Redner(in): Christina Weiss
Datum: 17.03.2004

Untertitel: Im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig erinnert Christina Weiss an die wechselvollen Beziehungen zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken vor dem Hintergrund der größten Erweiterung der Europäischen Union seit ihrer Gründung.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/25/623625/multi.htm


Leipzig ist der richtige Ort, um daran zu erinnern, dass es Unterzeichner der Charta 77 in Prag waren, die vor fast zwanzig Jahren in einem mutigen Plädoyer ein Tabu brachen und zur Überwindung der deutschen Teilung im Rahmen der europäischen Einigung aufriefen. Man könne niemandem, auch nicht den Deutschen, das Recht auf Selbstbestimmung absprechen. Wir sollten immer wieder dankbar daran denken, dass es mutige Bewegungen wie diese waren, die den Einsturz der Berliner Mauer erst ermöglicht haben.

Heute stehen wir kurz vor der größten Erweiterung der Europäischen Union seit ihrer Gründung. Damit wird das wohl umfangreichste, komplizierteste, aber auch großartigste Unternehmen in der Geschichte der internationalen Politik verwirklicht. Wir haben nun die einzigartige Chance, unsere Geschichte gemeinsam, nach Maßgabe von Phantasie und Vernunft, Empathie und Solidarität zu gestalten.

Für Deutschland und seine direkten östlichen Nachbarn, Polen und Tschechien, bedeutet die Erweiterung eine besondere Herausforderung. Vielleicht kann man sogar sagen, dass sich hier, entlang der früheren Systemgrenze, das Gelingen oder Scheitern des Einigungsprozesses am deutlichsten bemerkbar machen wird. Mehr noch: hier läßt sich jetzt schon erkennen, welcher Fähigkeiten es bedarf, damit die künftigen europäischen Bürger ihr Zusammenleben friedlich zuwege bringen. Einen besonderen Beitrag leistet hierbei die Kultur.

Die Voraussetzungen sind gut. Denn mit keiner anderen Nation sind wir an der Ostgrenze historisch, aber auch affektiv so eng verbunden wie mit der tschechischen bzw. einstmals tschechoslowakischen.

Meine Damen und Herren,

noch einmal ein Blick zurück: der Prager Frühling und seine brutale Niederschlagung im August 1968 gehört zu den epochalen Erfahrungen unserer Generation. Libu š e Moniková , die tschechische Autorin deutscher Sprache, die sich ihr Leben lang daran freuen konnte, daß Shakespeare "kraft seines Nichtwissens und seiner Poesie" Böhmen ans Meer verlegt hatte, erlebte damals "ein Land, das nicht mehr am Meer lag - die Armeen kamen und rückten es dorthin, wohin es gehören sollte, an den Rand der Steppe."

Mit ihren tschechoslowakischen Nachbarn haben viele, vor allem junge DDR-Bürger, die größte Hoffnung und die endlose Verzweiflung geteilt - von Konsequenzen wie Haftstrafen, Berufsverboten, Zukunftszerstörung gar nicht zu reden. Damals entschlossen sich viele, Dissidenten zu werden.

Vierzig Jahre lang hatten Deutsche, Tschechen und Slowaken gleichsam eine doppelt gemeinsame Geschichte, in der wir wie im Spiegel das deutsch-deutsche Verhältnis erkennen. 1968 war ein Schlüsseljahr. Was danach kam, die gedankenlos und euphemistisch "Normalisierung" genannte Phase, d. h. eine neue Eiszeit im Osten, aber auch der Beginn der Brandtschen Ostpolitik, Helsinki-Konferenz und Charta 77 wird noch immer diskutiert und kontrovers beurteilt. In dieser Zeit intensivierten sich die Beziehungen zwischen tschechoslowakischen Bürgern und ihren Nachbarn in beiden deutschen Staaten. Und eine verschwindend geringe Minderheit suchte den Kontakt zu der verschwindend geringen Zahl von Oppositionellen. Gegen Ignoranz und Gleichgültigkeit bemühten sich hartnäckige Bürger aus Westdeutschland, für ihre Kollegen in beiden Ländern etwas zu tun. Zivilcourage, praktische Hilfe und Solidarität gehören zum besten, was die deutsch-tschechisch-slowakischen Beziehungen hervorgebracht haben.

Meine Damen und Herren,

ein so schmerzhaftes, wie unaufgelöstes Thema blieb während des Ost-West-Konflikts weitgehend ausgeklammert: das lange Zusammenleben von Deutschen und Tschechen in den böhmischen Ländern und sein gewaltsames Ende in den Jahren 1938 bis 1948. Darüber, wie die Vertreibung vonstatten ging, wollte man lange Zeit nichts mehr hören.

Zu Beginn seiner Amtszeit als Präsident entschuldigte sich Václav Havel, einer der Unterzeichner des eingangs zitierten Prager Aufrufs, für die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei. Sein wiederholtes Bekenntnis genügte manchen der Betroffenen nicht. Damit begannen die deutsch-tschechischen Mißverständnisse, die bis heute nicht ausgeräumt sind. Obwohl es eine deutsch-tschechisch-slowakische Historikerkommission gibt, die seit 1990 arbeitet und sich aller heiklen Fragen annimmt; trotz der deutsch-tschechischen Erklärung 1997, in der beide Seiten das jeweils eigene Unrecht anerkennen und übereinkommen,"daß sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden."

Trotzdem der Prozeß der Aussöhnung längst begonnen hat, werden alte Rechnungen wieder aufgemacht. Je näher der Zeitpunkt des EU-Beitritts der osteuropäischen Länder rückt, desto erbitterter wird die Debatte, desto starrer die Haltung auf beiden Seiten. In meinen Augen gibt es zwei Antworten auf diese unselige Situation: den Dialog zwischen Bürgern und die Aufhebung in den europäischen Kontext. Ich höre immer nur Gespräche über Deutsche und Tschechen, als ob die Nationen Granitblöcke wären ", klagt Peter Demetz." Ich vermisse die historische Erinnerung an die Nuancen, Schattierungen, die geplagten Menschen in den Zwischenräumen der Politik und der Geschichte."

Seltsam, daß so wenig von Trauer, von gemeinsamer Trauer, die Rede ist in unseren Debatten. Die Unfähigkeit zu trauern gründet in dem verinnerlichten Wissen, daß die Vertreibung unauflöslich mit den Verbrechen der Nazis verbunden ist. Der Preis ist die Verarmung, Verkümmerung, der Verlust einer ganzen Welt. Bis auf den heutigen Tag ist es schwer, hinter Schuld, Verbrechen und Aufrechnung die Geschichte des Verlorenen wieder zu entdecken.

Doch je intensiver wir unsere Kontakte und Freundschaften nutzen, je mehr Vertrauen und Wärme zwischen uns entsteht, desto größer ist die Chance, daß wir die neuralgischen Punkte unserer gemeinsamen Geschichte berühren und bearbeiten können. Wir müssen uns darüber verständigen, geduldig, offen, warum wir sie grundverschieden wahrnehmen. Nur so kann die Teilung der Erinnerung überwunden werden. Zu dieser Anstrengung gehört auch, daß wir, wie Bernhard Schlink es formuliert,"dem schwierigen Umgang der anderen Seite mit einer Vergangenheit, die unsere Seite zum Trauma gemacht hat, Respekt schulden".

All dies geschieht bereits. Dank der Kulturförderung des Bundesvertriebengesetzes besitzen wir längst ein dezentrales Netzwerk an Einrichtungen, das nicht nur die Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa bewahrt und Erinnerung ermöglicht, sondern den Dialog mit den Nachbarn führt. Wir müssen dafür sorgen, daß diese Aktivitäten sehr viel stärker in die Öffentlichkeit ausstrahlen.

Die Partnerschaften, die hier in der Mitte Europas entstehen, können die zerstörte Symbiose zwischen Tschechen und Deutschen nicht wiederherstellen. Die böhmisch-mährisch-slowakische Kulturlandschaft, die vielsprachigen und multikonfessionellen Städte wie Prag oder Brünn gehören für immer der Vergangenheit an. Diese mitteleuropäische Welt, in der die jüdische Bevölkerung eine zentrale Vermittlerrolle, eine Brückenfunktion einnahm, ist durch den Nationalsozialismus, die Shoah wie auch durch Stalins Terror vernichtet worden. Aber wir können gemeinsam den Boden betreten, in dem, wie der tschechische Theologe Tomá š Halík schrieb, die verbrannten Trümmer und vergessenen Schätze lagern. Auf diesem Boden wollen wir das kühne Projekt der europäischen Einigung errichten.

Meine Damen und Herren,

die Ausstellung, die wir heute eröffnen, weitet den Blick, indem sie die dramatischen Ereignisse der Jahre 1938 bis 1948, auf die sich die öffentliche Aufmerksamkeit verengt hat, in ihren Kontext stellt. Sie zeigt auch, warum sich die Slowaken völlig anders an diese Zeit erinnern. Und daß es eine unabhängige Slowakei, einen Staat nicht von deutschen Gnaden, geben kann. Viele von uns kennen die Slowakei kaum. In einem vereinten Europa wird sich auch das ändern. Die Erneuerung des gemeinsamen europäischen Gedächtnisses geht von einem erwachten Gewissen aus ", schreibt Tomá š Halík, der Präsident der Christlichen Akademie. Nur das Licht des Gewissens kann die dunklen Winkel unseres" kollektiven Bewußtseins "ausleuchten. Um ihre Zukunft in Vielfalt geeint zu gestalten, müssen sich die Völker Europas ihrer Geschichte erinnern, der gemeinsamen wie der trennenden." Es geht um die Kunst, die eigene Geschichte auch aus der Perspektive der anderen zu lesen, auch wenn dies einen schmerzhaften Eingriff in die Grundpfeiler des eigenen Selbstbewußtseins, eine Infragestellung der eigenen Identität bedeuten kann."

Ich wünsche mir, daß diese Ausstellung zur Selbstreflexion anregt - leider eine vernachlässigte Tugend unserer politische Kultur. Ich wünsche mir eine von Verzerrungen freie Geschichtsbetrachtung, ein von Verkrampfungen und Ängsten befreites Miteinander. Verständnis, Respekt und Verantwortung müssen unser Sprechen wie unser Handeln leiten. Denn zu einer Kultur des Dialogs gibt es keine Alternative.

Ich danke allen, die an der Vorbereitung der Ausstellung beteiligt waren und hoffe auf ein offenes Publikum. Vielen Dank!