Redner(in): Michael Naumann
Datum: 16.12.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/91/11791/multi.htm


Die Begriffe "Kultur" und "Globalisierung" behaupten seit einiger Zeit einen ähnlichen Rang in öffentlichen Erörterungen wie einst "Geist" und "Materie". Auf ihrem stets größer werdenden Gemeinplatz wachsen, gleich Buchsbäumen in synthetischen Stadtlandschaften, neue Stichwörter, wie zum Beispiel "kulturelle Identität", respektive ihre Bedrohung,"ethnische Authentizität" und mit ihr die Gefahr einer bornierten Butzenscheiben-Dumpfheit,"Weltmoden", meist gekoppelt mit dem Adjektiv "aufgezwungen","elektronische Dörfer", selten ohne den Zusatz: "vernetzt". Manchmal ist auch nur sehr altmodisch vom "Verlust der Seele durch das Gebot der Vermarktbarkeit" die Rede.

Auf tausenden raschelnden Seiten setzen die gegenwärtigen Begriffsdiskussionen renommierte kulturhistorische Apokalyptiker ebenso ins Brot wie die junge intellektuelle Laptop-Garde, die in Netzen denkt. Gemein ist den Debatten um die kulturelle Zukunft der Welt eine technische Utopie - dass eine Art allgemeiner Weltdiskurs über die Möglichkeit verfüge, ein ubiquitäres Podium aufzubauen: im Internet. Öffentlichkeit ", Schibboleth der republikanischen Hoffnung auf politische Wahrheit in Gesellschaft und Geschichte, scheint herabgesunken zu sein auf ein zeitgenössisches Ingenieursproblem: eine technische Option.

Doch während die Utopisten der Weltkultur noch von einem himmlischen Rauschen des selig machenden Internets ausgehen, sind die Praktiker in den Details der auseinanderfliegenden Software-Welt angekommen. In den Worten der Berliner Informatikerin Asuman Sünbül: "Heutige Softwaresysteme werden immer mehr aus Komponenten zusammengesetzt, die sich bezüglich Design, Implementierung, Schnittstellen, Plattform usw. zum Teil stark unterscheiden...". Anders gesagt: In der arkanen Welt der Software-Informatik wiederholt sich das babylonische Urerlebnis der Sprachverwirrung. Es bedarf Mathematiker, die technischen Probleme der "Komponenteninteraktion" zu lösen. Das gelingt meistens unter Schaffung neuer Softwareprobleme. In ihrer Arbeit spiegeln sie auf informationstheoretischer Ebene die etwas älteren Krisen wider, die Huntington unter dem Begriff des "Clash of Civilizations" thematisiert hat: Wie passen die verschiedenen Weltkulturen, hier also: die inzwischen auch historisch höchst verschiedenen elektronischen Plattformen der Computerwelt, zusammen? Passen sie überhaupt noch zusammen? Oder stehen wir vor einem neuen Zeitalter der globalen Komponentenkultur, der unvermuteten, labilen Gleichzeitigkeiten und flüchtigen Amalgamierungen unterschiedlichster Kulturfragmente? Gibt es eine Art globale Kultur-Bricolage? Und wenn ja, was wären ihre geistigen Katalysatoren ( außer dem unermüdlichen Gewinnstreben der beteiligten Konzerne ) ?

In einer beharrlich zunehmenden Zahl von Kulturen dieser Erde finden wir - zumindest auf der Ebene der Phänomene - isomorphe, also gleichförmige Komponenten. Das ist kein Zufall. Vor dem Autor liegen zwei solcher gleichförmigen Artefakten - eine Steinaxt aus Skandinavien, aus der Nähe von Stockholm und eine andere von einem Acker in Zentral-Missouri. Sie sind austauschbar, über Jahrtausende und zwei Kontinente hinweg. Kulturelle Artefakte, so die nahe liegende These, werden auf Herkunftslosigkeit angelegt, damit sie beliebig transportierbar sind. Ihre Aus-t beruht nicht nur auf funktionalen Identitäten, die identische Formen zur Folge hätten ( "form follows function" ) , sondern auch auf einer aller kulturellen Produktion anhaftenden oikumenischen Absicht der so genannten Kulturschaffenden: Sie arbeiten nicht für die Provinz, sondern für die Welt. Der kulturell-ökumenische Anspruch kann imperial werden: Die Landkarten Chinas zeichneten sich über Jahrtausende dadurch aus, dass sie keine Außengrenzen kannten. China war die Welt. Die Welt war China ( oder sollte es werden ) .

Der globale Geltungsanspruch haftete den Zivilisationsinstrumenten der Steinzeit, den Waffen, Werkzeugen und Schmuck genauso an wie heute und in Zukunft den Kulturprodukten des 21. Jahrhunderts. Ihr Reiz ist zwar nicht im Einzelfall, doch in der Summe der Erscheinungen mühelos konvertierbar in die Leitwährungen des internationalen Bankgeschäfts. Die Helden der Fernsehserien "Dallas", bisweilen auch ein deutscher Kommissar, um ein erstes Beispiel zu nennen, spielten und spielen ihre Spiele rund um den Globus. Die soaps setzten dabei, so lautet die wahrscheinlich haltlose Kritik, neue ästhetische Normen, die angeblich regionale Traditionen der dramatischen Darstellung von Familienstreit mit meist tödlichem Ausgang infragestellten, vielleicht auch endgültig vernichteten. Haltlos ist die Kritik, weil sie die Gründe des Erfolgs solcher TV-Serien unterschätzt: Was sie auszeichnet, ist ja das alte Globale, das Gewohnte und historisch seit Jahrtausenden Erprobte: die Plots, die Binnenstruktur der märchenhaften oder heroischen Erzählungen menschlichen Handelns in Gesellschaft. Mysteriöse Geburt, göttliche Herkunft, schwere Kindheit, frühes Leid, heldenhaftes Opfer im Kampf gegen die Finsternis, Tod und Auferstehung und schließlich Erlösung im Happyend von Liebe oder Welterrettung - das sind die bekannten mythischen, universalen Erzählmuster, die noch die dümmsten Episoden von "Dallas" rings um die Welt konsumierbar machten. Was spricht dagegen, wenn das erzählerische Handwerk stimmt? Womöglich liegt unsere Kritik an derlei amerikanischer Weltmassenware ganz woanders, nämlich in der heimlichen Furcht begründet, dass mit der Verbreitung des Immergleichen die eingebildeten Chancen auf Errettung Europas durch den beau sauvage ins Bodenlose sinken? Wohin wir schauen - es ähnelt sich so vieles.

Es ist schon auffällig, dass die Formen des politischen Protestes weltweit so ausgerichtet sind, als müssten sie alle für einen amerikanischen Fernsehsender inszeniert werden, in dessen dramaturgischem Verständnis keine andere Formen vorgesehen sind. Bereits die Geiselnahme der amerikanischen Botschaftsmitglieder in Teheran vor zwei Jahrzehnten konnte ohne weiteres als eine besonders kostspielige TV-Inszenierung betrachtet werden, deren weltweit vorzügliche Einschaltquoten das formale und terroristische Verhalten der Geiselnehmer stärker prägten als ihre fundamentalistischen, religiösen Neurosen. Vor der Botschaft errichteten die jungen Revolutionäre zuerst einmal ein Podium für die amerikanischen TV-Kameras; die hohen Satellitengebühren, die von den US-Stationen an den iranischen Revolutionsrat entrichtet wurden, senkten zugleich dessen Kompromissbereitschaft. Auch global vermittelter Terror konnte so zum Geschäft werden. So entstand eine unterhaltsam-gruselige TV-Serie, über die am Ende ein amerikanischer Präsident, Jimmy Carter, beim Versuch, wieder gewählt zu werden, kläglich stolperte. Die Belagerung von Botschaften hat es seither zu einer weltweit akzeptierten Protestform gebracht. Das neuzeitliche Urheberrecht liegt bei Chomeini.

Es existieren mildere Formen der weltweiten Komponentenkultur. Die Pictogramme zum Beispiel, deren Siegeszug bei den Münchner Olympischen Spielen begann, erlauben das taubstumme Wandern durch Ballungszentren des Welttourismus. Doch die eigentliche lingua franca des Kulturverfalls, so behaupten die Optimisten wie die Pessimisten der Globalisierungstheorie - und geben damit den Realisten Recht - , diese lingua franca ist Englisch. Und wenn nicht die Sprache selbst, dann kleinere Versatzstückchen, Anglizismen eben, die den Aussagen der jeweiligen Landessprache ein "globales Flair" verschaffen sollen. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "englisieren" oder "anglisieren" bezeichnete ein Verfahren, das dem Pferd gestattete, seinen Schwanz besonders hoch zu tragen. ( Alle Apologeten sprachlicher Reinheitsgebote sollten freilich bedenken, dass der Kampf gegen "Fremdworte" von Ressentiments gegen Fremde schwer zu unterscheiden ist. Fremdworte, so ein schönes Wort von Adorno, sind die Asylanten in der Sprache: Sie haben Bleiberecht. )

Die agora, das forum, selbst speaker's corner, so heißt es, sind auf die Größe eines Bildschirms zusammengeschrumpft, der gegen entsprechende Benutzergebühr jederzeit die allfälligen Botschaften aus dem Reich des Internet abrufbereit hält. Das Internet, schon als sprachliches Konstrukt eine tollkühne Verbindung zwischen dem Episkopalen - dem Auswerfen von Netzen nach Art der Apostel - und einer lateinischen Präposition, die uns wenig mehr als einen leeren Raum vermittelt, das Internet also gilt den radikalen Warnern vor einer Globalisierung der Kultur gleichsam als der Maschinenraum des Bösen, die Zentralanstalt zur Verbreitung, mehr noch: zur Oktroyierung nicht so sehr einer Symbolsprache wie eines Symbolpatois, eines Symboljargons der extrem verkürzten Sinnhorizonte. Doch während die Klagen immer länger werden, löst sich die globale Datenflut in ihre systemischen Komponenten auf, die elektronisch einzufangen immer schwieriger wird. Dot.com signalisierte vor Jahresfrist noch Prägnanz; die Wahrheit im Internet aber ist ein außerordentliches Faktenchaos, wenn nicht gar Anarchie - auch politische. Was ist vom kritischen Verdikt der Internet-Pessimisten zu halten angesichts des Sachverhalts, dass es doch gerade das Internet war, das über sein Subsystem Z-Net vor drei Wochen den gewaltigen Protest gegen die Globalisierung der Ökonomie auf der gescheiterten WTO-Konferenz in Seattle organisierte?

Nun kann man die quasi globale Verfügbarkeit von materiellen Gütern und ihren kulturellen Pendants aus dem Würz- , Getränke- oder Tabakbereich noch getrost den imperialen Marktstrategien eines kräftig entwickelten Kapitalismus zuschreiben. Und in der Tat haben das viele Beobachter auch getan ( dass Coca Cola einfach schmeckt, steht nicht auf ihrer kritischen Rechnung ) . Neu an dem Phänomen der kulturellen Globalisierung ist aber ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit. Auch ist es nur gerecht, an dieser Stelle einmal das Wort "Kapitalismus" durch "aggressive Exportwirtschaft" zu ersetzen; denn es ist schon so, dass das Schnellfeuergewehr der Marke "Kalaschnikov" zahllose traditionelle, indigene Kulturformen bewaffneter Konflikte gleichsam modernisiert und globalisiert hat. Gleich der Steinaxt von ehedem ist das Bild des Schnellfeuergewehrs längst eine Art Weltsymbol mechanisierter Gewalt geworden. In der Kalaschnikov ist die archaische Tapferkeit abstrakt geworden, auch im afrikanischen Urwald. Sie hat sich aus dem Tugendkanon der klassischen Mythologie emanzipiert. Heute reicht es, feige zu sein.

Mit dem Beispiel der amerikanischen Botschaft von Teheran, also dem Phänomen der stilbildenden Austragung von Konflikten, bewegen wir uns bereits auf einer weiteren Ebene der Diskussion, die hier nur angedeutet werden soll: der Globalisierung ethischer Verhaltensweisen. Sollen Horst Tappert oder Inspektor Colombo nicht nur normativ wirken für gut sitzende Toupets oder zerknautschte Regenmäntel, mithin für das ramponierte Reich der Sinne oder stehen sie auch für einen - nennen wir es mit Max Weber "zivilisatorisch universalisierbaren Anspruch von Rechtssicherheit" ? Dass klassische Heldenmythen ( Mord und Totschlag, Infantizide, Kannibalismus, Inzest, das übliche Hollywood-Bouquet also ) gerade dadurch, dass sie - anlässlich bestimmter Jahresrituale archaischer Gesellschaften immer wieder festlich vorgetragen - die Ungemütlichkeit ungeordneter Zustände in illud tempore als Folie für die normative Selbstordnung zum Beispiel der Polis nutzten, ist bekannt. Sollten die ungezählten "Tatort" - und Cop-Serien von heute nicht eine ähnliche Funktion haben? Umgekehrt ist allerdings auch bekannt, dass sich New Yorks Mafia-Familien nach dem Millionenerfolg von Coppolas "Paten" die Manierismen des Hauptdarstellers Marlon Brando angewöhnten: Machtvolles Nuscheln und päpstliche Gebärden, Wangenkuss und sicilianita. Und die Undercover-Cops New York kleideten sich jahrelang wie die Helden der TV-Serie "Hill Street Blue" : Schmuddel-Pulli, Jeans, Dreitagebart und Pudelmütze. So signalisierten sie der New Yorker Unterwelt diskret, dass auf sie nicht zu schießen sei: Ordnung durch Mode im Milieu.

Statt Odysseus überlistet heute Horst Tappert für halb Europa die Manifestationen des Bösen. Er sorgt, symbolisch versteht sich, für Ordnung. So lernen wir, was im Katechismusunterricht einst gelehrt wurde: Du sollst nicht töten. Neu ist nur: Denn Du wirst von Derrick erwischt.

Inzwischen beantworten wir die Frage nach der politischen Qualität von globaler Ordnung mit dem Hinweis auf die "Menschenrechte" - und die eigentlich fällige, kritische Unterstellung müsste lauten: Die Globalisierung der Kultur zwinge dem Rest der Menschheit das auf, was in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa seit der Aufklärung oder seit der puritanischen Revolution für gerecht erachtet und schließlich vom Plenum der Vereinten Nationen entsprechend kodifiziert wurde. Je nach kulturellem oder moralischem Standort des Betrachters erfolgt dann auch die Bewertung dieses Prozesses. Einige Fragen reichen allerdings immer noch aus, um unser eurozentrisches Kulturgemüt zu beunruhigen: Gibt es womöglich doch einen kulturellen Anspruch auf Klitorektomie, auf Polygamie, auf Witwenverbrennung? Nein? Wer entscheidet über die Legitimität des Verbots? Ist das Recht auf eine freie Wahl des Arbeitsplatzes universalisierbar? Gilt das Gebot der Toleranz auch gegenüber Religionsgemeinschaften, die nicht zwischen säkulären und metaphysischen Anliegen trennen, die mithin dem Locke'schen Gebot von Toleranz mit einer Fatwah zu beantworten belieben? Und wenn kulturelle Toleranz kein gesellschaftlicher Selbstmordvertrag ist, wo setzt sie ihre Grenzen, wer bestimmt sie? Wer bestraft allfällige Überschreitungen mit welchen Sanktionen?

Und, schlimmer noch, können wir den Wehrpflichtigen unseres Landes zumuten, in einem ethnisch-kulturellen Konflikt einzugreifen, in dem auf beiden Seiten weder europäische Werte noch universale Menschenrechte auf dem Spiel stehen, sondern postkannibalische Hassstrukturen von Familienrecht und Blutrache das Handeln der Konflikt-Partner definieren - ganz wie in den Heldensagen unserer Vorfahren?

Oder umgekehrt gefragt: Dürfen ethische Normen, die wir als konstitutiv für die Würde des Menschen empfinden, in anderen Kulturen für ungültig erklärt werden, weil sich dort ein anderer ethnischer Begriff von Würde konstitutiert hat? Und was, wenn es dort überhaupt keinen Begriff von individueller Würde gibt?

Damit sind wir bei der Kernfrage der kulturellen Globalisierung und einer globalisierten Kultur angelangt: Der Wettkampf der Weltkulturen um die Repräsentation der Wahrheit vom Menschen in Gesellschaft und Geschichte. Kulturellen Expansionismus im Namen einer offenbarten Wahrheit kennt die Menschheit seit Jahrtausenden. Vielleicht auch schon länger. Mal mit friedlichen, mal mit weniger friedlichen Methoden nimmt er seinen Lauf. Unsere Geschichtsbücher sind gespickt mit Wörtern wie Hellenisierung, Christianisierung, Islamisierung, Russifizierung oder Sinisierung. Fast jede Hochkultur brannte darauf, die Umwelt am eigenen Wesen genesen zu lassen - und das gewiss nicht nur aus sicherheitspolitischen Bedenken, sondern vor allem auch zur Austilgung des gefährlich Geheimnisvollen, ja, der Lüge schlechthin. Bei den Kelten wie bei den Goten, den Massai und den Preussen rührte die Idee der mission civilisatrice aus einem robusten Stolz auf die eigene kulturelle Überlegenheit und die Gewissheit des deutschen Koppelschlosses: "Gott mit uns", nicht mit den anderen. Die gnostische Ausformung dieses Glaubens in kommunistischen und faschistischen Ideologien nachzuweisen, ist das Hauptverdienst des Geschichtsphilosophen und Politikwissenschaftlers Eric Voegelin, dessen Lehren zumal in Osteuropa den Gang des Widerstandes gegen die Sowjetunion nachhaltig beeinflussten. Die deutsche Klassik, so zeigten seine Schüler in den sechziger und siebziger Jahren, plante nicht die ästhetische Erziehung des Deutschen, sondern der Menschheit; die deutsche Sprache, so Schiller, sei der Stamm Europens, die anderen bildeten die Äste. Welterlösung durch Weltoffenbarung, so lautete der zweifelhafte, deutsche Beitrag zur Kulturgeschichte in Kunst, Literatur und Politik. Offenbarung heißt Apokalypse. Hegels Weltgeist war auf unserer Seite. Globaler ging es eigentlich nicht.

Der gelehrten Aufmerksamkeit ist das Phänomen der Kulturexpansion natürlich nicht entgangen. Wissenschafts- und Kulturhistoriker, allen voran Joseph Needham aus Cambridge, haben scharfsinnige und materialreichste Folianten über Ausbreitungsgeschwindigkeiten von Kulturtechniken hinterlassen, haben auf Diffusionsvorgänge hingewiesen und auf Verschmelzungsvorgänge. Wir wissen mittlerweile, wie sich die Schubkarre ausgebreitet hat, wie Sternenbeobachter voneinander lernten und stahlen, dass die Impfung ein kulturelles Verdienst asiatischer Zivilisationen ist und dass, wollen wir Sombart glauben, der unvermittelte Banken-Aufstieg des modernen Kapitalismus der Erfindung eines neumodischen Diamantenschliffs zu verdanken sei, der die Kleiderordnung an Europas Barockhöfen aufs teuerste infizierte. Konzentrisch um spanische Häfen nahm die erste europäische Inflation von Gewicht ihren Ausgang: Das aus Amerika importierte Gold verdarb die Preise, ehe es unsere Kultur nachhaltig prägte. Kurzum: So ganz hart und unvorbereitet trifft uns die kulturelle Globalisierung nicht.

Neu ist, wie erwähnt, natürlich ihre Durchsetzungsgeschwindigkeit. Ein stilbildendes Unterfangen ( zum Beispiel die Verbreitung von Lego-Bausteinen oder Benneton-Pullovern ) , das früher - bei den Römern, den Osmanen oder den Han-Chinesen - Jahrhunderte in Anspruch nahm, kann heute innerhalb einiger Monate, allenfalls einiger Jahre abgeschlossen werden. Wobei es Historikern, gegenwärtigen und künftigen, vorbehalten sein mag, festzuhalten, wie lange der jeweils neue Kulturstand als stabil zu bewerten ist. Manches deutet darauf hin, dass die Moden immer härteren Verfallsgeboten und damit immer geringeren Halbwertzeiten unterliegen. Es spricht zudem vieles für die Vermutung, dass die jeweilige Ausbreitungsgeschwindigkeit sich umgekehrt proportional zum Gewicht der Botschaft verhält. Dabei treffen ein Turnschuh und eine Baseballkappe zwangsläufig auf weniger Widerstand als die Transsubstanziationslehre.

Der zweite Aspekt, der neu erscheint, betrifft die Dimension der Akzeptanz, genauer den Verlust widerständiger Traditionen. Hier gilt die schlichte Einsicht: Der Markt leistet lächelnd, was kein Terror zustandebringt oder je zustandebrachte. Die - vornehmlich durchs Fernsehen in die weite Welt ausgestrahlten - Botschaften des Konsum-Verhaltens werden mit einer begeisterten Willfährigkeit, ja fast schon enthusiastischer Demut empfangen, weiterverbreitet und befolgt. Es ist eine Akzeptanz, die anderen missionarischen Unternehmungen vorenthalten blieb. Dabei müssen - anders als früher - keine kulturellen Kompromisse mehr gemacht werden: Zu erinnern ist an die Jesuiten, die im China des 17. Jahrhunderts den Heiland buchstäblich vom Kreuz nehmen mussten, um die zu Bekehrenden nicht zu schockieren - die Missionierten wünschten sich nämlich einen starken Gott, keine Exekutionsfigur am Wegesrand. Ein Wunsch, dem die Missionare trotz mancher Bedenken aus Rom prompt nachkamen. Zu erinnern ist an die Zugeständnisse, die der Marxismus an französische Existenzialphilosophen machen musste, zu erinnern ist an das Schicksal des Jazz in Deutschland, als ihn die protestantische Kirche in das Rüstprogramm ihrer Kirchentage aufnahm. Die kulturelle Eklektik unserer Zeit fällt natürlich gerade in jenen Institutionen auf, die sich jahrhundertelang damit beschäftigten, den sinnlichen Erfahrungshorizont im irdischen Jammertal zu beschränken.

Die Richtung der Ausbreitung ist fast beliebig. Für die zahllosen Videoclips, die von Westen nach Osten, vom Norden in den Süden ihre Leuchtspur ziehen, kann man andere Artefakte nennen, die den umgekehrten Weg eingeschlagen haben: koreanische Kampfsportarten etwa oder die so genannte traditionelle chinesische Medizin, jener kulturelle Exportschlager aus dem Reich der Mitte. In der Musik ging es schon früher, geht es heute bekanntlich ganz besonders wild zu, der Komponist Wolfgang Rihm hat dafür den hässlich zutreffenden Begriff Nairobi-Airport-Aesthetik gefunden. In der Altstadt von Sarajevo traf ein bekannter Kulturkritiker kurz vor Ende des Krieges im halbzerstörten Eingang des dortigen Standesamtes auf eine jener bekannten Volksmusikgruppen aus den Anden, die dort für ein bosnisches Hochzeitspaar "El Condor pasa" aufführten. Ihre feingestrickten Mützchen waren von der örtlichen Babymode kaum zu unterscheiden.

Woher stammt diese Akzeptanz, die jedes Fremde, wenn es nur nicht zu teuer ist, akzeptiert, als wäre es ein Eigenes? Ist es Toleranz? Wohl kaum. Ist es ennui angesichts des Immergleichen? Oder ist es etwas ganz anderes, nämlich die Lust an der bricolage, der mythischen Bastelarbeit, die im täglichen Kampf der Weltinterpretation alles aufgreift, was auf dem Boden und den Regalen der mythografischen Werkstatt herumliegt oder was durch den Briefkasten des weltweiten Netzes hereintrudelt unter dem Motto "You have mail!" ?

So wahr es wohl ist, dass sich in der globalen Kultur bei entsprechendem Druck auf den Markt quasi geklonte Produkte überall ausbreiten, so wahr ist es auch, dass die lokalen Deutungsmuster diese Produkte gleichsam "einkulturieren" oder "kontextualisieren". So wie die chinesische Küche in Spanien spanisch, in München dagegen bayerisch schmeckt, so findet auch in vielen anderen Fällen die lokale Kultur Mittel und Wege, den Import mit spezifischen Bordüren des Hausgemachten zu umgeben. Oder sie erklärt den Import flink zum eigenen Produkt: Der Samowar gilt den Bewohnern des Iran längst als eine genauso autochthone Erfindung wie der Tee. Die chinesischen Mathematiker des 17. Jahrhunderts gaben Euklid einen würdevollen chinesischen Namen und erklärten ihn zu einem ihrer leiblichen Vorfahren. Der griechische Kaffee ist genauso wenig griechisch wie der türkische türkisch, sondern stammt aus Moka im Jemen. Und dass andere Länder auch guten Käse zubereiten, dürfte den Schweizern und Franzosen immer noch unwahrscheinlich vorkommen.

Kulturen sind eben adaptionsfähig und gefräßig. Die Zeit, in der Weltläufigkeit auf den Namen "Capuccino" hörte, ist auch vorbei. Den gibt's jetzt auch in Iphofen am Steigerwald. Ethnologen nennen diesen Vorgang der Aneignung "Kreolisierung" oder "Bastardisierung"; ein gewisser Kultur-Rassismus ist dabei nicht zu überhören. In Wirklichkeit ist es einer der selbstverständlichsten Vorgänge der Welt - im eigentlichen Sinne des Wortes ist es sein Ziel, zu "entfremden". Der Prozess findet im Kopf der Betrachter statt, die Kultivierten, des Publikums. Ein Film, den die Schriftstellerin Irene Dische vor ein paar Jahren über ihren Vater gedreht hat ( "Zacharias" ) , einen aus Mitteleuropa nach den Vereinigten Staaten vertriebenen Juden, zeigt den Effekt: In einer bewegenden Szene erzählte Vater Dische von seinem neuen Kaffehaus in der Upper Eastside New Yorks, das er so überaus schätze, weil es ihn an die alte Heimat erinnere. Die Kamera machte einen Schwenk und zeigte das Lokal: es war die örtliche Niederlassung von McDonalds.

Auf der Bühne der Phänomene betrachtet, kann der Prozess der kulturellen Globalisierung keinen so rechten Schrecken mehr einjagen. Es ist schließlich eine Eigenschaft von Kultur, bedroht zu sein, das Fragile, das Verletzbare macht einen ihrer Reize aus. Noch etwas zugespitzter gesagt: Kulturpolitik auch in den Zeiten der Globalisierung kann nur intellektuelle oder künstlerische Verbindungen erleichtern oder aufrechterhalten, die andere Kräfte - aus welchen Motiven auch immer - gerne stillgelegt hätten. Völlig abwegig erscheint zudem der Gedanke an die Einführung einer Art Reinheitsgebot für kulturelle Belange. Insofern stehe ich dem Abwehrverhalten unserer Europäischen Union, die sich hinter dem Begriff einer schützenswerten europäischen "diversité culturelle" in WTO-Verhandlungen in Wahrheit verbirgt, eher skeptisch gegenüber. Das "Generalsekretariat für die Genauigkeit der Seele", mit Robert Musil gesprochen, ist nach diesem deutschen Jahrhundert keine Option mehr. Man muss dazu gar nicht erst die Beispiele des europäischen Totalitarismus beschwören, man kann einfach darauf verweisen, wie notwendig für jedes Biotop unseres Planeten der Austausch ist. Und es spricht ja vieles für die Vermutung, dass künftige Kulturformationen eher einen Mosaikcharakter tragen, dass sie also nicht zu jenen monolithischen Gebilden werden, wie sie uns der amerikanische Soziologe Huntington dramatisch beschworen hat. Das neue Gespenst, das um die Welt zieht, heißt Komponentenkultur. Hier klebt zusammen, was zusammen klebt.

Gefahren lauern in einer ganz anderen Richtung. Bedroht wird Kultur im Zeitalter der Globalisierung insbesondere dann, wenn ihre Gehalte als Shareholdervalue gehandelt werden. Es ist überall ersichtlich, dass auch die Kulturindustrie durch freundliche und unfreundliche Übernahmen geprägt wird. Deren Produkte müssen selbstverständlich marktfähig, am besten weltmarktfähig strukturiert werden, was bedeutet, dass auch hier, im Namen eines global zu erzielenden Deckungsbeitrags, die betriebswirtschaftlichen Gebote von Rationalisierung und Ressourcen-Optimierung greifen. Im Zeitalter des weltweiten Äquivalententausches unterliegen neben Finanztiteln eben auch die Titel der Kulturproduktion den universalen Normen der Standardisierung, der Profitabilisierung und zudem noch der Banalisierung. Schrill und preiswert muss es zugehen, auf dem Jahrmarkt der Weltkulturen, allgemein verständlich, das heißt: auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht. Der ist nicht selten auch der dümmste. Es gibt, um auch hier nicht mit Beispielen zu geizen, in der Tat den Verleger, der hochnotpeinlich seinem Bankier erklären muss, warum die Renditensteigerung von fünfzehn oder zehn Prozent nicht gelungen ist. Dass er einen Nadas einem Grisham vorzog, gilt nicht mehr hinnehmbar. War es früher, mit Samuel Fischer gesprochen, die Aufgabe des Verlegers, dem Publikum Werte aufzudrängen, die es nicht kannte oder schätzte, so scheint sich heute die Schlachtordnung verkehrt zu haben. Das Publikum gibt den Ton an, und der Tonverstärker sitzt in der betriebswirtschaftlich gebannten Geschäftsführung: Er tragiert die Rolle des demoskopisch belegbaren, zielgruppenspezifischen Priesters von Massengeschmack. Das hat hörbar Folgen. Es gibt zum Beispiel in der Musikproduktion den fatalen Hang, ökonomisch bewährte Klangsequenzen in immer neuen Instrumentalisierungen auf den Markt zu werfen, es gibt den Gigantismus der Großkunstprojekte, den Museumsimperialismus, es gibt, es gibt, es gibt. ....

Die vehementesten Kritiker dieser Entwicklung verbinden ihre Klage mit heftigen Vorwürfen gegen die Exportpolitik der Vereinigten Staaten. Die "kulturelle Amerikanisierung", sozusagen der Grundakkord in den aktuellen Diskussionen um jene Globalisierung, gilt bereits als empirisches Argument jenseits aller Kritik. Die ökonomisch und technisch am weitesten entwickelte Macht dieser Erde, so lautet die Botschaft, sei willens und im Stande, ihre eigenen Normen der Kultur weltweit durchzusetzen. Ich kann dieser Klage schon deshalb nur schwer folgen, weil mir unter anderem die Besitzverhältnisse in den größten amerikanischen Verlagen ziemlich genau bekannt sind. Dennoch sollte man den kulturellen Imperialismusvorwurf, den der damalige französische Kulturminister Jack Lang so malerisch zuerst in Lateinamerika vortrug, wenigstens soweit zur Kenntnis nehmen, dass man sich die Frage stellt: Wer sind eigentlich die großen Gewinner dieses Prozesses der Globalisierung und wer sind die Verlierer? Und hier geht es mir, anders als vielleicht Jack Lang, nicht um die Rendite der internationalen Medienkonzerne oder John Grishams, der kürzlich für drei Romane ein Garantiehonorar von $ 100 Millionen erhalten haben soll.

Auf dem Gebiet der Kultur kann ich mir - anders als in der Wirtschaft - vielmehr eine größere Zahl von Gewinnern vorstellen. Denn der vorhin beschriebene Trend zur Uniformisierung der Kultur wird zweifelsohne eine Gegentendenz zur Nischenbildung befördern. Das Auskleiden der Nischen wird durch die neuen Techniken der Verbreitung und der Reproduktion erleichtert. Monopole auf Kultur werden sich nicht sichern lassen, das Elitäre, soll heißen: das Neue und Unbequeme, das Ungesicherte und Provokative, das Fantasievolle und Verrückte, also all das, was immer noch Kunst konstituiert, wird ein anderes Versteck suchen und finden.

Ob dieser Vorgang zu begrüßen ist oder ob wir die Hände über dem Kopf zusammenschlagen sollten ( ein kultureller Vorgang, der auch ziemlich aus der Mode gekommen ist ) , wollen wir erst dann entscheiden, wenn es so weit gekommen ist. Voraussagen, Hochrechnungen gar haben in der Kultur stets unverschämt kurze Beine.

Den Einfall des Globus verdanken wir dem griechischen Philosophen Anaximander, Ptolemäos hat später dann die Einzelheiten hinzugefügt. Anaximander, der im 5. vorchristlichen Jahrhundert lebte, obwohl er das natürlich nicht wusste, glaubte an einen Urstoff und an eine endlose Aufeinanderfolge von Weltbildungen. Diese Urmaterie war ihrer Beschaffenheit nach unbestimmt, ihrer Ausdehnung nach unendlich. Klingt uns das nicht vertraut? Können wir uns eine schönere Definition von Kultur vorstellen als jene, die auch noch von dem Erdenker des Globus stammt?

Die Aufeinanderfolge jener kulturellen Weltbildungen wird, sofern wir "Welt" als das begreifen, was es ist, nämlich ein mythisches Symbol und kein empirisches Zeichen, die Aufeinanderfolge der Weltbildungen also wird nicht linear vonstatten gehen: Sie wird sich stärker als je zuvor mit dem Zusammenfügen von kulturellen Komponenten aus allen Himmelsrichtungen beschäftigen, und je vielfältiger dies abläuft, umso schwächer werden die Chancen, den globalen Kulturprozess auf einen synthetischen Nenner im Internet zu bringen. Denn jedes Mal, wenn die Straßenbauer des weltweiten Datenflusses einen neuen Weg, eine neue Brücke gebaut haben ( höhere Maut inklusive ) , bricht der Verkehr erst einmal zusammen und sucht sich dann andere, bessere Wege.