Redner(in): k.A.
Datum: 25.01.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/63/11763/multi.htm


Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um die redaktionell überarbeitete Fassung einer Rede des Staatsministers für Kultur und Medien bei der Eröffnung des EU-Symposiums "Europäische Geschichtskultur im 21. Jahrhundert", das vom 25. - 26. Januar 1999 in Bonn stattfand ) ... )

Spätestens seit dem Zerfall der kommunistischen Systeme in Europa öffnete sich der Raum für neue historische Perspektiven und Fragestellungen, die mehr als 50 Jahre durch ideologische und auch militärische Barrieren verstellt waren. Dazu trug bei, daß sich in vielen Ländern auch die Archive öffneten. Es liegt nahe, Europa jetzt als Ganzes wahr- und anzunehmen, die "Heimkehr nach Europa", wie Václav Havel diesen Vorgang bezeichnet hat, als konkrete Aufgabe zu betrachten. Denn der fundamentale Wandlungsprozeß wird gerade im postkommunistischen Europa durch neue Spannungen zwischen der Nationalstaatsidee und der europäischen Integration belastet.

Das vereinte Europa, das durch die Wirtschafts- und Währungsunion und durch die Aufnahme der Verhandlungen mit den beitrittswilligen Staaten einen weiteren Schritt vorangekommen ist, würde indes keine Zukunft haben, begriffe es sich lediglich als einen losen Interessenverband oder als eine gehobene Freihandelszone. Wenn die europäische Kultur einzig die Kultur des Geldes bleibt, ist Europa als Idee verloren - und im übrigen jene Währungseinheit früher oder später wahrscheinlich auch.

Das Europa der Zukunft muß viel mehr auch und vor allem eine Kulturgemeinschaft sein. Die europäische Identität ist ja durch beides geprägt: durch nationale Besonderheiten und durch das gemeinsame europäische Erbe. Das Ziel der europäischen Einheit schließt keineswegs die Vorstellung einer kulturellen und historischen Gleichförmigkeit ein. Erlebnisse einer gewissen Gleichförmigkeit der Boutiquenwelt, die die Besucher beliebter Ferienorte bisweilen machen können, sind eher bedrückend und signalisieren die Gefahr eines wirtschaftlich völlig vereinten Europa, in dem die handwerklichen und kulturellen Eigenheiten der Regionen unter dem Druck der Kommerzialisierung verloren gehen. Es geht also nicht um Homogenität, sondern um Einheit in Vielfalt.

Vor allem die Beschäftigung mit der gemeinsamen europäischen Geschichte wird helfen können, diese Einheit in Vielfalt zu gestalten. Der Begriff ist meines Erachtens kein rhetorischer Trick, sondern das, was wir in seiner Widersprüchlichkeit anstreben müssen. Dabei will ich nicht einem leblosen Historismus das Wort reden, sondern der Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln des heutigen Europa, die auch ein Stück seiner Zukunftsfähigkeit in sich trägt.

Die kulturellen Leistungen unseres alten Kontinents haben alle Zerrissenheit, alle schrecklichen Irrwege und europäischen Bürgerkriege überdauert. Aber sie waren auch Teil und eine Ursache all dieser schrecklichen Ereignisse. Sie machen den Rang Europas und sein Bild in der Welt aus. Deshalb darf die kulturelle und historische Dimension der europäischen Einigung gegenüber der Wirtschaftspolitik und der Währungsunion, der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und den anderen wichtigen Themen nicht als quantité négligeable angesehen werden.

Die Idee Europas ist auch nicht zuerst eine machtvolle Projektion dieser Einheit in die Wirtschaftsregionen der übrigen Welt. Die Idee Europas ist und bleibt ein Abschied von dem territorialen, tribalistischen und diplomatischen Irrsinn der Vergangenheit. Sie verwirklicht sich in der individuellen Freiheit, der Toleranz, der Neugier, der Gerechtigkeit, der Rechtstaatlichkeit und vor allem durch den kulturellen Austausch. Wenn das aus den Augen verloren wird - und das ist meines Erachtens bereits sichtbar - , werden sich hier im nächsten Jahrhundert unsere Nachfolger versammeln und über die Versäumnisse unserer Zeit nachdenken können.

Natürlich wollen wir einen prosperierenden Wirtschaftsraum, der sich auch im globalen Wettbewerb behauptet. Aber wir wollen auch ein Europa von verantwortungsbewußt denkenden und handelnden Bürgern. Deshalb war es gut und folgerichtig, im Maastrichter bzw. Amsterdamer Vertrag die Kultur als Aufgabe der Gemeinschaft zu verankern. Der Kulturartikel ist zu Recht so ausgestaltet, daß eine gemeinschaftliche - also möglicherweise zur Gleichförmigkeit tendierende - Kultur- und Geschichtspolitik in ihm keine Grundlage findet. Vielmehr sollen die traditionellen Träger und Verantwortlichen der Kulturpolitik - also die Mitgliedstaaten, Länder, Regionen und Gemeinden - entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip die gestaltenden Kräfte bleiben. Aber dazu brauchen sie auch ausreichende finanzielle Mittel.

Max Weber hat bekanntlich vom Rationalisierungsprozeß als einem ausschließlichen und bestimmenden Wesenszug Europas gesprochen und an diesem Leitfaden die Kontinuität Europas von den Griechen bis zur Gegenwart entwickelt. Er kannte damals noch nicht die enorme Wirtschaftskraft Japans, die sich entwickelt hat. Rationalisierung, Logik, Entzauberung - so glaubte Weber - prägten den Verlauf der europäischen Geistesgeschichte. Daß aber auch das Reden selbst von der Entzauberung zu neuen Entzauberungsphänomenen in der Wissenschaftsgeschichte, nämlich zu Selbstverzauberung, Selbstüberschätzung und auch zu Selbstüberheblichkeit, führen sollte, hatte er nicht bedacht.

Die Entdeckung der Vernunft verlieh jedenfalls den Europäern ein Instrument zur Beherrschung der Natur und der Menschen, wie es in anderen Kontinenten in dieser Form nie entwickelt worden ist. Rationalismus und Vernunft bedeuten aber auch Kritik, denn sie waren, wie wir wissen, dem Anspruch des Glaubens entgegengesetzt. Sie sind gewissermaßen als neue Schibboleths menschlicher Existenz in Gesellschaft und Geschichte die Antwort auf die Thematik der Kirchen.

Mit der Vernunft kam der Geist des Zweifels, der Skepsis und der Ironie in das europäische Denken, traten wieder die Rechte ein, die einst Sokrates, zumindest was das Zweifeln betraf, definiert hatte. Ungewißheit, Ambivalenz, Zweideutigkeit drücken seitdem die Spannung aus zwischen Vernunft und Glauben, Mythos und Logos, Aufklärung und Romantik, Tradition und Fortschritt.

Die Geschichte Europas ist aber auch die Geschichte der unaufhörlichen Kriege, die Geschichte von Unterdrückung, Gewissenszwang und Diktatur. Die monströse Effektivität der fürchterlichsten Massenvernichtung in der Geschichte, der nationalsozialistische Holocaust am jüdischen Volk und anderen Opfern des NS-Regimes, war in ihrer Rationalität spezifisch deutsch - eben gerade nicht eine "asiatische Tat", wie mancher Historiker meinte.

Ich stimme György Konrád zu, wenn er sagt: "Zwei verschiedene europäische Logiksysteme standen sich im vergangenen Jahrhundert gegenüber, und diese Konfrontation ist auch heute noch nicht verschwunden, sondern hat sich lediglich gewandelt. Die eine Vorstellung beinhaltet die Vereinigung Europas unter der Herrschaft einer Nation, während die andere Konzeption die freiwillige und gleichberechtigte Assoziierung der Nationen fördert. Die allzu überzogene Eigenliebe der einen Gemeinschaft führte zur Erniedrigung und Vernichtung der anderen Gemeinschaften. Der Gedanke der hierarchischen Unterscheidung von Völkern und Nationen ist äußerst abstrakt, doch der daraus folgende Massenmord scheußlich konkret."

Ergänzend könnte man sagen: Auch die Hingabe an den Glauben an eine gerechte kommunistische Ideologie ist im Gulag und einem seelenlosen bürokratisch-verknöcherten Parteiapparat untergegangen und war für den einzelnen Menschen nicht minder gefährlich. Die schleichenden Entmündigungen, die dort verborgen sind, sind in den letzten Jahren, Gott sei Dank, lautstark thematisiert worden.

In seinem neuesten Buch "Wieviel Geschichte braucht die Zukunft?" stellt Eric Hobsbawm fest: Früher habe er immer gedacht, als Historiker könne man im Gegensatz zu einem Kernphysiker keinen Schaden anrichten. Unsere Untersuchungen, sagte er, können zu Munitionsfabriken werden. Was heißt "können" ? Sie wurden es "wie die Werkstätten, in denen die Kämpfer der IRA gelernt haben, aus Kunstdünger Sprengstoff herzustellen". Nun, diese Werkstätten haben auch die Arbeit der Historiker permanent belastet und begleitet, ob sie nun im Osten oder im Westen Europas liegen. Hobsbawm fordert heute die Historiker auf, die Verbreitung von nationalistischen Mythen entschlossen zu bekämpfen. Die meisten von ihnen tun dies schon seit geraumer Zeit.

Nahezu alle europäischen Völker waren im Verlauf ihrer Nationen- und Staatenbildung ständig darauf bedacht, ihre jeweilige Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit hervorzuheben. Die historischen Mythen sind durchweg solche der Vereinigung nach innen und der Abgrenzung nach außen. Sie versuchen die Einheit aller Mitglieder der Nation in einer einzigen, homogenen Gemeinschaft mit möglichst göttlichem Ursprung oder in einer Art der historischen Genesis, in einer archaischen, von jeglicher Überprüfbarkeit entfernten Urgemeinschaft zu rechtfertigen.

Die Mythen haben weiterhin die Funktion gehabt, Grenzen zwischen sich und den jeweils anderen Nationen und ihren Mythen zu ziehen. Diese Grenzziehung stimmte - wie wir alle wissen - oft genug mit den territorialen Grenzen überein, und nur dort, wo es Sprachräume gab, welche die territorialen, meistens militärisch etablierten Grenzziehungen überlappten, waren die nächsten Konflikte bereits angelegt.

Das erste Element, in dem sich die Nationen einig waren und oft noch sind, ist der Glaube an die Kraft der Mythen als ihre eigentliche Geschichte. Mythos heißt aber im Griechischen nicht nur "Geschichte, Legende, Erzählung", sondern auch "Lüge". Auch und gerade die größten Historiker des 19. Jahrhunderts haben in dem Bemühen, eine möglichst objektive Darstellung der jeweiligen nationalen Geschichte zu geben, im Ergebnis nur allzu oft die nationalen Mythen als wissenschaftliche Wahrheit verkleidet.

Die konstruierte, organisierte und kollektive Beschwörung großer Augenblicke der Vergangenheit ist eine regelrechte "kollektive Erneuerung" durch die gesamte Nation, die mit der Hilfe von Jubiläen, Lehrplänen, Gedenkfeiern jeder Art, auch Denkmälern, zu den Ursprüngen ihrer Existenz als Gemeinschaft zurückkehrt.

Kult der Geschichte und Kult der Nationen sind somit unzertrennlich und gefährlich miteinander verbunden. Als religiöse Praxis verwandelt die Zelebrierung der großen Augenblicke die Nation oft genug in ein undurchsichtiges Gewebe von Mythen: Der Mythos ist weiterhin kraftvoll als symbolisch wirksame Struktur, die die permanenten Funktionen von Bestätigung, Legitimation und Regulierung für die gesellschaftliche Erhaltung und Erneuerung einer Gemeinschaft garantiert. Er erklärt aber in Wirklichkeit die Existenz solcher Gesellschaften nicht, sondern deutet sie in der Figur von oft religiös legitimierten Ursprungsgeschichten. Der Ursprung wird in die Totalität der Zeit eingeordnet: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden im Mythos zusammengefaßt, und seine Wirkungskraft erleben wir gerade wieder im Kosovo.

Zusammengenommen und aus der Distanz eines an Krisen und Brüchen besonders reichen Jahrhunderts betrachtet, erscheinen diese nationalen Mythen strukturell von Nation zu Nation ähnlich, wenn nicht sogar austauschbar. Den anderen besser verstehen, heißt, dieser Austauschbarkeit der Mythen zu entkommen und einzutreten in das präzise, aufklärende, rationale und nicht mehr zu politischen Zwecken zu mißbrauchende Beschreiben von dem, was war, und von dem, was sein könnte.

Auf allen Vermittlungsebenen historischer und zeitgeschichtlicher Ereignisse bedeutet dies nicht, die nationale Geschichte für sich alleine zu betrachten, sondern als einen Mosaikstein des europäischen Geschichtsbildes darzustellen. Wie notwendig und wichtig diese Aufgabe ist, beweisen immer wieder Umfragen unter jungen Menschen in Europa, die nicht selten ein äußerst wirklichkeitsfremdes Bild ihrer Nachbarn haben.

Ich hoffe und wünsche, daß dieses Symposion dazu beitragen wird, die Wirksamkeit der bisherigen Förderprogramme der Europäischen Union und des Europarats für die Kenntnis der Geschichte der europäischen Völker zu verstärken. Die Bundesregierung ist jedenfalls gerne bereit, daran tatkräftig mitzuwirken.