Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 27.05.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der deutsch-mexikanischen Handelskammer, am Donnerstag, 27. Mai 2004, in Mexiko:
Anrede: Verehrter Herr Präsident Witt, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/08/658908/multi.htm


ich gratuliere Ihnen zunächst, Herr Präsident, zu Ihrer Wahl. Ich bin ganz sicher, dass Sie das, was Sie sich vorgenommen haben und was Sie hier eben als in der Tradition der Kammer stehend ausgeführt haben, auch erreichen werden.

Wir alle wissen, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Wert guter und fairer bilateraler Wirtschaftsbeziehungen erweist sich gerade in international schwierigen Zeiten, und wir haben international schwierige Zeiten. Er erweist sich dann als Faktor von Stabilität, aber auch als eine ganz solide Basis für gemeinsames Handeln in der globalisierten Welt. Gute Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sind also weit mehr als nur die Verfolgung ökonomischer Interessen, und die sind gewiss wichtig genug. Wirklich gedeihen können diese Beziehungen aber nur, wenn sie Türen öffnen zu besserem Verständnis der Menschen in den Gesellschaften untereinander.

Das große Potenzial dieser Beziehungen zeigt sich dann, wenn die Länder, um die es geht, gemeinsam Verantwortung übernehmen - für Frieden und Entwicklung, für die Rechte der Menschen, für die Entfaltung ihrer Möglichkeiten und für die Teilhabe möglichst Vieler am Fortschritt. Das sind Ziele, denke ich, die wir alle miteinander als wertvoll ansehen und vertreten können. Für diese Ziele werden wir morgen beim EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel eintreten. In dieser Hinsicht und weil wir das miteinander tun wollen, sind die mexikanisch-deutschen Beziehungen auch ein Stück weit Vorbild dafür, was wir morgen in einer sehr großen Runde erreichen wollen.

Der Präsident hat es erwähnt: Vor 75 Jahren haben sich mexikanische und deutsche Kaufleute zusammengeschlossen, um den bilateralen Wirtschaftsaustausch voranzubringen. Die Anstrengungen haben sich gelohnt: Im vergangenen Jahr betrieben unsere beiden Länder Handel im Volumen von acht Milliarden Euro. Das ist steigerbar und soll auch gesteigert werden - nicht zuletzt durch die Anstrengung der Kammer. Deutschland ist heute Mexikos wichtigster europäischer Handelspartner - und das wollen wir auch bleiben, und wir wollen das weiter entwickeln.

Aber es geht eben nicht allein darum, dass man aus diesem Handel Nutzen zieht. Ein mindest ebenso wichtiges Ergebnis ist Mexikos erfolgreiche Integration in die Weltwirtschaft. Diese Integration ist Mexiko in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, zum Nutzen seiner Wirtschaft und seiner Menschen. Wenn man das sagt, dann wird man nicht ausblenden, dass diese Gesellschaft anders strukturiert ist als etwa die westeuropäischen Gesellschaften, die deutsche eingeschlossen. Wenn man über Bildungsfragen und über Fragen der sozialen Kohäsion redet, dann kann man Europa vielleicht nicht als Modell empfehlen, das andere sich überstülpen könnten. Aber es ist schon ein Entwicklungsmodell, das deutlich macht, dass Orte, wo Menschen leben, immer mehr sind als nur ein Markt, sondern dass dort gesellschaftliches Leben und möglichst gleiches Leben stattfinden kann.

Mexiko ist vorankommen; daran besteht kein Zweifel. Neben der Einbindung in die nordamerikanische Freihandelszone hat sicher auch das europäische Freihandelsabkommen entscheidend dazu beigetragen, dass es wirklichen Fortschritt gibt. Wir wissen das alle - und wer wüsste das besser als Sie: Mexiko gehört zu den zehn wichtigsten Industrienationen der Welt. Es ist die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas, die zehntgrößte in der Welt und damit die führende Wirtschaftsnation in dieser Region. Unterdessen sind mit dem Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Mexiko die Zölle praktisch in jedem Bereich abgeschafft. Das zeigt nicht nur die großen Entfaltungsmöglichkeiten für deutsche Unternehmen in Mexiko auf. Das zeigt auch: Die deutschen und europäischen Märkte stehen auch und gerade mexikanischen Unternehmen offen.

Wenn ich hinzufügen darf: Investitionen mexikanischer Unternehmen in Deutschland sind nicht nur unseres eigenen Landes wegen erwünscht. Präsident Witt hat es anklingen lassen, dass es Befürchtungen gibt, die Aufmerksamkeit der Europäer, der Deutschen, bezogen auf Mexiko könnte wegen der Erweiterung der Europäischen Union nachlassen, weil sehr viel Kraft, auch Investitionskraft, in diesen neuen Mitgliedstaaten verwendet werden würde.

Natürlich wird das der Fall sein, aber wir wären töricht, wenn wir in unserer Aufmerksamkeit auf Lateinamerika, auf Mexiko speziell, nachließen. Denn dann würden wir Märkte preisgeben, die wir nicht preisgeben dürfen und auch nicht wollen, weder im wohl verstandenen deutschen noch im wohl verstandenen mexikanischen Interesse. Denn dieses Land, so wichtig seine freundschaftlichen, ökonomischen und politischen Beziehungen zu seinem großen Nachbarn sind, hat natürlich auch ein Interesse daran, durch die engen Beziehungen zu Europa und zu Deutschland ein Stück ökonomischer Unabhängigkeit zu bewahren oder auch zu bekommen. Ich bin davon überzeugt, dass in diesem Prozess die deutsch-mexikanische Handelskammer eine wirklich wichtige Rolle spielen kann und auch wird.

Mehr als 800 deutsche Firmen sind heute in Mexiko vertreten. Man sollte ruhig einmal mit einigem Stolz sagen: Für einige ist das eine sehr lange Erfolgsgeschichte: Siemens ist 110 Jahre in Mexiko, Bayer mehr als 80 Jahre, Volkswagen seit 50 Jahren. Darüber hinaus engagiert sich in Mexiko aber auch eine Vielzahl kleiner und mittelständischer deutscher Unternehmen, vor allen Dingen auch aus dem Hightech-Bereich. Ich finde, das gehört allemal betont. Natürlich freuen wir uns über die großen deutschen Adressen, die hier präsent sind. Aber so wie das im eigenen Land auch ist, werden natürlich die meisten Arbeitsplätze und auch die meisten Ausbildungsplätze von den mittelständischen Unternehmen vorgehalten. Sie bilden das Rückgrad einer prosperierenden Industrienation. So ist klar, dass das Vorhaben der Kammer, mehr Mittelständler für Mexiko zu interessieren, nur begrüßt werden kann.

Auch das darf man sagen: Immerhin 100.000 Beschäftigte gibt es in Mexiko in deutschen Unternehmen. 5 % des mexikanischen Bruttoinlandproduktes werden dort erwirtschaftet. Darauf kann die Kammer stolz sein, darauf können die Unternehmen stolz sein, und das ist gut für die mexikanisch-deutschen Beziehungen.

Ich sprach, meine Damen und Herren, eingangs von Verantwortung. Deshalb betone ich gern, dass viele deutsche Unternehmen in Mexiko Standards gesetzt haben: in Sachen Menschenrechte, bei der Arbeitsorganisation, aber auch in sozialer Verantwortung. Ich finde, dass das erwähnt gehört, weil das eine gute deutsche Tradition ist. Auch hier hält Volkswagen an seinen ausländischen Standorten die gleichen Produktions- und Qualitätsstandards ein wie in Deutschland.

Dies hat übrigens auch erheblich zur Durchsetzung solcher Standards in Zulieferbetrieben beigetragen. Es sind diese Standards der Qualität und der Verantwortung, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen in seiner Initiative für einen "Global Compact" eingefordert hat. Ich denke, wir können stolz darauf sein, dass deutsche Firmen in dieser Hinsicht auch in Mexiko mit gutem Beispiel vorangehen. Wertschätzung der Menschen und ihrer Arbeit, soziale Verantwortung des Unternehmens - das sind nicht nur Fragen der Moral, sondern nach meiner festen Überzeugung auch Fragen ökonomischer Prosperität.

Meine Damen und Herren,

Mexiko und Deutschland begreifen ihre Verantwortung auch so, dass sie sich gemeinsam für gerechte Regeln im Prozess der Globalisierung einsetzen. Darauf sind insbesondere die schwachen und die schwächsten Volkswirtschaften angewiesen. Gerade deshalb habe ich sehr bedauert, dass das WTO-Ministertreffen in Cancún im vergangenen Jahr kein Erfolg war. Aber die Welthandelsrunde der WTO darf damit nicht am Ende sein. Deutschland ist und bleibt dem Freihandel verpflichtet, und wir versuchen, diese Philosophie auch in den internationalen Organisationen, in unseren Bündnissen, durchzusetzen.

Die Europäische Kommission hat unsere Forderung aufgegriffen, Export-Subventionen vollständig abzubauen, und zwar sowohl in Europa als auch in Nordamerika. Wenn ich über Exportsubventionen rede, meine ich insbesondere die, die die Landwirtschaft betreffen. Ich glaube, wir müssen als Industriestaaten einsehen, dass wir nicht nur Märkte bekommen können, sondern auch welche geben müssen - nicht zuletzt für Agrarprodukte aus den ärmsten Ländern der Welt. Wir müssen auf diese Weise erreichen, dass möglichst viele Menschen von den Früchten der Globalisierung etwas haben. Eine Welt nämlich, die in Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer zerfiele und eine übergroße Zahl von Menschen zu andauernder Perspektivlosigkeit verurteilte, wäre nicht friedensfähig. Eine solche Welt wäre ein Nährboden für Instabilität, neue Risiken, neue Unsicherheiten und vor allen Dingen für diejenigen, die Terrorismus betreiben. Auch deshalb wollen wir nicht nur die Märkte und die Produktion globalisieren, sondern auch Wohlstand und Gerechtigkeit.

Meine Damen und Herren,

auf dem morgigen Gipfel der Staaten Lateinamerikas, der Karibik und der Europäischen Union werden wir uns auch intensiv mit Fragen des sozialen Zusammenhalts beschäftigen. Denn in der Globalisierung ist auch die soziale Frage längst nicht mehr ausschließlich die Angelegenheit einzelner Volkswirtschaften und Nationalstaaten. Wir müssen auch den sozialen Zusammenhalt global gestalten. Das wird nur gelingen, wenn die Industriestaaten eng zusammenarbeiten. Das wird ein Thema auf dem morgigen Gipfeltreffen sein.

Darüber hinaus geht es um unsere gemeinsame Verantwortung für die Entwicklung in der Welt, also um einen effektiven Multilateralismus. Deutschland - aber ich weiß das aus meinen Gesprächen mit dem Präsidenten Mexikos- , aber auch Mexiko, bleiben davon überzeugt, dass die großen Herausforderungen unserer Zeit nicht von einem Staat oder einer Macht - und sei sie die größte und einzig größte der Welt - bewältigt werden können, sondern dass wir das nur gemeinsam erreichen können. Wir bleiben davon überzeugt, und Deutschland ist bereit, in einem multilateralen System - gerade auch in den Vereinten Nationen - noch mehr internationale Verantwortung zu übernehmen. Wir freuen uns, dass wir auch vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte inzwischen sehr viel Unterstützung, nicht zuletzt aus den lateinamerikanischen Staaten und von Mexiko, dafür bekommen.

Mexiko und Deutschland verbindet die gute Erfahrung enger Zusammenarbeit, die wir im vergangenen Jahr gemacht haben, als unsere beiden Länder gleichzeitig dem Sicherheitsrat angehörten. Beide wollen wir die Vereinten Nationen stärken. Beide wollen wir Reformen, die dem Sicherheitsrat zu mehr Repräsentativität - und damit zu mehr Legitimität - verhelfen. Denn nur aus Legitimität erwächst die erforderliche Autorität, die der Sicherheitsrat braucht, um seine Entscheidungen nicht nur zu treffen, sondern um sie mit Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft auch durchsetzen zu können.

Meine Damen und Herren,

unsere beiden Länder sind mehr als gute Geschäftspartner. Wir sind einander durch vielfältige Beziehungen in Freundschaft verbunden. Mexiko und Deutschland teilen die Ziele von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit - Ziele, die natürlich nie auf Dauer und immer während gesichert sind, sondern die in jeder Generation bewahrt und manchmal auch erkämpft werden müssen. Alexander von Humboldt, dessen Leistungen im vergangenen Jahr in Mexiko vielfach gewürdigt wurden, hat - als Fazit seiner Entdeckungsreisen - einen, wie ich finde, bemerkenswerten Satz formuliert: Dass wir uns die Welt "aneignen" sollten, ohne sie zu besitzen oder gar zu zerstören. Ich finde, das sollte man sich gelegentlich in Erinnerung rufen. Verantwortung kann eben nicht mit Zerstörung beginnen. Sie beginnt mit dem Einsatz für Frieden und Entwicklung, für Freiheit und Gerechtigkeit, für die Würde und die Teilhabe aller Menschen an den Reichtümern dieser einen Welt.

Das ist es, was auch Mexiko und Deutschland miteinander verbindet. Deswegen werden unsere beiden Länder eine gute Zukunft haben. Wir sollten miteinander, Mexikaner wie Deutsche, die Kammer, die Politik, die Gesellschaft insgesamt, alles dafür tun, um dieses Ziel auch zu erreichen.

Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wünsche ich einen wunderbaren Jubiläumsabend. Ich freue mich, wenn ich Sie beim nächsten Mal wieder sehen könnte. Ich würde mich noch mehr freuen, wenn möglichst viele unserer mexikanischen Freunde einmal Deutschland besuchten und der eine und andere dann auch auf Dauer dort wirtschaftlich tätig würde. In diesem Sinne: Einen wunderbaren Abend für Sie alle und vielen Dank.