am 13. Mai in Singapur sagte Bundeskanzler Schröder: "Gerade weil Singapur und Deutschland, Europa und Südostasien manch vergleichbaren Erfolg vorweisen können, stehen wir - trotz aller Unterschiede, die es in unseren Gesellschaften gibt - vor vielen ähnlichen Herausforderungen. Wir können dabei voneinander lernen, wenn wir intensiv miteinander kooperieren, und um das zu befördern, bin ich unter anderem hier."
Anrede: Sehr geehrter Herr Vizepremierminister, sehr geehrter Herr Direktor, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/65/485465/multi.htm


Wie kaum ein anderer Ort regt Singapur dazu an, über Fragen nachzudenken, die über die Gegenwart und den eigenen Kulturkreis hinausgehen; denn Singapur ist eine beeindruckende Mischung aus Tradition und Moderne, in der sich Asiaten, Amerikaner und vor allen Dingen auch Europäer wiederfinden.

Singapur - das sagen wir mit großem Respekt - ist in vielerlei Hinsicht eine Erfolgs-geschichte: Durch ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum über viele Jahre hat das Land ein hohes Wohlstandsniveau erreicht. Singapur setzt dabei konsequent auf Spitzentechnologie und auf die Bedingung dafür, nämlich wissenschaftlichen Fortschritt. Darum ist Singapur für meine Regierung und auch die deutsche Wirtschaft und deutsche Universitäten jetzt und für die gesamte Zukunft ein bedeutender Partner.

Gerade weil Singapur und Deutschland, Europa und Südostasien manch vergleichbaren Erfolg vorweisen können, stehen wir - trotz aller Unterschiede, die es in unseren Gesellschaften gibt - vor vielen ähnlichen Herausforderungen. Wir können dabei voneinander lernen, wenn wir intensiv miteinander kooperieren, und um das zu befördern, bin ich unter anderem hier. Wer nämlich allein auf nationale Antworten ver-traut, wird nicht den Fortschritt erreichen wie Staaten, die sich offen zeigen gegenüber Lösungsansätzen von Außen und durch Kooperationen. Dabei kann unumwunden zugegeben werden, dass es weder europäische noch amerikanische noch asiatische Patentrezepte gibt. Unser Wohlstand und unsere Sicherheit sind eng mit Wohlstand und Sicherheit in anderen Teilen der Welt verflochten. Welche Gefährdungen in Bezug auf diesen Wohlstand vorhanden sind, wird insbesondere dann deutlich, wenn es in Situationen wie diesen um die gemeinsame Bekämpfung von Seuchen und Krankheiten geht.

In einer erweiterten Europäischen Union und in den ASEAN-Staaten leben mehr als eine Milliarde Menschen. Sie erwirtschaften gemeinsam und im Austausch miteinander fast die Hälfte des Welthandels. Beide Regionen sind über enge Handels- und Investitionsbeziehungen miteinander verbunden. Das war so, das soll so bleiben und das kann und muss man im Interesse beider noch besser machen. Um die Bedeutung dieser Region zu verstehen, muss man übrigens wissen, dass das deutsche Handelsvolumen mit Asien inzwischen größer ist als der Handel mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Deutsche Unternehmen sind in allen Ländern der Region seit vielen Jahren aktiv, und - das ist auch für mich das Entscheidende - sie haben sich als verlässliche Partner erwiesen, auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Sie bleiben gerade dann, wenn es nicht einfach ist. Sie sind also ganz verlässliche Partner, und das wollen wir Deutsche politisch auch sein.

Ich weiß, dass die ASEAN-Staaten, besonders das traditionell freihändlerische Singapur, an dem Ausbau und der Vertiefung der Handelsbeziehungen zur Europäischen Union, also nicht nur zu Deutschland, interessiert sind, und das ist richtig so. Dies gilt auch für Deutschland als wichtigster Handelspartner Asiens in der Europäischen Union. Auch wir wollen den Erfolg nicht nur für uns alleine haben, sondern für das ganze, zusammenwachsende Europa. Wir wollen bilateral mit ASEAN mehr erreichen, als wir gemeinsam in der laufenden Doha-Welthandelsrunde durchsetzen können.

Unsere Vorstellungen gehen über den gegenseitigen Zollabbau hinaus. Wir denken zum Beispiel an gemeinsame technische Standards, an die Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte und die Festlegung klarer Regeln für Investitionen. Ich denke, gerade auf diesem Gebiet kann die verlässliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Singapur durchaus beispielhaft wirken. Zur Vorbereitung einer derartigen, vertieften Zusammenarbeit wird es ab 2004 die EU-ASEAN-Handelsinitiative TREATI geben. Sie soll den Weg für eine echte und umfassende Freihandelszone zwischen der Europäischen Union und ASEAN bereiten.

Die Bedeutung der engen wirtschaftlichen Beziehungen geht weit über den Austausch von Waren und Dienstleistungen hinaus. Die Europäische Union sucht starke Partnerorganisationen, weil wir viele Probleme in der Welt nur durch Vereinbarungen zwischen Regionalorganisationen lösen können. Wir möchten die bestehende Partnerschaft von Europäischer Union und ASEAN ausbauen. Dies wird dann optimal gelingen, wenn die südostasiatischen Länder ihre eigene Integration vorantreiben. Europa denkt keinesfalls daran, sich Modellcharakter zuzuschreiben, aber vielleicht macht es vor dem Hintergrund der europäischen historischen Erfahrungen doch Sinn, aus dem Integrationsprozess dieses Kontinents zu lernen.

Internationaler Handel bedeutet immer auch neue Kontakte zwischen Menschen in verschiedenen Ländern. Dabei haben wir ein gegenseitiges Verständnis für andere Wertvorstellungen und kulturelle Identitäten erworben. Mir kommt es auf diesen Aspekt besonders an. Natürlich weiß ich, dass wirtschaftlicher Austausch das Schwungrad in den Beziehungen ist und bleiben wird, aber ich denke, wir würden unsere eigene Existenz und unser Leben verkürzt behandeln, wenn wir die kulturelle Dimension dessen, was wir wirtschaftlich und politisch betreiben, zu kurz kommen ließen, wenn wir nicht berücksichtigten, dass der Austausch der Kulturen - gerade die Unterschiedlichkeit der Kulturen - eine Herausforderung für die eigene Kultur ist, die sie zu neuen Höchstleistungen bringen kann.

All das hilft uns heute, gemeinsam die erforderlichen Anstrengungen für eine friedlichere und gerechtere Welt zu unternehmen; denn eine Welt, die auf Dauer in Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer zerfällt, die eine übergroße Zahl von Menschen zu andauernder Perspektivlosigkeit verurteilt, ist nicht nur einfach un-gerecht. Sie trägt zugleich - das geht dann auch zu Lasten kurzfristiger Globalisierungsgewinner - auch eine Keimzelle immer wieder neuen, sich selbst speisenden Unfriedens in sich.

Deshalb brauchen wir eine Perspektive, die auf die Globalisierung nicht nur von wirtschaftlichem Erfolg, sondern damit zusammenhängend auch von Wohlstand und Gerechtigkeit setzt. Natürlich ist zuallererst jedes Land selbst dafür verantwortlich, die richtige Balance zwischen Staat und Markt immer wieder neu zu bestimmen. Wenn ich sage "immer wieder neu zu bestimmen", dann denke ich, dass die darin liegende politische Herausforderung immer größer werden wird, weil angesichts der radikalen Veränderungen der ökonomischen Basis unserer Gesellschaften - und zwar aller Gesellschaften - durch den Globalisierungsprozess die Aufgabe der Anpassung der politischen und sozialen Systeme immer schneller bewältigt werden muss.

Deutschland setzt in diesem Prozess auf den Erhalt des europäischen Sozialstaats, durchaus als ein Gegenmodell zu einer nur über den Markt gesteuerten Gesellschaft. Es ist ja ein Unterschied, ob man - was richtig, vernünftig und effektiv ist - den Markt als Steuerungsinstrument der Wirtschaft benutzt, oder ob man die Vorstellung entwickelt, eine solche Steuerung sei auch das Richtige für die Gesellschaft insgesamt. Auf der anderen Seite wissen und lernen wir gerade - nicht zuletzt in Deutschland - , dass soziale Gerechtigkeit heute unter den Bedingungen des verschärften internationalen Wettbewerbs ganz neu definiert werden muss. Ungerecht wäre nämlich eine starre, nur auf die Verteilung fixierte Politik, die zum Beispiel Arbeitslosigkeit verwaltet und den Einzelnen oder viele Einzelne damit von neuen Chancen des Globalisierungsprozesses ausschließt. Gerecht ist also eine Politik, die die Sozialsysteme so neu justiert, dass sie eben auch in Zukunft bezahlbar bleiben und gleichzeitig ihrer Schutzfunktion gerecht werden, ohne wirtschaftliche Effektivität und Prosperität in Frage zu stellen.

Es geht also, jedenfalls in unserem Land, um ein neues Verständnis des Sozialstaats, in dessen Mittelpunkt eben nicht finanzielle Transferleistungen stehen, sondern die Möglichkeit, über Bildung am Erwerbsleben und damit am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Unser Ziel ist also ein Leben in Eigenverantwortung für möglichst viele Menschen - mit einem neuen Gleichgewicht zwischen Rechten auf der einen Seite, aber zum anderen auch Pflichten - , oder, wie wir es beschreiben, wir wollen eine Gesellschaft, in der wir diejenigen, die Hilfe brauchen, zwar fördern, sie aber auch fordern, das ihnen Mögliche jederzeit für sich und ihre Familien selbst zu tun.

Um dieses Ziel zu erreichen, hat die von mir geführte Bundesregierung einen konsequenten wirtschaftspolitischen Reformkurs eingeschlagen, den ich mit der so genannten "Agenda 2010" vorgelegt habe und den wir umsetzen müssen und werden, auch gegen nicht unerhebliche gesellschaftliche Widerstände, selbst im eigenen Verantwortungsbereich. Wir müssen und werden in Deutschland die Lohnnebenkosten senken; denn diese haben sich mittlerweile zu einem gravierenden Hindernis für Beschäftigung entwickelt. Wir werden dazu kommen, Schutzrechte, die Beschäftigung heute eher behindern, als sie zu fördern, neu zu gestalten. Das gilt auch für die Transfersysteme, etwa das für Arbeitslose, das ihnen helfen soll. Auch hierbei gilt: Wir müssen davon wegkommen, Arbeitslosigkeit zu verwalten, und dahin kommen, viel schneller als in der Vergangenheit vorhandene Arbeit wieder an die Menschen beziehungsweise die Menschen in vorhandene Arbeit zu bringen. Mit der "Agenda 2010" wollen und werden wir in Deutschland eine Aufwärtsspirale für mehr Wachstum, mehr Investitionen und den Aufbau neuer Beschäftigung - nicht nur, aber auch und vor allem im Dienstleistungsbereich - in Gang setzen.

Damit weltweit möglichst viele Menschen in den Genuss von mehr Wohlstand und sozialer Sicherheit kommen, genügt es eben nicht, dass jeder in seinem Land die Voraussetzungen für globales Wachstum stärkt. Wir brauchen auch einen freien, aber ebenso gerechten Welthandel. Hierbei sind die Entwicklungsländer mit ungleich ungünstigeren Startbedingungen konfrontiert. Lassen wir das so, wird uns das Problem eines Tages einholen und dann schlimmere Verwerfungen heraufbeschwören, als es die Belastungen bedeuten, die wir als reiche Staaten heute in Kauf nehmen müssen, um global Gerechtigkeit herzustellen.

Genau deshalb ist es eine verpflichtende Aufgabe der wohlhabenderen Volkswirtschaften, diese Länder auf ihrem Weg zu unterstützen. Wir werden erst dann einen nachhaltigen Erfolg erreicht haben, wenn die Entwicklungsländer mit ihren wettbewerbsfähigen Produkten auf den Weltmärkten auch eine faire Chance erhalten. Das bedeutet: Wir, die reichen Volkswirtschaften, müssen sie ihnen gewähren, indem wir unsere Märkte allemal - aber nicht nur - für Agrarprodukte öffnen.

Die Europäische Union hat den 48 ärmsten Staaten einen freien Zugang zum Europäischen Binnenmarkt ermöglicht. Jetzt kommt es darauf an, der Marktöffnung auch in der neuen Welthandelsrunde von Doha zusätzliches Gewicht zu geben. Ich weiß: Gerade bei den Agrarverhandlungen erwarten viele unserer Partner zusätzliche Flexibilität der Europäischen Union. Sie können sich darauf verlassen, dass sich Deutschland im europäischen Rahmen für ein substanzielles Angebot einsetzt, weil wir verstanden haben, dass ein Land wie unseres, das andere Märkte für seine Dienstleistungen und Produkte gewinnen will, nicht gut seine eigenen Märkte vor deren Produkten abschotten darf. Mein Land will Doha deshalb zu einer Entwicklungsrunde machen, die in hohem Maße auf die speziellen Bedürfnisse der Entwick-lungsländer eingeht. Zugleich wollen wir im Rahmen des Doha-Prozesses auch der sozialen und der immer wichtiger werdenden ökologischen Dimension der Globalisie-rung stärker Geltung verschaffen. Viele Globalisierungsgegner kritisieren zu Recht, dass dieser Aspekt bisher zu kurz gekommen ist, und deswegen müssen wir das ändern, auch, weil wir Grund haben, uns dieser Kritik zu stellen.

Zu dem notwendigen multilateralen Ordnungsrahmen für einen gerechten Welthandel gehören für mich auch die so genannten Singapur-Themen. Mit klaren Regeln für Wettbewerb, Investitionen, Handelserleichterungen und Transparenz im öffentlichen Auftragswesen gestalten wir die Globalisierung zum Nutzen aller WTO-Mitglieder. Grundlegende Standards - wie Marktzugang für Investoren, Nichtdiskriminierung, transparente und faire Wettbewerbsregeln und eine wirklich durchschaubare öffentliche Auftragsvergabe - sind entscheidende Rahmenbedingungen für die Auslandstätigkeit von Unternehmen. Klare Regeln machen gerade viele Entwicklungsländer für ausländische Investoren interessant, und dies schafft dann die Basis für einen dringend erforderlichen Technologietransfer.

Im Prozess der Globalisierung ähneln sich Chancen und Risiken für viele Menschen, auch wenn sie in Staaten leben, die ganz weit voneinander entfernt sind. Deshalb brauchen wir eine umfassende, multilaterale Politik für mehr Sicherheit und mehr Gerechtigkeit in der Welt. Kein Land, wie groß und mächtig es auch immer sei, kann für sich allein die großen Probleme der Welt lösen. Meine Regierung ist daher bemüht, die Stellung der Vereinten Nationen unter allen Umständen zu stärken. Sicher: Bei den Vereinten Nationen gibt es manches zu reformieren und zu verbessern. Ihre Arbeit kann und muss effizienter und die Zusammensetzung ihrer wichtigsten Gremien auch repräsentativer werden. Dennoch sind die Vereinten Nationen das am besten geeignete Forum, um über Bedrohungen und Herausforderungen zu reden, denen die Weltgemeinschaft als Ganzes ausgesetzt ist. Der Gefahr, zum Beispiel. die des grenzüberschreitenden Terrorismus, können wir nur mit vereinten Kräften auf Dauer erfolgreich entgegentreten. Hierbei kommt es entscheidend auch auf regionale Zusammenarbeit an. In Europa wie in Südostasien können wir den Terror nur besiegen, wenn die Sicherheitsbehörden der verschiedenen Staaten noch enger als jemals in der Vergangenheit miteinander kooperieren. Genauso zwingen uns Umweltzerstörung und neuartige Krankheiten, unsere Kräfte zu bündeln.

Singapur - das sage ich mit großem Respekt - hat bei der Bekämpfung der Krankheit SARS eine anerkennenswert offene Informationspolitik betrieben und damit wirklich geholfen, die Krankheit schrittweise völlig in den Griff zu bekommen. Die fundierte Aufklärung der Bevölkerung verhinderte nicht nur eine stärkere Ausbreitung der Krankheit, sondern sie hat auch das Vertrauen in die singapurische Regierung weiter gefestigt. Offenheit ist auch auf anderen Gebieten wichtig. Singapur kann als Nahtstelle der Kulturen einen besonderen Beitrag zu einem toleranten Miteinander unter-schiedlicher Lebensstile, Religionen und Meinungen leisten. Es sollte sich - wie Deutschland - als rohstoffarmes Land auf die Kreativität des freien Geistes verlassen. Toleranz und Offenheit sind Werte, von denen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen profitieren. Sie sind deshalb das Fundament für unser aller Zukunft.