Redner(in): Christina Weiss
Datum: 20.03.2004

Untertitel: Rede von Kulturstaatsministerin Weiss zur Eröffnung der "American Season 2004" in Berlin am 20. März 2004. Die "American Season" begleitet mit einer Reihe von Veranstaltungen die Ausstellung "Das MoMa in Berlin".
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/76/625876/multi.htm


wir alle stehen in diesem Augenblick noch unter dem gewaltigen Eindruck, den die Aufführung der vierten Symphonie von Charles Ives in uns ausgelöst hat. Zumal, wenn sie von solch herausragenden Interpreten wie denen des heutigen Konzertabends ausgestaltet wurde. Ohne die beiden anderen, ebenfalls aufgeführten Werke herabmindern zu wollen - diese in ihren tektonischen und strukturellen Ausmaßen einzigartige Symphonie, die 1965 von Leopold Stokowski und dem American Symphony Orchestra aus der Taufe gehoben wurde, darf mit Fug und Recht als ein würdiges Opus zur Eröffnung unseres Festivals "American season 2004" betrachtet werden. Und das nicht nur, weil sie durch ihre nachgerade beängstigende Fülle von rhythmischen und satztechnischen Herausforderungen gleichsam Synonym ist für die zahlreichen multikulturellen Strömungen und Verflechtungen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Mit dieser Symphonie bereitete Ives den Weg für eine selbstbewusste Musikstilistik Nordamerikas; und es ist darin - klingend - ein Begriff formuliert, der für die Kunst allgemein als Triebfeder gelten sollte, ja gelten muss: der Begriff der Utopie. Und, damit verbunden, die Aufforderung zum Dialog vermittels der Kunst. Sei sie musikalischer oder literarischer, filmischer, malerischer oder theatraler Gestalt.

Dialog: das ist ein relevantes, wenn nicht das zentrale Wort des Rahmenprogramms zur MoMA-Ausstellung, das gemeinsam von DaimlerChrysler, den Berliner Festspielen, den Freunden der Nationalgalerie und meinem Haus erdacht und verwirklicht wurde. Dialog jedoch nicht im, wenn ich das so sagen darf: kammermusikalischen Sinne, sondern Dialog in seiner orchestralen, sprich: multilateralen Bedeutung. So wie Ives die Stimmen in seiner vierten Symphonie ineinander verschlingt, so wie er sakrale und sakuläre Liedkunst nebeneinander stellt, ohne Partei für diese oder jene zu nehmen - so ist es auch ein zentrales Anliegen der "American Season 2004", die verschiedenen Leitlinien der amerikanischen Kultur aufzuzeigen und die tiefe Verbundenheit zur europäischen, ganz besonders aber zur deutschen Kultur sichtbar zu machen. Das scheint mir auch deswegen wesentlich und wichtig, weil nicht selten das Klischee, welcher Art eine Kunst sei, die wahre Kunstanschauung und Rezeption von Kunst trübt; getrübt hat. Diese Missverständnisse aufzulösen, neugierig zu machen auf die Vielfalt der kulturellen Erscheinungen, hier und da vielleicht die allzu festgefügte Wahrnehmung zu schärfen - das ist das Ansinnen von "American Season 2004". Fäden sollen gesponnen werden, über die Spartengrenzen hinweg. Und vielleicht wissen es einige unter Ihnen: Eine solche Grenzüberschreitung spielt auch in der soeben gehörten Symphonie von Charles Ives eine nicht eben unscheinbare Rolle."MISSIONARY CHANT", ein in den Vereinigten Staaten äußerst populäres Lied und von Charles Ives im vierten Satz der Symphonie verwendet, stammt aus der Feder des Komponisten Heinrich Christopher Zeuner, der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von Deutschland nach Amerika auswanderte. Also ein Grenzgänger im besten Sinne war.

Ich danke an dieser Stelle sehr herzlich den Berliner Festspielen, die die Attraktionen bündelten und verpackten, DaimlerChrysler für ein wunderbares Programmbuch und diesen würdigen Empfang, und nicht zuletzt Peter Raue für seine bezwingende, sprühende Idee. Ich wünsche uns allen einen schönen Abend und jede Menge an spannenden, blickerweiternden Kunsterlebnissen bei der "American Season 2004". Vielen Dank!