Redner(in): Michael Naumann
Datum: 26.01.1999
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/65/11765/multi.htm
Verehrte, genauer, vielfach verehrte Preisträgerin,
Herr Oberbürgermeister, liebe Freunde der "Literaturhandlung"
Einundvierzigmal hat die Stadt München ihren Kulturellen Ehrenpreis bereits verliehen, und Rachel Salamander ist die fünfte Frau unter den Geehrten. Immerhin. Vor uns liegen mithin 35 Jahre der aufrechnenden und ausgleichenden Gerechtigkeit.
Freilich liegt es mir fern, mich bei der Preisträgerin mit feministischen Anspielungen beliebt zu machen. Denn von Rachel Salamander reden, heißt, sich zu hüten vor Sentimentalitäten, vor flinken Assoziationen, vor Schmeicheleien jeder Art. Das macht: Sie durchschaut den netten Sykophanten. Auffälligen Gefühlen - fremden und wohl auch eigenen - begegnet sie mit Skepsis. Die drückt sich in ihrem Gesicht aus: Den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, betrachtet sie die zahlreichen Rhetoriker, die ihr öffentliches und ihr privates Leben ( gibt es da noch Unterschiede? ) in anhaltender, unermüdlichen Verehrung begleiten, als wollte sie ihnen allen zurufen: "Mein Herr, haben Sie meinen Widerspruch einkalkuliert, wissen Sie überhaupt, mit Ihren glanzvoll arrangierten intellektuellen Irrtümern umzugehen?" Oder auch: "Bin ich die Hüterin Ihrer deutschen Familien- und Schmerzensgeschichte?"
Für mich ist Rachel Salamander in politischen Gesprächen seit fast zwanzig Jahren die schöne, die kluge Zweiflerin. Sie verkörpert jene Tugend - wenn denn Zweifeln eine Tugend ist - , die sich von abgrundtiefer Trauer angesichts unseres gescheiterten Jahrhunderts diametral durch die Ahnung unterscheidet, daß es auch anders hätte ausgehen können: Hätten wir, genauer, hätten unsere Eltern und Großeltern in Deutschland alle nur rechtzeitig zu zweifeln gelernt, statt fest nur zu glauben - den verführerischen, deutschnationalen Apokalyptikern der vorigen Jahrhundertwende zum Beispiel, den totalitären und terroristischen Seelenhändlern der dreißiger Jahre und, neuerdings, das heißt seit fünfzig Jahren, den freundlichen Versprechungen auf demokratische Erlösung für Alle im Erlebnis-Paradies des ewigen Wirtschaftswachstums.
Wer, wie Rachel Salamander, im Buchhandel tätig ist, wer, wie sie, nach siebzehn Jahren rigoroser Lebensarbeit, drei Geschäfte in München, später in Berlin und Wien aufgebaut hat, ist natürlich gefeit vor Illusionen plötzlichen Wohlstands. Da bleibt, bei zehn Angestellten, nichts übrig, außer der Gewißheit, einmalig zu sein. Einmalig ist ihr Sortiment. Daß es jetzt gefährdet ist durch europapolitische Angriffe auf die hundertjährige Tradition des gebundenen Ladenpreises, daß jedwede buchhändlerische Lagerhaltung wirtschaftlich unmöglich wird bei drohendem Verbot der Teilwertabschreibung, hat sich herumgesprochen, auch im Kabinett der Bundesregierung. Und wenn es denn nicht zu diesem fiskalisch erhofften, wirtschaftspolitisch und kulturell aber unerwünschten Einbruch in die Kulturlandschaft "Buch" kommen sollte, so wäre das auch dem demokratisch legitimen Widerspruch der hier Versammelten, zu denen ich mich ja selbst auch zähle, zu danken...
Doch hegt Rachel Salamander andere Illusionen? Verbirgt sich hinter ihrer schönen Skepsis gegenüber dem Milieu der deutschen Meinungsgewißheiten eine andere Hoffnung? Was wäre das für eine? "Ich handle", so sagt sie einmal,"mit Vernunft". Ja, ist sie denn von allen guten Geistern verlassen? Wo glaubt sie denn zu sein? In Arkadien?
Sie lebt in Deutschland und sie ist eine Jüdin in Deutschland. Wüßte sie nicht, was das heißt, es würde ihr doch täglich klargemacht: "Du bist ein Jude," schreibt Saul Bellow,"und wenn du es selbst gar nicht wissen willst, irgendeiner sagt es dir bei nächster Gelegenheit." Auf derlei Erfahrungen haben ihr ungewöhnlicher Lebenslauf, aber noch mehr ihre erstaunliche Entscheidung sie vorbereitet, nämlich - hierzubleiben. Hierzubleiben in Deutschland, im sogenannten "Land der Täter", das doch auch das Land vieler Opfer war, im Land nicht nur der historischen Dienstanweisungen zum Mordgebrauch, sondern auch im Reich der unsterblichen Sprache der Heine, Börne, Kafka, Kraus oder Freud, der Döblin, Schnitzler, Tucholsky oder Roth und Cela und Canetti... und wie sie alle hießen, deren Bücher auf Joseph Goebbels Scheiterhaufen landeten.
Geboren wurde Rachel Salamander als zweites Kind der Riva und Samuel Salamander am 30. Januar 1949 im "Displaced Persons Camp" in Deggendorf. Damals wanderten mehr als 250.000 Verschleppte, freigelassene Gefangene, Überlebende allesamt durch das zerstörte Land ihrer Peiniger. Rachels Eltern, polnische Juden aus Warschau und Lemberg, hatten den Holocaust hinter der russischen Front überlebt, als Staatsbürger Polens im Schatten des Ribbentrop-Molotow-Paktes verschleppt nach Turkmenistan, nach schweren Jahren in stalinistischen Arbeitslagern dann freigelassen und 1946 schließlich entkommen in die Hoffnungslosigkeit des moralisch, politisch und wirtschaftlich ruinierten Deutschlands: Es sollte ja nur eine Etappe auf dem Weg nach Israel, nach Amerika sein. Das letzte Schtetl auf deutschem Sprachgebiet war ein eingezäuntes DP-Camp vor den Toren Münchens, in ehemaligen Wehrmachtskasernen - welch ironische, furchtbare und zugleich tröstliche Arabeske am Ende dieser deutschen Kulturkatastraphe! Tröstlich für jene, die sich so ihre insulare Heimat bewahren konnten, in der Sprache, im Brauchtum, in religiösem Ritus und in ihren ungewöhnlichen Geschichten.
Fünf Jahre nach der Geburt ihrer Tochter starb Riva Salamander. Der Vater hatte zu diesem Zeitpunkt, was Wunder, den Vorrat an Überlebensmut fast aufgebraucht: Er blieb hier und war doch nicht da, einer von Millionen Gestrandeter des Zweiten Weltkriegs, der seine Wurzeln verloren hatte. Der Welt, aber auch der Sprache der Mörder von Europas Juden war er überdrüssig geworden. So blieb Rachel Salamanders Muttersprache Jiddisch; 1956 in eine Münchner Schule aufgenommen, redete sie über ein Jahr lang kein Wort Deutsch und blieb stumm.
Der Entschluß der jungen Rachel, hierzubleiben, hat Gründe, die zu erforschen mir nicht ansteht: Es verbirgt sich ja hinter der Frage, die sie allzugut kennt - "Wie können Sie es in Deutschland nur aushalten?" - zumeist die unausgesprochene Sehnsucht des Fragenden nach einer begütigenden, ja vergebenden Antwort. Wohl aber lohnt es sich heute noch, auf das Deutschland ihrer Jugend zu schauen. Für den Holocaust gab es noch keinen festen Begriff; die Mörder lebten weiter unter uns - die ärztlichen Instigatoren der sogenannten "Euthanasie" praktizierten vornehmlich in Schleswig-Holstein, einer Art straffreien Zone; Freislers Stellvertreter arbeitete unbehelligt als Anwalt in Wiesbaden; kein einziger Richter oder Staatsanwalt des Dritten Reichs stand, bis auf eine einzige Ausnahme, je vor Gericht, im Gegenteil; viele von ihnen begannen ihre demokratische Karriere mit einem Meineid auf einem Fragebogen; der Pedell, der die Geschwister Scholl verraten hatte, tat weiterhin seine Pflicht an der Ludwig Maximilians Universität, wie so viele ungebrochene, ungefragte nationalsozialistische Ordinarien ebendort; Bayerns Kultusminister Maunz kommentierte zwar verbindlich das Grundgesetz, aber seine furchtbare Nazikarriere nicht; Hitlers Finanzminister Schwerin-Krosigk von 1933 bis 1945, verantwortlich für den Gold-Transfer aus den Todeslagern in die Schweiz, war Geschäftsführer des Wirtschaftsrats der CDU in Bonn; die Bundeswehr wurde aufgebaut auch von General Foertsch, mitverantwortlich für die Belagerung und Aushungerung der Stadt Leningrad ( über eine Millionen Tote ) ; in den Traditionsräumen der jungen Bundeswehr war der Krieg noch nicht verloren; im Bundesnachrichtendienst arbeiteten SS-Chargen wie Felfe, die ihre Charakterlosigkeit als Spione der UdSSR erneut unter Beweis stellten. Der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer konnte nur gegen großen Widerstand einen Prozeß gegen die wenigen Mörder von Auschwitz durchsetzen, derer man noch habhaft werden konnte. Der nach Südamerika geflohene Auschwitz- "Arzt" Mengele reiste in Deutschland aus und ein, ein "Stern" -Reporter auf seinen Fersen. Niemals angeklagt wegen ihrer Teilnahme am Völkermord wurden irgendwelche Offiziere der Wehrmacht, auch nicht diejenigen, die den Bewachungs- und Luftabwehr-Ring um die Vernichtungslager in Polen verstärkt hatten. Der Kölner Prozeß gegen eine Gruppe von deutschen Massenmördern aus den Rängen der pensionsberechtigten SS, die im KZ Sachsenhausen binnen weniger Woche mehr als 15.000 russische Kriegsgefangene durch eine Messlatte erschossen hatten, begann mit einer Unterschriftaktion freundlicher Nachbarn aus Bergisch Gladbach: Einer der Angeklagten sei ein außerdordentlich liebenswürdiger Zeitgenosse, man bürge für seinen Charakter. Die Mitglieder des inzwischen berühmt-berüchtigten Hamburger Polizeibattaillons 101,"Gewöhnliche Männer" allesamt, waren verurteilt worden und bereits wieder frei. Der Chef der mächtigsten Bank des Landes durfte und konnte aus gutem Grund in Amerika nicht einreisen: Er wäre verhaftet worden. Die Aufführung von Rolf Hochhuths "Stellvertreter" auf bayerischen Staatsbühnen war praktisch verboten ( bis zum Jahre 1986 ) . Es waren jene Jahre, so einigte man sich,"restaurativ" : Ein ungenaues Wort, denn der Nationalisozialismus war nicht mehr zu restaurieren. Es ware vielmehr Jahre unerträglicher, unmoralischer Gleichzeitigkeiten; das Land, genauer, die Funktionselite des Landes schien ihren Seelenfrieden mit sich selbst ohne Rücksicht auf die eigene Zukunft oder gar ihre Vergangenheit schließen zu wollen. All' dies endete im moralischen Aufruhr der 60er Jahre: Es war, neben anderen, die Generation der Töchter und Söhne, die einer Kultur des Verschweigens und Vergessens sich erfolgreich entgegenstellten. Eingeübt wurden in jenen Jahren freilich auch Rituale rückwärtsgewandter ethischer Rigorosität: Den Geschwistern Scholl war nicht zu trauen, da sie keinen korrekten Klassenstandtpunkt hatten; dem Mythos des 20. Juli wurde das kleine Lebenslicht ausgeblasen, weil seine Helden, die "Junker", den Absprung ins Heroische all zu spät gewagt hätten ( was mit den historischen Tatsachen nicht übereinstimmte ) . Der entscheidene intellektuelle Fehler jener Jahre war die Ablehnung der Totalitarismus-Theorie; der Nationalsozialismus, nicht aber die ganz und gar gegenwärtige Welt des Gulag hatte uns in Bann geschlagen.
Angelegt im verspäteten Antifaschismus meiner Generation war ein Gefühl moralischer Überlegenheit, gepaart mit einer unausgesprochenen, geradezu katholischen Hoffnung auf Selbstentlastung von der Schmach, Deutscher zu sein: Doch, so wurde die Last der Geschichte empfunden. Je massiver die Selbstkritik, desto heftiger die Hoffnung auf Vergebung. Doch wer sollte uns vergeben? Die Opfer konnten es nicht; wir selbst auch nicht. Gott als letzte Gnaden-Instanz kam im säkularisierten Deutschland nicht mehr in Frage; verzweifelte, keineswegs blasphemische Theologen hatten ihn bekanntlich schon in Auschwitz vermißt. Heute wirkt die Debatte um "Kollektiv-Schuld" vor dem Hintergrund eines gottlos gewordenen Nachkriegsdeutschland seltsam hohl, da seinerzeit dem Begriff von "Schuld" jedes transzendentale, biblische Gewicht schon längst abhanden gekommen war.
Dreißig Jahre später sollte sich schließlich eine große moralische Müdigkeit über das Land legen. Der eisernen Heftigkeit, mit der seit fast einem Jahrzehnt um den Bau eines Holocaust-Mahnmals in Berlin gestritten wurde, entsprach umgekehrt die intellektuelle Ermattung, die sich in Martin Walsers Friedenspreis-Rede zu Worte meldete: Endlich abzusehen von den ästhetisch unerträglichen Konfrontationen mit den Schreckensbildern aus befreiten Konzentrationslagern, endlich wegzuschauen - als sei dies nicht jedem Einzelnen von jeher gestattet - , das alles sollte wohl in Walsers geschliffener Rede von der Selbstkonstitution seines eigenen Gewissens eine allgemeine, ja, nationale Würde erhalten. Dazu freilich benötigte es eines Feindbildes. Dies baute er auf, in wolkigen Andeutungen und bekannten Richtungen...
Gewiß, wo Martin Walser so eindringlich über die Phänomenologie seines bedrängten Bewußtseins als Deutscher sprach, war er für mich sehr wohl zu verstehen; doch wo er seine ganz und gar privaten Nöte und ihre Aufhebung im Wegschauen als gleichsam praktischen Ausweg ausgab, folgte ihm noch nicht einmal sein Frankfurter Laudator. Ach, es hatte ja Rachel Salamander so Recht, als sie vor zwölf Jahren in einem Interview sagte: "Die Geschichte Deutschlands unter dem Nationalsozialismus hat bei Überlebenden und Nachkommen eine große Unsicherheit hinterlassen; darum gibt es jetzt eine Sehnsucht nach einem unbefangenen Nationalgefühl. Und man fragt sich, wohin die Deutschen gehen wollen." Sie wissen es selber nicht.
Es ist im übrigen die These dieses Redners, daß ein sogenanntes "unbefangenes Nationalgefühl", auch bekannt unter dem Namen "Normalität", sich stets manifestiert in der stillen Sehnsucht nach dem absoluten Neu-Anfang. Unser lineares Geschichtsbewußtsein hat sich der Tröstungen der Wiederkehr des Immergleichen entschlagen. In langweiligen Zeiten wie die Sumerer leben wir nicht. Unsere unterhaltsame Hoffnung ist die bessere Zukunft, möglichst ohne Not, ohne Arbeitslosigkeit, ohne Krankheit, ja, ohne Tod: Sie ist der Plausibilitätspunkt noch jeder demokratischen Regierungserklärung, ( von den religiösen politischen Erweckungsbewegungen dieses Jahrhunderts ganz abgesehen. ) Unser deutsches Problem ist aber das Gewicht unsere Vergangenheit - stumm, mörderisch und unverbesserlich liegt sie hinter uns, und ihre moralischen Skandale sind von solchen historischen Ausmaßen, daß sie nicht nur Geschichte, sondern Gegenwart bleiben, das heißt: Unvergessen - solange wir sie nicht mit gut gemeinten Gebärden oder schlecht überlegten Schlußstrichen der Vergessenheit anheimgeben.
Das war im übrigen der Kern meines Arguments gegen die ursprünglich vorgelegten Modelle des Holocaust-Mahnmals: Daß in der großvolumigen Geste des verstaatlichen Gedenkens im Denkmal zwar die Trauer um die Ermordeten aufscheine; daß zugleich aber der ästhetische Gestus des Denkmals vor dem künstlerisch undarstellbaren Ereignis des Völkermords an Europas Juden stets zu scheitern droht, ja scheitern muß - und daß in diesem Scheitern auch das Ende des Erinnerns zugunsten des ritualisierten Gedenkens beschlossene Sache sei. Am Ende funktioniert fast jedes Denkmal wie ein Schleusentor vor der Vergangenheit. Es schließt sie ab. Das von Peter Eisenman zusätzlich konzipierte "Haus der Erinnerung" soll den kognitiven Zugang zur Geschichte dieses Verbrechens mit einer Bibliothek, mit Archivalien zur Geschichte der Shoah offenhalten. Das Medium von Aufklärung, Wissen und Erinnerung ist das geschriebene Wort. Das geschriebene Wort war aber auch das Medium des bürokratisch vermittelten Terrors. Daß die Spuren des Verbrechens in den Akten der Schreibtischtäter versammelt sind, in Akten, die in Archiven des ganzen Landes verstreut liegen, verleiht der möglichen Funktion jenes "Hauses der Erinnerung" zusätzliche Bedeutung.
In den Jahren, in denen die junge Rachel Salamander ihre Summa-cum-laude Promotion über den "Verstehensbegriff in den hermeneutischen Wissenschaften" vorbereitete, lebte die kleine jüdische Gemeinde Deutschlands - kaum mehr als 25.000 - , in einer anderen Welt: Es war für die meisten von ihnen der moralische Umgang der Deutschen mit ihrer eigenen Geschichte eine gleichsam ausländische Angelegenheit, nicht die ihre. Für viele von ihnen, vor allem die Älteren, ist es dabei geblieben. Sie traten als Ankläger nicht auf, allenfalls als Zeugen, und viele von ihnen hatten nimmer zu überwindende Angst vor den Millionen Deutschen ringsum, vor der Politik, vor der Zukunft. Nur eines wußten sie: Schlimmer konnte es nie mehr werden. Wirklich nicht? Als im Februar 1970 mitten in München ein jüdisches Altersheim nach mörderischer Brandstiftung in Flammen aufging, als die armseligsten Lebens- und Sterbensumstände der sechs Opfer öffentlich wurden, wurde den meisten Münchnern überhaupt erst klar, daß noch Juden in ihrer Stadt wohnten, einige wenige noch...
Mehr als ein Jahrzehnt später, am 1. September 1982, öffnete Rachel Salamander in der Fürstenstraße 17 ihre "Literaturhandlung", spezialisiert auf die Literatur zum Judentum, wie 53 solcher Läden im deutschsprachigen Raum im Jahre 1927. Nun gab es wieder einen. Es war eine Einladung an die Deutschen, ja, an die Münchner, nachzulesen, was sie zerstört und verloren hatten. Ein Gang entlang den Buchregalen in der Fürstenstraße vermittelte gleichsam negativ-dialektisch ein triftiges Bild vom Wesen des Antisemitismus: Es ist illiterater Haß auf das geschriebene Wort, Feindseligkeit angesichts von Geschichte und Geschichten, pagane Abneigung gegen Monotheismus, nationalistische Verstockheit vis a vis kosmopolitischer Existenz, Intoleranz gegen fremde Religiosität - es ist, in einem Wort, der Antisemitismus die massiv gewordene Dummheit der Gosse, die sich auflehnt gegen die geistigen Anforderungen der Bibliothek, ihrer Autoren, ihrer Leser, ihrer Liebhaber. Rachel Salamanders kleines Buchgeschäft öffnete als Denk- und Erinnerungsstätte ein Fenster in die deutsch-jüdische Vergangenheit.
Von den zahlreichen ursprünglichen Gesellschaftern und stillen Teilhabern ihres Geschäfts, das ja keines ist, sind sechs geblieben. Sie erlebten die Verwirklichung einer kulturpolitischen Vision, aber vor allem durften sie eine Frau von unermüdlichem Fleiß, von Zielstrebigkeit und Mut beobachten. Elf Jahre später öffneten in Berlin und Wien zwei zusätzliche Läden - und alle folgen sie der gleichen Konzeption: Sie legen lebendiges, buchhändlerisches Zeugnis ab von der Geschichte des Judentums. Das Geschäft in München ist das größte deutsche Antiquariat für Judaica. Jedes Jahr publiziert Rachel Salamander einen Katalog mit durchschnittlich 7000 lieferbaren Titel zu den Themen jüdischer Geschichte, Religion, Literatur und, wie anders, des Holocausts. Er wird nicht nur von allen Judaistik-Lehrstühlen, jüdischen Gemeindebibliotheken in Deutschland, sondern auch von Germanistik- und Judaistik-Instituten in aller Welt, von Neuseeland bis Russland bestellt.
Es wäre dies alles rühmenswert genug angesichts der deutsch-jüdischen Geschichte, aber auch angesichts der haarsträubenden Überlebensnöte des qualifizierten Buchhandels im ganzen Lande; hinzu kommt indes die erstaunliche Gabe dieser Sortimenterin, ihr Geschäft immer wieder in einen Salon zu verwandeln, wie ihn allenfalls Berlin vor 170 Jahren kannte, einen Salon, den niemand betreten sollte, der auf Amüsement allein aus ist. Ihre Lesungen sind meist wegen Überfüllung "geschlossene Veranstaltungen", ein Privileg ist es, überhaupt, auf einem Stühlchen sitzen zu dürfen. Sie ist, in einem Wort, die Sylvia Beach von München, gestreng, wenn es sein muß, gelehrt von Haus aus, und niemals von jener schmelzenden Betulichkeit, die sich oft über öffentliche, deutsch-jüdische Gespräche zu legen droht. Und was die deutschen Universitäten in den 50er Jahren zu ihrer doppelten Schmach versäumten, nämlich die jüdischen Emigranten zurückzuholen ( so sie denn gekommen wären ) , holte Rachel Salamander buchstäblich in letzter Minute für sich und für München nach: In ihrer Vortragsreihe "Das Ende des Jahrhunderts" sprachen Hans Jonas, Henry Kissinger, Derek Walcott, aber auch Joseph Brodsky, Peter Brook und andere - wer sie hören durfte, verließ den Saal mit zufriedener Seele und der gleichzeitigen, schmerzlichen Ahnung, nein, mit dem Wissen von nicht wieder aufzuholendem Verlust.
Definiert sich so der Patriotismus meiner Generation? Nicht als "Liebe zur Verfassung" - Gesetze sollte man achten, nicht lieben - , sondern als schmerzhaftes Bewußtsein dessen, was hierzulande doch möglich gewesen wäre? War denn die fruchtbare Verschmelzung deutscher und jüdischer Kultur, war denn die unerhörte Entfaltung von Talenten jüdischer Wissenschaftler und Künstler deutscher Sprache oder Nationalität im 19. Jahrhundert nur ein grundloser Zufall? Waren denn diejenigen, die für den Rest der Welt den höchsten Standard von Physik, Chemie, von bewußtseins- und rechtskritischer Philosophie, von Sozialwissenschaft und Literaturkritik definierten, gleichzeitig allzu dumm, daß sie den deutschen "eliminatorischen Antisemitismus" übersahen, der, folgen wir Daniel Goldhagen, mit gerade eschatologischer Unaufhaltsamkeit nach Auschwitz führte?
Seltsam ist es schon, daß auf die offenkundigen Fragen nach Herkunft und Qualität dieser ungewöhnlichen Phase deutsch-jüdischen Zusammenlebens noch keine zufriedenstellenden Antworten vorliegen - sehen wir von Peter Gays bemerkenswerten Monographien ab. Es stimmt auch in diesem Zusammenhang zuversichtlich, daß das Leo Baeck-Institut in New York seine Rückkehr nach Berlin angekündigt hat... Hier wie in Rachel Salamanders Buchläden sind die Bücher versammelt, die von jenem erstaunlichen Kairos deutscher Kulturgeschichte erzählen können.
Vor zwölf Jahren noch meinte Rahel Salamander,"die vielgerühmte deutsch-jüdische Symbiose stellt sich ja für viele Überlebende als Illusion, gar als ein verhängnisvolles Mißverständnis dar, oder, wie Gershom Scholem es ausdrückte, als eine'Liebesaffäre, die aufs Große gesehen, einseitig und unerwidert ( blieb )'." Fraglos hat Scholems dunkle Sicht unsere Interpretation dieses erstaunlichen Abschnitts deutsch-jüdischer Geschichte maßgeblich beeinflußt; doch dürfen wir zweifeln: Es war ja weder eine Liebesaffäre, deren Scheitern bekanntlich stets beschlossene Sache ist, noch - hier widerspreche ich der Geehrten - ein Mißverständnis, und noch nicht einmal eine Symbiose - ; es war diese deutsch-jüdische Geschichte bis hin zu ihrem Ruin im Rassismus des Dritten Reichs der prekäre, widersprüchliche Versuch, aus dem protestantisch-katholischen Raster des immergleichen Antisemitismus zu entkommen in ein emanzipiertes Klima von Toleranz, Respekt und, in nicht wenigen Fällen, in die Versprechungen eines unbehelligten Lebens in Assimilation. Neben den Juden, die das Nürnberger Gesetz als solches definierte, gab es Millionen Deutsche mit jüdischen Familienwurzeln, Querverbindungen und Freundschaften. So bleibt die ernste Frage: Hätten die deutschen Juden, hätten die Juden in Deutschland zu Beginn des Jahrhunderts voraussehen können, wohin der rabiate Antisemitismus Wiener Provenienz führen wird... ? Mehr noch: Steckt in dieser Frage nicht auch der Versuch, die Opfer mitverantwortlich zu machen für das, was ihnen und ihren Kindern geschah?
Rachel Salamanders Lebenspassion ist es, auf der Suche nach solchen Fragen und ihren möglichen Antworten behilflich zu sein: Hier gleicht sie dem Verleger, der Debatten stiftet, ohne die korrekte Antwort parat zu haben. Das ist eine Fähigkeit, die in der Politik nicht weiterhilft, und so hat sie denn den naheliegenden Ruf, Kulturreferentin der Stadt München zu werden, bei Gelegenheit abgelehnt.
Ich selbst habe den Sprung gewagt - es ist die Politik eine andere Welt, bisweilen ohne die Gewißheiten, die selbst ein ungeöffnetes Buch auf dem Tisch vor mir verbreitet: Die Gewißheit, daß ich mich zumindest auf den Sinn der Buchstaben verlassen kann, daß zwischen der ersten und der letzten Seite der Autor seinen Überzeugungen wahrscheinlich treu bleiben wird, daß Mehrheitsentscheidungen keinen Einfluß haben auf den Fluß der Gedanken und Assoziationen bei der Lektüre, die Gewißheit kurzum, daß die wahre Freiheit immer noch die Freiheit des Geistes ist. In ihr bewegt sich Rachel Salamander, für sie hat sie ihr Leben eingerichtet, ihren Freunden und gewiß auch sich selbst zuliebe. Dafür haben wir ihr zu danken.