Redner(in): Christina Weiss
Datum: 18.07.2004
Untertitel: Kulturstaatsministerin Dr. Christina Weiss würdigt in den zeise kinos Hamburg die Preisträger der Kinoprogramm- und Verleiherpreise 2003.
Anrede: Lieber Herr Staatsrat Behlmer, sehr geehrte Frau Matthiesen, sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/93/527893/multi.htm
meine Damen und Herren! Die diesjährige Verleihung des Kinoprogrammpreises und des Verleiherpreises, zu der ich Sie herzlich willkommen heiße, hat uns nach Hamburg geführt. Lassen Sie mich zunächst aber bitte eine kleine Geschichte erzählen, die in der österreichischen Stadt Graz spielt. Der Ort spielt übrigens gar keine große Rolle; sie könnte in jeder Stadt spielen - vorausgesetzt, es befindet sich zumindest ein Kino in ihr, das mit Engagement, Entdeckergeist und Lust auf Bilder betrieben wird.
In Graz also ging Anfang der sechziger Jahre ein junger Mann ins Kino, um sich einen neuen italienischen Film anzusehen. Nach dem Film ging er wieder aus dem Kino, um mit der Straßenbahn nach Hause zu fahren. Das ist im Grunde schon die ganze Geschichte. Aber nun hören Sie bitte, mit welchen ebenso einfachen wie emphatischen Worten der Schriftsteller Peter Handke - er ist der junge Mann, um den es hier geht - diese Geschichte aufgeschrieben hat. Ich denke, sie erzählt viel über das besondere Glück, dass ein Kinofilm gewähren kann: In einem stinknormalen, noch nicht spezialisierten Kino sah ich 1962 oder 1963 Michelangelo Antonionis, La Notte - Die Nacht' . Nach dem Film stand ich im Zentrum von Graz an einer nächtlichen Straßenbahnhaltestelle und erlebte die steirische Stadt in eine Weltstadt verwandelt, monumental und zugleich duftig. Noch nie auch war die Nacht mir so wirklich erschienen, so elementar, und ich mir mit ihr. Damals mit La Notte erfuhr ich zum ersten Mal, weit über alle die Selbstgefühle hinaus, so etwas wie ein Weltgefühl."
Ein junger Mann, Handke war damals zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt, erlebt ein Weltgefühl. Die nächtliche Provinzstadt Graz erscheint ihm wie eine Weltstadt. Die Nacht war wirklich wie nie. Deutlich wird in diesem kleinen Text - es handelt sich hier um einen Absatz aus einer Rede, die Handke dreißig Jahre später, 1992, anlässlich einer Kinoeröffnung in Wien hielt - das Motiv der Verwandlung, ja der Erweckung angesprochen. Im weiteren Verlauf seiner Rede spricht Handke das große Wort der Erweckung dann auch tatsächlich aus. Und das alles soll ein Kinobesuch bewirkt haben? Etwas so Alltägliches, ein ganz normaler und meistens unambitionierter Kulturgenuss, dem man sich doch - seien wir ehrlich! - vor allem hingibt, um am Feierabend bestens unterhalten zu werden?
Ja, meine Damen und Herren, ein Kinobesuch ist etwas Alltägliches, zum Glück, werden die Kaufleute unter Ihnen sagen, und unwillkürlich möchte man ihnen dabei zustimmen. Ins Kino geht man nicht in Abendgarderobe. Und doch kann gerade so ein alltäglicher Abend über den Alltag hinausführen.
Peter Handkes Sätze stehen deutlich in der Tradition, für die der große Denker Walter Benjamin den Begriff "profane Erleuchtung" geprägt hat. Man mag manches Mal gut unterhalten, aber ansonsten unerleuchtet aus Kinofilmen herausgekommen sein. Manchmal mag man sogar das Gefühl gehabt haben, im Kino seine Zeit mit Schund zu vertrödeln. Aber manches Mal erwischt es einen eben doch: dieses Erweckungsgefühl, das man, wie ich meine, auf gar keinen Fall als naive Schwärmerei oder als unkritisches Verhältnis zum Kino denunzieren sollte. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich kürzlich die Initiative unterstützt, einen Filmkanon aufzustellen, um mit ihm an den Schulen im Sinne einer Medienpädagogik zu arbeiten. Sich von Kinofilmen verführen zu lassen, die Wirklichkeit in einem gesteigerten und doch in sich klaren Zustand wahrzunehmen, das, so möchte ich in diesem Kreis hinzufügen, gehört zu einem aufgeklärten und erwachsenen Umgang mit Kino unbedingt dazu.
Nichts anderes meint Peter Handke übrigens, wie der Fortgang seiner kleinen Rede zeigt."Wach waren vordringlich die Sinne", schreibt er einen Absatz nach der zitierten Stelle."Es war, als hätte ich mir durch bloßes Zuschauen die Welt verdient", heißt es einige Sätze weiter. Es ist eben nichts Eskapistisches, wenn man es sich in einem Kinosessel bei langsam dunkler werdenden Licht gemütlich macht, wenn der Kinovorhang aufgeht und man sich vor der Leinwand von Geschichten verführen lässt, die mit dem Alltag auf den ersten Blick wenig zu tun haben. Im Gegenteil. Es ist ein Hinwenden an die Welt.
Peter Handke ist nun keineswegs ein Nostalgiker des Kinos."Die Bilder sind nicht am Ende", so heißt ein weiterer kleiner Text über das Kino von ihm; in ihm erweist er sich als in der neuesten Produktion als ziemlich beschlagen - mit Arnold Schwarzenegger kennt er sich aus und macht sogar den Vorschlag, Quentin Tarantino als Schüler Eric Rohmers zu begreifen. Darauf muss man erst einmal kommen. Die Bilder sind nicht am Ende. Literaturwissenschaftler können in den scheinbar randständigen Bemerkungen zum Kino von Peter Handke seine Poetik in Nuce entdecken. Als Kinogeherin - so bezeichnet sich Peter Handke: als Kinogeher - , als Kinogeherin also bekommt man bei der Lektüre seiner Sätze unmittelbar Lust darauf, einen Film anzuschauen; und zugleich vermag man zu erfahren, was für ein schönes Projekt das ist, das Sie hier alle im Saal - ob als Kinobetreiber oder Verleiher, ob als Filmemacher, Jurymitglieder oder Journalisten - begleiten und vorantreiben: das Kino.
Um dabei mitzuhelfen, dass die Vielfalt und Qualität unserer Filmkultur erhalten bleibt, dazu sind der Kinoprogrammpreis und der Verleiherpreis da, um die es heute Abend geht. Ich freue mich darüber, dass die Preisgelder trotz der angespannten Haushaltslage konstant geblieben sind. Und lassen Sie mich sagen, dass ich diese Preise als wesentlichen Teil des umfassenden Filmförderkonzeptes meines Hauses verstehe. Denn ohne Kinos, die außergewöhnliche, anspruchsvolle Filme abspielen, würde keine noch so ehrgeizige Drehbuch- oder Produktionsförderung Sinn machen.
Meine Damen und Herren, Sie alle haben die Novellierung des Filmfördergesetzes aufmerksam verfolgt. Neben dem Fördersystem hat gerade auch die Filmabgabe der Kino- und Videowirtschaft die Gemüter bewegt. Das ist verständlich, handelt es sich doch jeweils um Kompromisse. Solche Kompromisse muss man in langen und intensiven Gesprächen mit der Branche suchen und finden - und ich meine, dass wir insgesamt zu vernünftigen Ergebnissen gekommen sind. Sie nehmen auch auf die derzeit schwierigen Rahmenbedingungen für die Kinowirtschaft Rücksicht und kommen dem Film in Deutschland insgesamt zugute.
Auch die heutige Preisverleihung ist eine Veranstaltung für den Film in Deutschland: Insgesamt fast 1,5 Millionen Euro vergibt der Bund heute Abend, für drei Verleiher und 168 Kinos aus vielen deutschen Städten. Ich möchte an dieser Stelle den beiden Jurys sehr herzlich dafür danken, dass sie mit ihrer Kompetenz und ihrer Sachkenntnis aus der Fülle von Anwärtern eine sicher nicht einfache Auswahl getroffen haben. Danken möchte ich auch Herrn Dr. Gerd Albrecht, der von 1967 bis Ende letzten Jahres zunächst dem Innenministerium, später der BKM mit Rat und Tat zur Seite stand. Und ich danke besonders dem Spitzenpreisträger des letzten Jahres, nämlich den Zeise Kinos und Frau Matthiesen, dafür, dass sie uns für die heutige Preisverleihung einen so einmaligen Rahmen bescheren.
Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen und uns allen einen anregenden, schönen Abend. Möge es dem Kino immer wieder gelingen, vielen Frauen und Männern so intensive Erweckungserlebnisse zu bescheren, wie Peter Handke sie beschrieben hat. Arbeiten wir weiter gemeinsam daran, dass die Bilder nicht am Ende sind.