Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 01.08.2004

Untertitel: "Dass ich heute als Bundeskanzler eines anderen, freien und demokratischen Deutschlands dieser Hoffnung hier Ausdruck geben darf, ist all den Menschen zu danken, die sich wie die Aufständischen von Warschau der Nazi-Barbarei widersetzt haben."
Anrede: Herr Staatspräsident, Herr Ministerpräsident, Herr Stadtpräsident, verehrte Teilnehmer des Warschauer Aufstandes, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/62/691262/multi.htm


Es ist nicht leicht, nach diesen Bildern zu reden. Wir verneigen uns heute vor dem Opfermut und dem Stolz der Männer und Frauen der polnischen Heimatarmee. 63 Tage lang haben die Bürgerinnen und Bürger von Warschau den deutschen Besatzern heroisch und todesmutig Widerstand geleistet. Sie kämpften für die Freiheit und für die Würde Polens. Ihr Patriotismus steht als ein leuchtendes Beispiel in der großen Geschichte der polnischen Nation.

Wir beugen uns heute in Scham angesichts der Verbrechen der Nazi-Truppen. Sie haben 1939 Polen überfallen. Sie legten nach dem Aufstand 1944 das alte Warschau in Schutt und Asche. Unzählige polnische Frauen und Männer und ihre Kinder wurden ermordet oder in Lager und Zwangsarbeit verschleppt. An diesem Ort des polnischen Stolzes und der deutschen Schande hoffen wir auf Versöhnung und Frieden.

Dass ich heute als Bundeskanzler eines anderen, freien und demokratischen Deutschlands dieser Hoffnung hier Ausdruck geben darf, ist all den Menschen zu danken, die sich wie die Aufständischen von Warschau der Nazi-Barbarei widersetzt haben. Und doch ist dieses Gedenken an sie viele Jahrzehnte lang von einer auswärtigen Macht unterdrückt wurden. In den Herzen aller Polen waren die Helden der Freiheit aber nie vergessen.

In Deutschland fanden wir auf der Suche nach Verstehen, Vergebung und Versöhnung lange nicht die Kraft dazu. So wurden die Warschauer Aufständischen, die schon 1944 ohne Hilfe blieben, auch im Erinnern lange Zeit im Stich gelassen. Erst durch die polnische Selbstbefreiung 1989 konnte ein Denkmal zur Erinnerung an die Aufständischen, an ihren Mut und ihre Opferbereitschaft am Rande der Warschauer Altstadt errichtet werden.

Niemand kann Geschichte ungeschehen machen. Doch gerade heute in einem freien Europa, dem Polen und Deutschland als gleichberechtigte Partner angehören, darf Geschichte nicht um- oder fehlgedeutet werden. Solchen Versuchen gilt es auch weiterhin entschieden entgegen zu treten.

Während des Zweiten Weltkrieges verloren über sechs Millionen polnische Staatsbürger ihr Leben. Millionen Menschen verschiedener Nationalitäten - darunter auch mehr als zwei Millionen Polen - wurden während und nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben. Die Erinnerung an ihr schweres Leid darf uns nicht aufs Neue trennen, sondern soll uns verbinden. Um unsere gemeinsame Zukunft zu sichern, bedarf es eines guten Gedächtnisses. Nie wieder dürfen wir es zu solch schlimmem Unrecht kommen lassen. Dieser Auftrag eint die Völker Europas.

Wir Deutschen wissen sehr wohl, wer den Krieg angefangen hat und wer seine ersten Opfer waren. Deshalb darf es heute keinen Raum mehr für Restitutionsansprüche aus Deutschland geben, die die Geschichte auf den Kopf stellen. Die mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängenden Vermögensfragen sind für beide Regierungen kein Thema mehr in den deutsch-polnischen Beziehungen. Weder die Bundesregierung noch andere ernst zu nehmende politische Kräfte in Deutschland unterstützen individuelle Forderungen, soweit sie dennoch geltend gemacht werden. Diese Position wird die Bundesregierung auch vor allen internationalen Gerichten vertreten.

Die Bundesregierung wendet sich auch gegen Pläne, in Berlin ein nationales "Zentrum gegen Vertreibung" zu errichten. Wir unterstützen die Bemühungen für ein europäisches Netzwerk, wie der polnische Staatspräsident und der deutsche Bundespräsident es vorgeschlagen haben.

Häufig ist - nicht nur in Polen und nicht nur von Polen - gesagt worden: Solange Polen nicht frei ist, kann auch Europa nicht frei sein. Dieser Satz war richtig, und dieser Satz ist richtig. Durch den Kalten Krieg wurde Europa in seiner Mitte zerrissen. Nun wächst es in seiner gemeinsamen Mitte wieder zusammen. Niemand kann bestreiten, dass die Arbeiterbewegung Solidarnosc die ersten Pfeiler jener Brücke gebaut hat, über die für ganz Europa der Weg in eine bessere Zukunft führt. Mit dem Beitritt Polens zur NATO und zur Europäischen Union hat sich das Vermächtnis der Warschauer Aufständischen erfüllt: ein freies, unabhängiges Polen, das in Bündnissen von Gleichen seine Sicherheit und seine Souveränität findet. Damit vollendet Polen das freie Europa.

Erstmals seit vielen Jahrhunderten ist Polens Sicherheit nicht mehr bedroht. Im Gegenteil: Sie ist stärker und gefestigter als je zuvor. Denn uns verbindet weit mehr als ein gemeinsamer Markt mit offenen Grenzen. Uns verbinden gemeinsame Werte und eine gemeinsame Verfassung. Uns verbindet die Pflicht zum Beistand in Europa und in der transatlantischen Allianz.

Dieses Werk hätten wir nicht vollbringen können ohne die polnisch-deutsche Aussöhnung. Es ist eine Ehre, an dieser Stelle an Willy Brandt und an jene Polen und Deutschen zu erinnern, die sich für diese Aussöhnung gerade in der schwierigen Zeit der Block-Konfrontation eingesetzt haben. Sie ist für uns Deutsche und für ganz Europa von ausschlaggebender Bedeutung, so wie die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich auch.

Angesichts unserer gemeinsamen Geschichte, in der gerade Deutsche über Polen unendliches Leid gebracht haben, wirkt diese Versöhnung noch heute wie ein Wunder. Sie konnte und kann deshalb auch nicht Sache der Politik allein sein. Viele Menschen in unseren beiden Gesellschaften haben ein dichtes Netz von Beziehungen geknüpft, das uns heute verbindet. Künstler und Wissenschaftler tragen dazu ebenso bei wie die Kirchen und vor allem junge Menschen.

Die Stiftung Kreisau, das Kollegium Polonicum, die Viadrina-Universität und andere Institutionen vertiefen unser Wissen voneinander und stiften Vertrauen. Solche Beispiele des Zusammentreffens junger Menschen aus Polen und Deutschland brauchen wir. Deutschland ist deshalb gerne bereit, zum Beispiel die Viadrina noch viel stärker als bisher zu einem Modell für die wissenschaftliche Zusammenarbeit unserer beiden Länder zu machen. Wir setzen auf die junge Generation. Ihr gehört die Zukunft. Sie zu sichern, ist unsere gemeinsame Aufgabe.

Es ist die Zukunft freier Nationen im geeinten Europa - einem Europa, das auf der Vielfalt und Kreativität unserer nationalen Kulturen und Traditionen gründet. Endlich haben wir die Möglichkeit - aber auch die Verantwortung - , diese Zukunft gemeinsam zu gestalten.

Wir sind heute nicht nur gute Nachbarn und Partner. Wir sind Freunde im geeinten Europa, das auf unsere enge Zusammenarbeit angewiesen ist. Unsere gemeinsamen Interessen verpflichten uns zu noch intensiverer Zusammenarbeit, und zwar nicht nur, um unseren wirtschaftlichen Austausch zu beflügeln, sondern wir wollen uns gemeinsam dem Aufbau einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik widmen. Dabei kommt Polen eine entscheidende Rolle zu.

Wir können miteinander Anstöße für eine gemeinsame Politik in der erweiterten Europäischen Union entwickeln - auch und gerade gegenüber unseren Nachbarn. Wir dürfen nicht nachlassen, den kulturellen Austausch und die vielfältigen Bindungen zwischen unseren Zivilgesellschaften - vor allem unter der Jugend - weiter zu fördern.

Polen und Deutschland sind heute aufgerufen, ihre Partnerschaft zu einem Zukunftspakt auszubauen: zum Wohle der Menschen in unseren beiden Ländern, zum Nutzen des freien, geeinten Europas und in der Verantwortung für alle Menschen dieser Erde, die um ein Leben in Freiheit und Würde ringen.

Bessere Ehre können wir den Helden und Opfern des Warschauer Aufstandes nicht erweisen.