Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 03.12.2003

Untertitel: Für Bundeskanzler Gerhard Schröder sind die Gespräche mit dem akademischen Nachwuchs eines Landes wichtig für die Beziehungen zwischen den Ländern. Zwischen chinesischen und deutschen Hochschulen gebe es inzwischen mehr als 300 Partnerschaften. "Wir spüren hier eine regelrechte Aufbruchstimmung. Chinesische Wissenschaftler genießen in Deutschland hohes Ansehen," sagte der Kanzler
Anrede: Sehr verehrter Herr Rektor, sehr verehrte Professorinnen und Professoren, liebe Studentinnen und Studenten, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/70/570370/multi.htm


Zunächst bedanke ich mich sehr herzlich im Namen meiner Delegation für den außerordentlich freundlichen Empfang, den Sie uns hier bereitet haben.

Es ist für mich das dritte Mal, dass ich die Gelegenheit erhalte, an einer chinesischen Universität zu sprechen und, wie ich hoffe, auch mit Ihnen diskutieren zu können. Ich habe von dieser Gelegenheit immer sehr gerne Gebrauch gemacht, denn kaum etwas ist so wichtig für die Zukunft der Beziehungen zwischen China und Deutschland wie die Diskussion, das Gespräch mit dem akademischen Nachwuchs eines Landes - also mit den Führungskräften des Landes in der Zukunft, wie der Herr Rektor völlig zu Recht gesagt hat.

Inzwischen gibt es mehr als 300 Partnerschaften zwischen chinesischen und deutschen Hochschulen. Viele dieser Partnerschaften sind erst in den vergangenen zwei Jahren entstanden. Das zeigt, dass in den vergangenen Jahren die Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern, zwischen den Regierungen, aber auch zwischen den Bildungsinstitutionen große Fortschritte gemacht hat. Man kann auch durchaus von einer Aufbruchstimmung in den gemeinsamen Beziehungen sprechen.

Chinesische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genießen in unserem Land ein sehr hohes Ansehen. Unter den Alexander-von-Humboldt-Stipendiaten für ausländische Spitzenforscher - das ist ein spezielles deutsches Programm, das übrigens nicht nach Quoten vergeben wird - stellen chinesische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler inzwischen die zweitgrößte Gruppe dar.

Die Menschen in meinem Land sind beeindruckt von den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolgen Chinas, so etwa von dem ersten bemannten Weltraumflug vor wenigen Wochen.

Die Provinz Guangdong hat sich zu einem wahren Wachstumsmotor in China entwickelt. Der Handel Deutschlands allein mit Guangdong übersteigt bereits unseren bilateralen Handel mit vielen anderen Ländern in dieser Region. Gestern konnte ich mich beim Besuch der 1. Internationalen Automobilausstellung von den ehrgeizigen Investitionsvorhaben auch der deutschen Automobilindustrie mit ihren chinesischen Partnern überzeugen.

Die deutsche Wirtschaft - meine Delegation hat das hier zum Ausdruck gebracht - ist fest entschlossen, das große Potenzial, das sich ihr hier im Perlflussdelta, aber auch in anderen Regionen bietet, zu nutzen, und zwar zum beiderseitigen Vorteil. Wir wollen unseren Völkern die Teilhabe an den Chancen einer globalisierten Welt und einer globalisierten Wirtschaft eröffnen. Wie in Deutschland geht es auch in China darum, wirtschaftliche Modernisierung und sozialen Fortschritt miteinander zu vereinbaren und beides zu fördern.

In diesem Zusammenhang sehen wir auch die Reformpolitik der chinesischen Regierung. Die Bemühungen, die Entwicklung in den wirtschaftlich schwächeren Regionen verstärkt zu fördern - so etwa im Westen Ihres Landes - , finden unsere Anerkennung und unser aller Unterstützung.

China und Deutschland treten gemeinsam für eine internationale Ordnung ein, die gleichberechtigter Zusammenarbeit auf der Grundlage einer Stärke des Rechts verpflichtet ist. Nur die Beachtung dieser Prinzipien ermöglicht die Bewältigung der großen, vor uns liegenden Herausforderungen. Dies betrifft Herausforderungen im Irak oder in Nordkorea, in Afghanistan - wo mein Land insbesondere engagiert ist - oder auch die Herausforderungen, die mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus zusammenhängen. Unsere beiden Länder lassen sich dabei von der Überzeugung leiten, dass Frieden und Entwicklung einander bedingen.

Ohne Frieden, das wissen wir, gibt es keine Entwicklung. Aber es gilt auch: Ohne Entwicklung, ohne spürbare Verbesserung der Lebenschancen und des Wohlstands der Menschen in allen Ländern ist auch der Frieden sehr häufig in Gefahr.

Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist eine der größten Herausforderungen, denen sich die internationale Gemeinschaft heute gegenübersieht. Terroranschläge wie die von Istanbul, Riad, New York oder Bali sind nicht Angriffe gegen einzelne Länder. Sie sind eine Kampfansage an die zivilisierte Welt. Gewalt gegen Zivilisten ist niemals zu rechtfertigen. Allerdings wissen wir, und gerade wir Deutschen wissen das besonders: Sicherheit kann nicht allein mit militärischen Mitteln erreicht werden.

Wer Sicherheit für seine Menschen schaffen will, muss einerseits Gewalt entschieden bekämpfen, sich aber auch andererseits mit den Ursachen von Gewalt auseinander setzen und die Ursachen von Gewalt beseitigen. Zur Sicherheit gehört dabei auch die soziale und kulturelle Sicherheit sowie die langfristige Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen unserer gemeinsamen Umwelt auf dieser einen Erde. Nur wenn es gelingt, für bessere wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungsbedingungen zu sorgen, können wir dem Terrorismus den Nährboden entziehen.

Auch in den Vereinten Nationen arbeiten China und Deutschland eng und vertrauensvoll zusammen. Als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat, als bevölkerungsreichstes Land und sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt kommt China große Verantwortung zu, und zwar im regionalen wie auch im globalen Maßstab. Daraus ergibt sich auch eine besondere Verpflichtung, sich für eine Politik des friedlichen Interessenausgleichs einzusetzen.

China und Deutschland teilen die Überzeugung, dass Sicherheit und Frieden nur auf der Basis eines effektiven Multilateralismus gewährleistet werden können. Wir haben ein gemeinsames Interesse an starken und vor allen Dingen handlungsfähigen Vereinten Nationen.

Ich halte es zudem für sehr bedeutsam, dass sich China zunehmend bei der Förderung der regionalen Zusammenarbeit etwa zwischen den Pazifik-Anrainern und im Rahmen von ASEAN engagiert. Diese Zusammenarbeit - das wissen wir Europäer - fördert unmittelbar regionale Stabilität ebenso wie internationale Stabilität.

Ohne die aktive Diplomatie Chinas wären die Sechser-Gespräche über die nordkoreanische Nuklearkrise nicht zustande gekommen. China trägt dadurch wesentlich zur Entschärfung dieses Konflikts bei. Das ist ein wichtiger Beitrag, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern. Dieser Beitrag hat damit Bedeutung weit über diese Region hinaus.

Der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur Einbindung in die Welthandels- und die entsprechenden Finanzsysteme. China spielt auch vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung eine konstruktive Rolle beim Kampf zur Überwindung des Hungers in der Welt. Entschiedene Armutsbekämpfung bleibt für eine präventiv angelegte Friedenspolitik ganz unverzichtbar.

In Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur haben sich unsere bilateralen Beziehungen in den letzten Jahren kontinuierlich vertieft und erweitert. Das hat eine gute Tradition: Hier in Kanton beispielsweise gab es bereits vor mehr als 100 Jahren ein deutsches Konsulat.

Dass ich in Ihrem Land bereits zum fünften Male seit meiner Amtsübernahme bin und hier Gespräche führen kann, zeigt, welche Bedeutung ich auch selbst den deutsch-chinesischen Beziehungen beimesse. Sie erstrecken sich zusehends auch auf jene Gebiete, die im Zeitalter globaler Vernetzung immer wichtiger werden. Dazu gehört die Informationstechnologie, ohne die wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Fortschritt heute undenkbar wären.

Im vergangenen Monat war die Informationstechnik deshalb Gegenstand des vierten Symposiums im Deutsch-Chinesischen Rechtsstaatsdialogs. Dabei ging es auch um die so wichtige Fragen wie etwa der Freiheit des Internet. China wird sein ehrgeiziges Ziel, in vier Jahren der größte Internetmarkt der Erde zu sein, nur erreichen, wenn das Netz für In- und Ausländer gleichermaßen attraktiv ist. Das aber setzt die Freiheit aller Anbieter und Nutzer voraus, denn je größer die Freiheit der Anbieter und Nutzer sein wird, desto dynamischer kann und wird sich das Netz entwickeln.

Der regelmäßige politische Dialog und das dichte Geflecht unserer bilateralen Beziehungen haben eine tragfähige Vertrauensbasis zwischen unseren Völkern und natürlich auch zwischen den Regierungen geschaffen. Genau das erlaubt es auch, kontroverse Fragen offen und konstruktiv zu diskutieren und einer Lösung näher zu bringen. Es geht uns dabei nicht um den Export bestimmter Vorstellungen, sondern darum, das Bewusstsein universeller Menschenrechte zu verbreitern und zu vertiefen.

Für die Entwicklung eines Landes ist es wesentlich, die schöpferischen Kräfte seiner Menschen zu fördern und umfassend zur Geltung zu bringen. Ich begrüße es deshalb, dass der Deutsch-Chinesische Rechtsstaatsdialog mit dem bilateralen Menschenrechtsdialog zusammengeführt worden ist, denn jeder Rechtsstaat basiert auf den elementaren Menschenrechten des Einzelnen - so, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen und den darauf basierenden internationalen Vereinbarungen verankert sind. In diesem Zusammenhang ist es erfreulich, dass die chinesische Regierung den Pakt der Vereinten Nationen über Bürgerliche und Politische Rechte unterzeichnet hat.

China ist ebenso wie Deutschland Teil einer immer stärker vernetzten Weltwirtschaft. Das Studium im Ausland ist heute für junge Menschen eine der besten Möglichkeiten, die Chancen dieser Globalisierung auch wirklich zu nutzen.

Es war der Namenspatron Ihrer Universität, Sun Yatsen, der vor fast genau 80 Jahren vor Studenten in Kanton erklärte, dass Auslandsaufenthalte keineswegs dazu führen müssen und sollen, dass man sich seinem Heimatland entfremdet. Vielmehr, so der Namenspatron, gehe es darum, von den Erfahrungen des jeweils anderen Landes zu profitieren. Ich denke, das, was er damals gesagt hat, gilt auch heute noch: Je mehr wir voneinander wissen, desto besser werden wir einander verstehen.

Aber die Auseinandersetzung mit einer bisher fremden Lebensweise kann eben auch helfen, manches aus der eigenen Kultur wiederzuentdecken, was womöglich lange Zeit verborgen war. Die Veränderungen unserer Zeit, denen wir uns stellen müssen und werden, müssen also nicht mit einem Verlust an eigener kultureller Identität einhergehen.

Was ich über die Bedeutung menschlicher Begegnungen sagte, gilt übrigens auch und gerade für die politische Ebene. Auch da liegt eine wesentliche Ursache für Konflikte in der Unkenntnis des anderen. Offenheit nach innen, aber eben auch nach außen trägt zu einer friedlicheren Welt bei und zu einer Weltordnung, die auf der Gleichberechtigung aller Völker und der Durchsetzung des Rechts basiert.

Mein Damen und Herren, Ich möchte Sie ermutigen, Ihren ganz individuellen Beitrag zur Verständigung zu leisten. Tragen Sie Ihre eigenen Erfahrungen in die Welt hinaus, und lassen Sie sich Ihrerseits von den Gedanken anderer Menschen, anderer Völker inspirieren.

Ich danke Ihnen sehr für die Möglichkeit, hier vor Ihnen zu reden und freue mich auf eine lebhafte Diskussion.