Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 13.08.2004

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich des deutsch-bulgarischen Wirtschaftsforums am 13. August 2004 in Sofia
Anrede: Verehrter, lieber Herr Ministerpräsident, Herr Kammerpräsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/15/699415/multi.htm


Das vereinte und größer gewordene Europa steht vor drei großen Herausforderungen.

Die erste Herausforderung besteht darin, dass wir es mit neuen Gefährdungen auch unserer eigenen, der europäischen Sicherheit zu tun haben. Gefährdungen, die nichts mehr unmittelbar mit dem zu tun haben, was uns in vorigen Jahrhunderten beschäftigt hatte, nämlich grausame und blutige Kriege zwischen Staaten, sondern Gefährdungen, die mit dem zu tun haben, was man asymmetrische Gewalt nennt, also Bedrohungen zivilisierter Gesellschaften zum Beispiel durch internationalen Terrorismus und durch organisierte Kriminalität.

Die zweite Gefährdung hat mit den Veränderungen in der Art und Weise zu produzieren und Güter und Dienstleistungen auszutauschen zu tun. Sie hat mit dem zu tun, was man Globalisierung nennt. Auf diese Globalisierung haben wir uns einzustellen - und vielleicht die am meisten entwickelten Länder noch mehr als diejenigen, die aus einer Kommandowirtschaft eine Marktwirtschaft machen wollen.

Die dritte Gefährdung hat mit dem zu tun, was wir jedenfalls in Westeuropa und auch in Südeuropa bereits kennen, also einem radikal veränderten Altersaufbau unserer Gesellschaften, der natürlich zu einem verstärkten Druck auf die sozialen Systeme führt, so unterschiedlich sie auch sein mögen.

Das sind drei zentrale Herausforderungen. Die Frage, die wir uns miteinander stellen müssen, lautet: Was ist denn eigentlich die Antwort darauf? Oder anders gefragt: Gibt es eine bulgarische, eine deutsche, eine französische, eine schwedische oder eine spanische Antwort? Ich glaube, es gibt sie nicht. Es gibt allenfalls eine europäische. Wenn wir es schaffen wollen, der ersten Bedrohung, von der ich gesprochen habe, wirksam zu begegnen, dann müssen wir dieses Europa zu einem Ort dauerhaften Friedens und Wohlergehens seiner Menschen machen. Gleichsam zu einem Beispiel, wie die zivilisierte Welt auf diese Bedrohungen reagiert. Ich glaube, das ist die wirkliche Antwort, die wir Europäer geben müssen und geben können.

Die daraus zu entwickelnde Frage lautet: Wie geht das denn eigentlich? Wie können wir es schaffen, dieses Europa, das wir, Bulgaren wie Deutsche, gemeinsam bauen, zu einem solchen Ort zu machen, von dem kein Krieg mehr ausgeht, wo man sich nicht mehr gegenseitig blutig bekämpft wie in unserer wechselvollen Geschichte, sondern wo man Beispiele für Konfliktlösungen setzt, die friedlich und damit einer Ökonomie, die das Wohlergehen der Menschen im Auge hat, zuträglich sind? Das ist doch die entscheidende Frage.

Wenn man sich vor diesem Hintergrund einmal die Entwicklung der letzten Zeit, der vergangenen Jahre anschaut, dann finde ich, dass wir - ungeachtet aller Befürchtungen, die Menschen haben, ungeachtet aller Bedenken, die es in Ihrer wie auch in unserer Gesellschaft gibt - auf einem gar nicht so schlechten Weg sind. Wir sind nämlich dabei - und wir haben gewaltige Schritte gemacht - , die Spaltung Europas aufzuheben. Damit meine ich nicht nur die Spaltung durch den Eisernen Vorhang, sondern ich meine auch die Spaltung Europas, was die unterschiedlichen Lebensverhältnisse angeht. Das ist perspektivisch mindestens so wichtig wie die Aufhebung der Trennung durch den Eisernen Vorhang.

Ich bin froh darüber, dass wir vermutlich im November oder Dezember formal werden feststellen können, dass die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union, für die die Kommission handelt, mit Bulgarien positiv abgeschlossen sein werden und damit der Weg völlig frei ist, dass dieses Land wie die zehn anderen, die am 1. Mai der Europäischen Union beigetreten sind, definitiv Vollmitglied der Europäischen Union werden wird.

In Übereinstimmung mit dem Herrn Ministerpräsidenten sage ich dies in der Hoffnung, ja in der festen Erwartung, dass das gemeinsam mit dem Nachbarn Rumänien geschehen kann und geschehen wird. Dazu wird es noch einiger Anstrengungen bedürfen, aber es wird auch von der Kommission und von der Präsidentschaft so gesehen, dass Rumänien es in diesem Jahr schaffen kann.

Wir haben dann eine Europäische Union, die aus 27 Staaten besteht und die die unheilvolle Trennung des Kontinents endgültig und für alle Zeiten überwunden hat. Ich denke, das ist etwas, das man angesichts der Geschichte gar nicht hoch genug einschätzen kann. Menschen wie Sie, Herr Ministerpräsident, wissen das in ganz besonderer und sehr persönlicher Weise zu würdigen und haben deswegen viel dafür gearbeitet und damit einen sehr bedeutenden Anteil daran, dass das gelungen ist.

Was in der Zukunft folgen muss, ist natürlich die Herstellung gleichartiger Lebensverhältnisse. Das bedeutet, dass wir in Europa eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik entwerfen müssen, die diesem Ziel der Herstellung gleichartiger Lebensverhältnisse in einem längeren Prozess gerecht wird. Natürlich wird es noch lange Zeit die Unterschiede in den Lebensumständen zwischen Frankreich und Großbritannien, zwischen Dänemark und Schweden und auch zwischen Deutschland und den neuen Beitrittsländern geben. Das ist gar keine Frage. Es wird ein langwieriger Prozess sein, das anzugleichen, aber ein Prozess, den wir anpacken müssen.

Und wenn Europa die Antwort ist, dann heißt das auch, dass europäische Solidarität die Antwort sein muss. Das heißt, dass die Solidaritätsströme auch im Finanziellen, die Europa anzubieten hat, in Zukunft sehr stark nach Osten und Südosten gelenkt werden müssen. Solidarität war ja immer das Prinzip, das den Aufbau von Europa begleitet hat. Man wird dafür sorgen müssen, dass all das, was mit Strukturmaßnahmen, mit Hilfe zum Ausbau der Infrastruktur und auch mit Hilfe zur wirtschaftlichen Erholung zusammenhängt, viel stärker als jemals zuvor auf die neuen Mitgliedsländer konzentriert sein wird. Es wird eine Aufgabe der neuen Kommission sein, dafür zu streiten, denn angesichts knapper Ressourcen kann man nicht einfach nur draufsatteln. Das übersteigt die Leistungsfähigkeit der "alten" Mitglieder. Wenn man also schon weiter als die neu hinzukommenden Länder ist, muss man zu der Solidarität, die man bisher empfangen hat, künftig selber fähig sein. Das ist das neue Prinzip, für das in der europäischen Zusammenarbeit zu sorgen sein wird.

Wenn man sich über Perspektiven unterhält, gibt es zwei Dinge, die wichtig sind. Ich glaube, dass man gerade hier sagen muss, dass unter dem Aspekt der Gewährleistung europäischer Sicherheit zwei Perspektiven notwendig sind. Die eine ist mit Russland, die andere mit der Türkei verbunden.

Ich beginne erstens mit dem, was die Türkei angeht. Ich bin mit dem Ministerpräsidenten völlig einig, wenn wir sagen: Man hat 1963 der Türkei anlässlich des Assoziierungsvertrags das Versprechen gegeben, wenn die Türkei bestimmte politische Forderungen, die den Wertvorstellungen der europäischen Aufklärung entsprechen, realisiert, dann kann sie Vollmitglied der Europäischen Union werden. Alle Regierungen der alten Europäischen Union haben 40 Jahre lang bestätigt, dass das so ist. Ich finde, dass die Europäische Union beziehungsweise die Mitgliedsstaaten, die diese Union bilden, ihr Wort halten müssen, ansonsten würde man Vertrauen verlieren.

Es gibt aber noch einen anderen, einen sehr viel politischeren Aspekt, der mit dem ungeheuren Sicherheitszuwachs zu tun hat, den es für Europa und damit für jeden von uns geben würde, wenn es gelänge, mit diesem großen Land und in diesem großen Land eine Verbindung zwischen den Werten europäischer Aufklärung und einem nicht fundamentalistischen Islam hinzubekommen. Man muss sich vorstellen, welcher Sicherheitszuwachs damit für die gesamte Region verbunden wäre und welcher Sicherheitszuwachs damit gleichzeitig für Europa verbunden wäre. Wer angesichts dessen nicht einsieht, dass die einzige Bedingung, die man stellen darf, darin besteht, dass die Kopenhagener Kriterien erfüllt werden müssen, macht meiner Meinung nach einen politischen Fehler. Ich gehe davon aus, dass die Europäische Kommission am Ende dieses Jahres feststellen wird, dass man sich auf einem guten Weg befindet. Deutschland wird dafür eintreten, dass das Wort an die Türkei auch gehalten wird.

ZweitensRussland: Wenn wir diesen Kontinent zu einem Ort dauerhaften Friedens und dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen machen wollen, dann braucht Europa eine strategische Partnerschaft mit Russland.

Das historisch Neue ist, dass niemand mehr Angst vor einer Dominanz haben muss. Denn denjenigen, die gelegentlich begründet oder nicht begründet Ängste vor übermächtigen Nachbarn hatten, kann man heute sagen: Wir sind Teil der NATO und Teil der Europäischen Union; wir sind also in doppelter Weise gegen Ängste gefeit.

Das ist das historisch Neue und Bedeutsame, das dazu führt, sich sehr viel selbstbewusster als jemals zuvor auf strategische Partnerschaften mit Gesellschaften einzulassen, die größer, die potenziell enorm leistungsfähig sind, die auch viel zu bieten haben. Ich denke, es wird eine gemeinsame Aufgabe sein, auch angesichts unterschiedlicher geschichtlicher Erfahrungen, genau eine solche Perspektive herzustellen.

Lassen Sie mich noch etwas zu einem Punkt sagen, der uns auf dieser Besuchsreise besonders interessiert. Ich glaube, dass Bulgaren und Deutsche eine Menge miteinander zu tun haben und noch mehr miteinander zu tun haben können. Wenn es funktionieren soll, dass Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse in einer längeren Perspektive in Europa herbeigeführt wird, dann müssen sich die Gesellschaften in ähnlicher Weise entwickeln, wie das Deutschland in der Nachkriegszeit gelungen ist, und dann muss europäische Solidarität heißen, dass man sowohl europäisch als auch national einen Beitrag dazu leistet.

Das ist der Hintergrund für das Engagement deutscher Wirtschaft in Bulgarien - übrigens ein Engagement, das im Gegensatz zu Befürchtungen, die es in Deutschland gibt, keineswegs zu Lasten der Deutschen gehen muss. Wenn es Handel gibt, dann ist jedem klar, dass dieser beiden hilft. Wenn es Auslandsinvestitionen deutscher Unternehmen gibt, dann ist das nicht von vornherein klar, sondern mit Investitionen in anderen Ländern sind bei uns immer Befürchtungen verbunden: Könnten diese Investitionen nicht auch bei uns selber erfolgen? Wie sieht es aus mit den Arbeitsplätzen?

Deswegen ist es so wichtig, dass man bei den kulturellen, politischen und ökonomischen Eliten immer wieder erklärt, dass wir eine "win-win" -Situation herstellen wollen und herstellen müssen. Dass eine Investition zur Entwicklung etwa des bulgarischen Marktes auch Arbeitsplatzsicherheit bei uns selber bedeutet. Also muss man erklären, dass das Engagement deutscher Wirtschaft hier auch der deutschen Wirtschaft zu Hause hilft.

Das immer wieder geduldig zu sagen, hat auch noch einen anderen Aspekt: Es muss jeder wissen, dass die rasante Entwicklung, die dieses Land wie auch andere in Ost- und Südosteuropa genommen haben, natürlich einer Wirtschaft wie der deutschen nutzt. Denn in fast all diesen Ländern, die beigetreten sind oder beitreten werden, ist Deutschland die Nummer Eins im Handel für die jeweiligen Partnerländer.

Eine letzte Bemerkung will ich noch machen: Ich glaube, dass wir dieses Europa nicht nur aufbauen können und aufbauen sollen als eines, von dem Frieden, Sicherheit und ökonomisches Wohlergehen ausgeht, sondern von dem auch soziale Stabilität ausgeht. Wobei mir daran liegt, dass man beides nicht voneinander trennen kann. Nur wenn es ökonomische Prosperität gibt, wird man soziale Stabilität auf Dauer erhalten können. Aber ich finde schon, dass es lohnt darüber nachzudenken, ob wir - bei aller Differenziertheit - in Europa nicht ein Gesellschafts- und Sozialmodell entwickelt haben, das anderen jedenfalls nicht unterlegen ist, was die Lebensqualität der Mehrheit der Menschen angeht. Dieses Sozialmodell zu erhalten, dafür lohnt es gemeinsam zu arbeiten.