Redner(in): Christina Weiss
Datum: 09.09.2004

Untertitel: Bei der Eröffnung der Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau würdigte Kulturstaatsministerin Weiss die Arbeit der französischen Künstlerin.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/09/714109/multi.htm


herzlich willkommen im Martin-Gropius-Bau. Die Ausstellung von Sophie Calle setzt die Reihe unserer französisch-deutschen Projekte fort und beweist wieder einmal, dass der Austausch zwischen Paris und Berlin ein fruchtbarer ist.

Die neue Schau steht dank der Finanzierungshilfe durch den Hauptstadtkulturfonds in der Folge der wichtigen Ausstellung, die dem Werk des Fotografen Henri Cartier-Bresson gewidmet war.

Apropos Cartier-Bresson. Er schrieb einmal: "Die Dinge, so wie sie sind, bieten einen solchen Reichtum an Material, dass der Fotograf sich gegen die Versuchung wehren muss, alles aufnehmen zu wollen. Man muss das Rohmaterial des Lebens immer wieder zusammen schneiden - und sich dabei genau überlegen, was man weglässt. Ein Fotograf muss sich während der Arbeit völlig darüber im Klaren sein, was er will. Das kleinste Ding kann in der Fotografie ein großes Thema abgeben, eine Beiläufigkeit des Menschenlebens zum Leitmotiv werden."

Zunächst scheint es, als hätten Henri Cartier-Bresson und Sophie Calle wenig miteinander zu tun. Zu verschieden erscheint der Hintergrund der Künstler, zu disparat wirkt ihr Ansatz. Auf den zweiten Blick - und der ist bei beiden meist der entscheidende - verflüchtigt sich diese Fremdheit. Beide - Calle und Cartier-Bresson - sind, auf je verschiedene Weise, Virtuosen des Narrativen, Kenner entscheidender Momente, des "instant décisif".

Sophie Calles Arbeit wird meist nicht in erster Linie als Fotografie rubriziert, sondern als Konzeptkunst. Eine von ihr übrigens nicht unbedingt geliebte Schublade des Kunstbetriebs - in einem Interview bezeichnete sie sich, auf die Konzeptkunst angesprochen, humorvoll als "eine Midinette des Konzepts".

Ungeachtet ihres leisen Spotts kann man Sophie Calle sicherlich dennoch als Konzeptkünstlerin bezeichnen."Aber", so die New York Times über die Pariser Premiere dieser Ausstellung,"in Wirklichkeit wird ihre Arbeit am besten durch das definiert, was sie macht: Sie untersucht die Welt und ihren Platz in ihr, und sie erforscht den Blick anderer auf die Welt und ihren Platz in ihr." Hier kommen dann die Aspekte ins Spiel, von denen Cartier-Bresson in der eingangs zitierten Passage spricht: .

Es geht um den künstlerischen Prozess der strengen Auswahl, das "Rohmaterial des Lebens" und das,"was man davon weglässt". Und auch den Umstand, dass "eine Beiläufigkeit des Menschenlebens zum Leitmotiv werden" kann, erhellt uns Sophie Calle in einer faszinierenden Verschränkung von Wiederholung und Variation.

Die Künstlerin begegnet uns als Detektivin: Sophie Calle spürt scheinbar Beiläufiges auf, findet Belegstücke, die zum Ausgangspunkt einer rätselhaften, verschnürten Erzählung werden.

Sie schlüpft in Rollen, ermittelt und lässt ermitteln. Verlauf und Ergebnis ihrer Fahndungen im "Rohmaterial des Lebens" montiert und dokumentiert sie in Fotografien, Filmen, Objekten und Texten.

Man sagt, Sophie Calle habe den Voyeurismus zur Kunst erhoben."Das Drama vom Beobachten und Beobachtetwerden" nennt hingegen der amerikanische Schriftsteller Paul Auster die Obsessionen der Künstlerin, die er in seinem Roman "Leviathan" unter dem Pseudonym Maria Turner verewigt hat.

Sophie Calle gibt Gefühlen Raum. , lässt radikal Subjektives zu. Und doch bricht sie das Individuelle, Autobiografische durch die Unterwerfung unter Spielregeln und Rituale - oder spiegelt es in ihnen. Mit kriminalistischem Gespür legt sie doppelte Böden an, denkt auf eigentümliche, unverwechselbare Weise Fiktion und Realität zusammen.

Sophie Calle zieht auch "Text-Böden" in ihre Kunst ein. Sie schreibt sich selbst in Kunst-Texte ein, springt zwischen Ebenen von Geschichten, findet offene Enden, verbindet sie, lässt sie los, lässt sie lose. Vielleicht ist ja, wie ein Kritiker meint, sogar das Buch ihr "eigentliches Medium".

Meine Damen und Herrren,

ich freue mich sehr, dass Sophie Calle ihre Lebensbücher nun in Form dieser faszinierenden Präsentation in Berlin offen legt. Mein Dank für ihr Engagement gilt allen am Zustandekommen des Projekts Beteiligten. Der Ausstellung wünsche ich genaue Blicke und den Blickenden viel Vergnügen und Spannung bei der Lektüre. Und geben Sie acht auf die doppelten Böden! Vielen Dank!