Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 26.05.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich des Polnischen Lissabon-Strategie Forums am 26. Mai 2004 in Warschau.
Anrede: Verehrter Herr Präsident, verehrter Herr Sejmmarschall, Herr Professor, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/90/658090/multi.htm


Der Ort dieses Kongresses, der über Europas Herausforderungen für die Zukunft diskutieren will, ist ganz vorzüglich gewählt worden. Polen - das steht übrigens nicht erst seit dem 1. Mai dieses Jahres fest - ist mitten in Europa. Was die Union angeht, sagt man: Endlich! Oder auch besser: Polen ist endlich mitten in der Europäischen Union!

Die polnische Nation - das weiß man bei uns, das weiß man in der Welt - ist tief in der europäischen Geschichte und Kultur verwurzelt und hat viele, ganz außergewöhnliche Beiträge für die Entwicklung Europas geleistet. Krieg, Fremdherrschaft und Diktatur haben es nicht vermocht, Polens Zugehörigkeit zu Europa zu unterdrücken. Das Land hat sich bereits 1791 eine Verfassung gegeben, die auf die Werte von Demokratie und Menschenrechten gegründet war - so, wie wir das heute in der Europäischen Verfassung wieder bekräftigen. Also eine wunderbare Identität von Werten, die dadurch zum Ausdruck kommt. Wenn man so will, ist Polen also nicht ein "Kind", sondern eher "Mutter" oder "Vater" der europäischen Aufklärung.

Die Freiheitsbewegung, die in Polen und anderswo die kommunistische Diktatur zum Einsturz brachte, war immer auch eine Bewegung für die Rückkehr nach Europa. Auch insofern begreifen wir den Weg bis zum Beitritt Polens zur Europäischen Union vor wenigen Wochen genau so, wie es manche von Ihnen hier in Polen formuliert haben. Es ist ein Weg von der polnischen Solidarnosc zur europäischen Solidarität. Diesen Weg hat nicht nur Polen zurückgelegt, sondern den hat ganz Europa zurückgelegt.

Meine Damen und Herren, wir sollten diesen großartigen Erfolg, den wir miteinander erreicht haben, stets deutlich machen, und zwar auch in Zeiten neuer Unsicherheiten, Bedrohungen und Herausforderungen nicht nur in Europa, sondern in der Welt insgesamt. Wir sollten dies aber auch vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Geschichte deutlich machen.

Keine Nation hat in der Geschichte so grausam unter deutschem Vormachtstreben und deutscher Gewaltherrschaft leiden müssen wie Polen. Mehr als sechs Millionen polnische Bürger, darunter drei Millionen Juden, sind dem nationalsozialistischen Angriffskrieg und dem Terror der Besatzungszeit zum Opfer gefallen. Dieses Wissen wollen wir an unsere jungen Leute weitergeben. Diese Verbrechen kann man nicht verdrängen. Denn nur derjenige, der sich auch den grausamen Kapiteln der eigenen Vergangenheit stellt, kann wirklich Zukunft gewinnen.

Auch viele Deutsche haben - oft ohne persönliche Schuld auf sich geladen zu haben - Hitlers Aggressionskrieg mit dem Leben, mit Vertreibung und Verlust der Heimat bezahlen müssen. Das hat es ihnen und manchen ihrer Nachkommen nicht immer leicht gemacht, den Weg der Aussöhnung und damit den Weg der Vernunft zu gehen.

Das Leid der Vergangenheit lässt sich nicht gegeneinander aufrechnen. Das sage ich in aller Deutlichkeit: Es ist auch kein Thema für Wahlkampf-Polemik und darf nie eines werden. Für meine Generation, die mit der Spaltung Europas durch Mauer und Stacheldraht aufgewachsen ist, wird das, was uns eint, immer im Vordergrund stehen. Wir erinnern uns der Vergangenheit. Aber wir blicken nach vorn auf das, was wir gemeinsam mit unseren polnischen Nachbarn und Freunden erreichen können und - dessen bin ich sicher - erreichen werden.

Wenn ich das so sagen darf: Dies kommt auch durch die Einladung der polnischen Regierung zur Teilnahme an den Feierlichkeiten aus Anlass des 60. Jahrestages des Warschauer Aufstandes am 1. August dieses Jahres zum Ausdruck. Ich empfinde diese Einladung als eine sehr, sehr große persönliche Ehre. Aber mehr: Sie ist zugleich ein eindrucksvoller Beweis des Vertrauens, das Polen in seine deutschen Nachbarn setzt. Sie können sicher sein: Wir werden daran arbeiten, dass niemand dieses Vertrauen enttäuscht.

Meine Damen und Herren, ich halte es für ganz wesentlich, dass wir uns vergewissern, welche großartigen ökonomischen Chancen das erweiterte Europa und der nunmehr größte Binnenmarkt der Welt den bisherigen wie den neuen Mitgliedstaaten mit sich bringt. Die Chancen sind Chancen für beide Seiten: Wenn die Märkte sich in Polen und anderswo entwickeln, hilft das auch der deutschen Wirtschaft. Diesen Zusammenhang, dass wir eine "win-win" -Situation schaffen können und schaffen müssen, müssen wir unseren Völkern immer wieder klar machen, und zwar hier in Warschau wie in Berlin und anderswo.

Die Erfolge, die Polen erreicht hat, sind unübersehbar. Hier konzentrieren sich die Investitionen, und das Wachstum liegt weit über dem europäischen Durchschnitt und erst recht - verehrter Herr Präsident, ich weiß das wohl - weit über dem deutschen Wachstum. Es macht mir überhaupt nichts aus, Ihnen für diese Leistung, die die Menschen in Ihrem Land erbracht haben, aus vollem Herzen zu gratulieren und dar-auf hinzuweisen, dass deutsche Unternehmen gelegentlich zu diesem Wachstum beitragen.

Dass Polen seine wirtschaftliche Leistungskraft zur Geltung bringt, liegt nicht nur im Interesse der Menschen hier in diesem Land, sondern es liegt im Interesse ganz Europas und damit auch im Interesse der Volkswirtschaft in Deutschland. Auch wir können die enormen Chancen, die das erweiterte Europa uns eröffnet, nur nutzen, wenn wir uns gemeinsam den Herausforderungen stellen. Diese Herausforderungen betreffen den Wettbewerb auf den internationalen Märkten. Sie betreffen aber auch die Zukunft unseres europäischen Modells des Wirtschaftens, des Arbeitens und der Solidarität. Sie betreffen schließlich die Notwendigkeit, dass Europa sein Gewicht in internationalen Krisen und Konflikten, aber auch beim Streben nach einer humanen, gerechten und friedlichen Weltordnung stärker zur Geltung bringt. Gerade vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte haben wir etwas zur friedlichen Konfliktlösung in der Welt beizutragen.

Meine Damen und Herren, es ist klar: Wir stehen in einem scharfen globalen Wettbewerb mit dynamischen Wachstumsregionen etwa in Asien, aber auch den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben es nicht mehr nur mit einem Wettbewerb der Hersteller von Waren oder von Dienstleistungen zu tun, die diese auf den Märkten der Welt anbieten. Nein, mein Eindruck ist, dass wir es inzwischen mit dem Wettbewerb ganzer Volkswirtschaften zu tun haben. Je weniger die Produktion unbedingt an einen jeweiligen Nationalstaat gebunden ist, desto härter wird die Konkurrenz um Investitionen und damit natürlich um Arbeitsplätze.

Europas Antwort darauf kann nur sein, dass wir untereinander in einem fairen Wettbewerb stehen, aber auch, dass wir untereinander solidarisch sind. Vor allem: Dass wir eine gemeinsame Strategie entwickeln, die Europa und den Europäern nutzt, weil sie unsere Position auf den Weltmärkten festigt und ausbaut. Dazu ist es nötig, dass wir uns auf unsere Stärken besinnen. Die Stärken sind: die Ausbildung unserer Menschen, der europäische Erfindergeist und unsere Vorsprünge in Wissenschaft und Technik, die wir unter allen Umständen behaupten und entwickeln müssen.

Aber es gehört noch mehr dazu: Zu den Stärken der europäischen Volkswirtschaften und damit zu den Stärken Europas gehört auch unser europäisches Sozialmodell, das wir angesichts neuer Herausforderungen verändern müssen. Aber wir wären töricht, wenn wir in Zukunft auf diese Stärke verzichteten.

Meine Damen und Herren, die Einsicht in diese Notwendigkeiten, die aber immer zugleich Chancen sind, ist die Grundlage der so genannten Lissabon-Strategie der Europäischen Union. Wir wollen bis zum Ende des Jahrzehnts zum dynamischsten, wettbewerbsfähigsten und innovativsten Wirtschaftsraum der Welt werden. Wir haben durchaus Fortschritte erzielt. Es sind nicht genug, aber es sind Fortschritte, die sich aufzählen lassen. Ich erinnere nur an die strategisch wichtige Öffnung der Märkte für Telekommunikation, Schienengüterverkehr, Post und Energie. Dies sind strategische Entscheidungen von großer Bedeutung, die Produktion, weil Produktivität angekurbelt haben.

Aber keine Frage: Wir brauchen zusätzliche Anstrengungen, um das in Lissabon formulierte Ziel zu erreichen. Wir müssen flexibler und innovativer werden, um auf Dauer mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa zu schaffen. Das heißt: Wir müssen besser und gezielter in Zukunft investieren, in Innovation, in Bildung, in Forschung und Entwicklung. Das ist der Grund, meine sehr verehrten Damen und Herren, warum wir uns der Aufgabe stellen müssen, unsere Sozialsysteme zu reformieren. Der andere Grund ist die radikale Veränderung - ich rede jetzt vor allen Dingen über West-Europa - im Altersaufbau unserer Gesellschaften.

Wir haben also zwei wirkliche Herausforderungen, vor denen fast alle europäischen Länder stehen. Das eine ist verschärfter Wettbewerb durch die Globalisierung. Das andere ist der veränderte Altersaufbau unserer Gesellschaften. Auf diese beiden gewaltigen Antworten gilt es, eine Antwort zu finden. Die Antwort kann nur lauten: Wir müssen die sozialen Sicherungssysteme umbauen, um Ressourcen für Zukunfts-Investitionen frei zu bekommen. Das ist die zentrale Aufgabe.

Wenn es mir erlaubt ist, will ich einen kleinen Moment auch über die Schwierigkeiten der Umsetzung einer solchen Reformstrategie sprechen. Die erste Schwierigkeit ist, dass es in entwickelten Gesellschaften eine Differenz gibt zwischen der Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, Veränderungen zu unterstützen, wenn diese Veränderungen abstrakt bleiben und der Bereitschaft bei der tatsächlichen Umsetzung.

Die zweite Schwierigkeit: Es gibt eine zeitliche Differenz zwischen den Belastungen, die mit jedem Umbau politischer und sozialer Systeme verbunden sind, und den Erfolgen, die dieser Umbau mit sich bringt. In dieser zeitlichen Differenz zwischen den Belastungen und den Erfolgen können Regierungen sich befinden. Das kann man an europäischen Wahlergebnissen überall ablesen, und zwar unabhängig von der jeweiligen Farbe der Regierung. Genau diese beiden Hindernisse für Reformen müssen überwunden werden. Herr Professor, Sie haben Recht: Sie können nur überwunden werden, wenn aus der Gesellschaft selbst heraus Reformdruck entsteht und die Bereitschaft da ist, die beiden gekennzeichneten Widersprüche zu überwinden. Das ist der entscheidende Zusammenhang, wenn es darum geht, Reformprojekte umzusetzen.

Meine Damen und Herren, ich habe über das europäische Sozialmodell geredet. Ich bin mir bewusst, dass gerade in den neuen Mitgliedstaaten manch einer nachdenklich geworden ist über die Attraktivität dieses europäischen Sozialmodells. Denn es wird gelegentlich - und ich denke: voreilig - als Ursache von Wachstumsschwäche ausgemacht. Ohne Frage: In Volkswirtschaften, die nach dem so genannten "rheinischen" Modell funktionieren, müssen wir erhebliche Anstrengungen unternehmen. Wir müssen umsteuern. Aber ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir diesen Umbauprozess machen und das Modell der Teilhabe möglichst aller Menschen am wirtschaftlichen und sozialen Geschehen in unseren Ländern sichern, dann wird das unsere Stärke auch in der Zukunft sein, und zwar auch im Vergleich zu anderen Wirtschafts- und Sozialmodellen. Ich denke, dass die Diskussion in den neuen Mitgliedstaaten, die einen wirklich schwierigen Reformprozess hinter sich, teilweise noch vor sich haben, keineswegs darauf zielen kann, das europäische Sozialmodell abzuschaffen, sondern sie muss darauf zielen, das europäische Sozialmodell den veränderten ökonomischen Bedingungen in Europa und in der Welt anzupassen.

Wir müssen uns also fragen, ob unsere Rahmenbedingungen dem internationalen Wettbewerb noch gerecht werden. Viele gut gemeinte europäische Regulierungen haben eher zur Folge, dass sie die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der europäischen Unternehmen hemmen. Das darf nicht sein. Das ist eine Bitte an die Kommission, die inzwischen 25 Mitglieder umfasst - keineswegs nur an die neuen Mitglieder, sondern erst recht an die alten - , darauf zu achten, dass wir bei den notwendigen Vereinheitlichungen der rechtlichen Regelungen in Europa Dynamik nicht hemmen, sondern entwickeln helfen.

Wir müssen dafür sorgen, dass neue Gesetzesvorschläge der Kommission konsequent daraufhin überprüft werden, wie sie sich auf die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft auswirken. Ich bin ganz sicher, dass gerade die Kommissare aus den neuen Mitgliedstaaten angesichts der Reformprozesse, in denen sie stecken, und angesichts der Notwendigkeit aufzuholen, hier eine sehr positive Rolle spielen werden.

Wir brauchen in der künftigen Kommission einen Koordinator für den Lissabon-Prozess. Dieser Kommissar oder diese Kommissarin könnte für Industrie und Innovationen zuständig sein und müsste umfassende Koordinierungsbefugnisse gegenüber anderen wirtschaftsrelevanten Ressorts der Kommission haben. Vor allem aber müssen wir bei der Neuausrichtung der Lissabon-Strategie die Industrie wieder stärker in den Blick nehmen - nicht nur, weil die Industrie ein bedeutender Innovationsmotor ist.

Industrie ist eine entscheidende Wohlstandsquelle in Europa. Ohne die industrielle Güterfertigung ergeben auch viele Dienstleistungen keinen Sinn. Mein Plädoyer ist also ein Plädoyer dafür, dass in Brüssel und in der Kommission insbesondere Industriepolitik wieder eine bedeutsame Rolle spielt. Wir werden unsere wichtigen Ziele nur mit einer gesunden industriellen Basis erreichen können.

Für Polen und Deutschland gilt das in besonderem Maße, denn in beiden Ländern steht die Industrie für fast ein Drittel der Wirtschaftsleistung. Die Metallindustrie, der Automobilbau, die Elektroindustrie sind Schlüsselindustrien - in Polen wie in Deutschland. Wir haben hier gemeinsame Interessen. Polen und Deutsche sollten diese Interessen künftig auch in Brüssel wirksam werden lassen.

Meine Damen und Herren, zu einer Politik für mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa muss die Kohäsionspolitik insbesondere in den neuen Mitgliedstaaten beitragen. Die neuen Mitgliedstaaten müssen eine enorme Aufbauleistung vollbringen, um zum westeuropäischen Niveau aufzuschließen. Je schneller das gelingt, desto besser ist es für die neuen, aber auch für die alten Mitgliedstaaten.

Die Bundesregierung und die Europäische Union werden den jetzt beigetretenen Ländern dort, wo wir wirklich können, nach Kräften helfen. Wir haben zusammen mit Frankreich, Großbritannien, Schweden, Österreich und den Niederlanden vorge-schlagen, den Finanzrahmen der Europäischen Union in der Periode zwischen 2007 und 2013 auf 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu begrenzen. Ich weiß, dass es darüber Diskussionen gibt und dass viele mehr wollen. Aber ich will nur deutlich machen: Mit dieser Position, die formuliert worden ist, sind im Haushalt der Europäischen Union immer noch jährliche Ausgabenzuwächse von rund 4 œ Prozent pro Jahr möglich.

In diesem Rahmen können die wichtigen Zukunftsaufgaben der Union, wie die Lissabon-Strategie, die Förderung von Innovationen und die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit, solide finanziert werden. Die neuen Mitgliedstaaten werden die Hilfen bekommen, die sie zum Aufbau ihrer Infrastruktur und ihrer Wirtschaft benötigen. Andererseits wird eine finanzielle Überlastung der Nettozahler, die mit ihrem Angebot an die Grenzen ihrer Finanzkraft gehen, vermieden. Das ist gesamtwirtschaftlich sinnvoll, und zwar auch für Europa.

Ein zentraler Aspekt unseres Konzeptes ist es, die Regionalhilfen auf die ärmsten Regionen Europas zu konzentrieren - und diese liegen zum größten Teil in den neuen Mitgliedstaaten. Das erfordert natürlich auch Opfer in den alten Mitgliedstaaten. Viele der Länder, die bislang die Solidarität der Europäischen Union empfangen haben, müssen jetzt zeigen, dass sie ihrerseits zur Solidarität fähig sind. Für Deutschland ist das eine Selbstverständlichkeit. Ich will das sehr deutlich sagen. Wir werden auch in Zukunft als größter Nettozahler unsere europäische Verantwortung wahrnehmen. Wir wissen, dass das sein muss, dass es ein Gebot der Solidarität ist. Wir wissen, dass diese Situation mittel- und langfristig auch gut für uns ist. Deswegen sagen wir unseren Menschen, dass diese Nettozahlerposition nicht aufgegeben werden kann.

Meine Damen und Herren, es ist das gute Recht der neuen Mitgliedstaaten, in einen Wettbewerb um Investitionen mit den alten Mitgliedstaaten zu treten. Die Frage ist nur: Wie wird dieser Wettbewerb organisiert? Denn dieser Wettbewerb stärkt ja den Aufbau der neuen Mitgliedstaaten und kommt damit auch den alten Mitgliedstaaten mittelfristig zugute.

Bei diesem Wettbewerb - und das ist der entscheidende Punkt - muss es fair zugehen. Die neuen Mitgliedstaaten müssen eigene Mittel einsetzen, um Infrastruktur finanzieren zu können. Nur in dem Maße, wie sie eigene Mittel einsetzen, sind auch die europäischen Hilfen verfügbar. Das ist der Hintergrund für die gegenwärtig laufende Diskussion um die Frage: Wie soll eigentlich in einem gemeinsamen Markt, um den es geht, der eine gemeinsamen Währung für alle hat, der Wettbewerb in unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen aussehen? Das betrifft den Sozialbereich genauso wie den Bereich der Steuern.

Wir haben in Europa harmonisierte indirekte Steuern. Harmonisiert heißt: Es gibt eine Bandbreite, in denen sich die europäischen Länder bewegen. Frankreich und Deutschland führen gegenwärtig eine Diskussion darüber, eine solche Bandbreite auch bei den direkten Steuern einzuführen, also nicht den Steuerwettbewerb aufzuheben, ihn aber nachvollziehbaren Regeln zu unterwerfen. Bandbreite heißt, dass innerhalb - und ich will mich jetzt nicht über die Ziffern äußern - einer solchen Bandbreite durchaus Variationen möglich sind, je nach den nationalen Erfordernissen und Handlungssträngen, aber dass diese Bandbreite dafür sorgt, dass es einen fairen Wettbewerb gibt, dass es ein Steuerdumping, wie man das nennt, jedenfalls nicht gibt.

Meine Damen und Herren, die Zukunftsfähigkeit der erweiterten Politischen Europäischen Union und der Erfolg einer Lissabon-Strategie kann überhaupt nur möglich sein, wenn das neue, das größere Europa politisch führbar bleibt. Um dieses Europa politisch führbar zu halten, brauchen wir die Europäische Verfassung. Die immensen Chancen der Erweiterung werden sich auf Dauer nur einstellen, wenn die Europäische Union handlungsfähig, demokratisch und transparent ist. Nur dann werden wir die Chancen optimal nutzen können.

Der Entwurf einer Europäischen Verfassung, den der Konvent vorgelegt hat, enthält zahlreiche wichtige Verbesserungen. Darüber sind wir uns einig, und zwar erst recht zwischen Polen und Deutschland. Die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament und die deutliche Stärkung des Parlaments im Bereich der Gesetzgebung machen die Union demokratischer. Das Amt eines Europäischen Außenministers und der Europäische Diplomatische Dienst sind nötig, um Europas gewachsene Verantwortung in der Welt und unsere gemeinsame Außenpolitik besser zur Geltung zu bringen. Die vom Konvent vorgeschlagenen Fortschritte im Bereich der Innen- und Justizpolitik werden die Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität verbessern.

Dabei ist klar, dass die Verfassung die nationale Identität der Mitgliedstaaten ausdrücklich achtet. Wir wollen keinen europäischen Superstaat, sondern wir wollen eine Gemeinschaft, in der Stärke gerade aus der Vielfalt erwächst. Wir wollen die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vielfalt Europas bewahren. Wir halten das für einen Vorteil, auch im Vergleich zu anderen Regionen in der Welt.

Unsere Werte und Interessen können die Europäer heute nur gemeinsam wirksam zur Geltung bringen. Nach dem erfolgreichen Verlauf des Frühjahrs-Gipfels sind die Chancen deutlich gestiegen, beim Europäischen Rat im Juni zu einer Einigung über die Verfassung zu kommen. Jeder muss sich noch einen Ruck geben. Polen auch, Herr Präsident. Ich hoffe, dass wir das mit der Kompromissbereitschaft hinkriegen, zu der sicher alle fähig sind.

Meine Damen und Herren, in Brüssel bestand Einvernehmen, dass eine Lösung nur auf Basis des vom Konvent vorgeschlagenen Prinzips der so genannten doppelten Mehrheit möglich ist. Dieses Prinzip der doppelten Mehrheit spiegelt die zweifache Natur der Europäischen Union wider. Sie ist Union der Staaten und zugleich Union der Bürgerinnen und Bürger.

Die Staatenmehrheit unterstreicht die Gleichberechtigung aller Mitgliedstaaten - unabhängig von der Größe. Das zusätzliche Erfordernis einer bestimmten Mehrheit der Unionsbürger entspricht dem Prinzip "Ein Bürger - eine Stimme". Die Bundesregierung ist bereit, über die konkrete Ausgestaltung der doppelten Mehrheit zu verhandeln. Da gibt es eine Menge vernünftiger Vorschläge.

Aber eines können wir uns nicht leisten. Verehrter Herr Präsident, ich glaube, wir sind uns da auch einig. Wir dürfen uns ein Scheitern des Verfassungsentwurfs im Juni nicht leisten, sondern wir müssen das hinkriegen. Das ist für die Entwicklung Europas wichtig. Das ist wichtig für die Entwicklung der Länder in der Europäischen Union. Ich bin ziemlich sicher, es wird einen Kompromiss geben können, der natürlich auch den Interessen Polens gerecht wird.

Meine Damen und Herren, die Freiheit und das Wohlergehen Polens waren immer auch ein Gradmesser dafür, wie es um Freiheit und Wohlstand in Deutschland und überall auf unserem Kontinent bestellt ist. Wer das im Sinn hat, kommt nicht umhin, Stolz über das Erreichte zu empfinden. Wie nie zuvor auf unserem Kontinent haben wir die Möglichkeit, gemeinsam ein Europa zu schaffen, das wirtschaftlich stark ist, den sozialen Zusammenhalt in unseren Gesellschaften fördert und für andere ein verlässlicher Partner beim Aufbau einer kooperativen Weltordnung ist. Für dieses Ziel haben nicht nur Monet und Schuman gestritten, sondern auch die tapferen Männer und Frauen der Danziger Streikbewegung und die vielen, die Polen in diesen Jahren tatkräftig nach Europa geführt haben. Nicht wenige haben dafür gelitten.

Wenn wir dieses Ziel im Auge behalten und wenn wir die Menschen gerade in unseren Zivilgesellschaften - das macht den Wert solcher Kongresse aus - die Vorzüge dieses neuen, guten und alten Europa erfahren lassen, dann bin ich ziemlich sicher, dass wir es schaffen werden, das, was sich mit der Lissabon-Strategie verbindet, auch umzusetzen. Wir werden das schaffen, weil wir es schaffen müssen. Das liegt im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in unserem gemeinsamen Europa, also auch und vor allem im Interesse von Polen und Deutschland. - Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.