Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 31.12.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/14/66914/multi.htm


Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger! In wenigen Stunden beginnt das Jahr 2000. Wir alle spüren es: Dies ist keine Silvesternacht wie jede andere. Ein jeder von uns wird sich ein Leben lang daran erinnern, wo und wie er diese Stunden verbracht hat. Ob im Kreis der Familie, mit Freunden oder auf öffentlichen Feiern wie hier heute Nacht in Berlin vor dem Brandenburger Tor. Hinter uns liegt ein Jahrhundert der Kriege und der Diktaturen. Aber auch ein Jahrhundert des Wirtschaftswunders und der Wiedervereinigung, der Demokratie und der Freiheit. Die Hoffnungen und Erwartungen an das sogenannte Millennium sind groß. Schon die Jahreszahl "2000" hat für viele einen fast magischen Klang - den Klang einer neuen Epoche voller Möglichkeiten, von denen frühere Generationen nur träumen konnten. Ich weiß, dass vor allem das Tempo der Veränderungen vielen Menschen auch Angst macht. Aber ich denke, wir haben keinen Grund, uns vor der Zukunft zu fürchten. Deshalb bitte ich Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ganz gleich welche Enttäuschungen, welche traurigen oder schicksalhaften Erfahrungen auch hinter Ihnen liegen: Lassen Sie uns diesen Wechsel ins Jahr 2000 vor allem mit Optimismus, Zuversicht und neuem Vertrauen begehen. Die Anforderungen der Welt von morgen und die Veränderungen, vor denen wir stehen, betreffen uns alle. Wir können nicht dasitzen und abwarten, was der Staat, was die Politik tun können. Wir alle müssen unsere Zukunft in die eigenen Hände nehmen und selber mehr Verantwortung tragen. In der Gesellschaft von morgen zählt nichts so sehr wie Bildung und Ausbildung. Die Bundesregierung wird deshalb alles daran setzen, dass jeder Jugendliche, der es will, eine Ausbildung bekommt, die ihn für die Anforderungen der neuen Zeit qualifiziert. Die Gestaltung der Zukunft beginnt in der Gegenwart. Die Bundesregierung hat noch im alten Jahrhundert wichtige Weichen gestellt. Viele von Ihnen werden schon im Januar die Entlastungen spüren, die die Bundesregierung mit der Steuerreform und der Förderung von Familien mit Kindern bewirkt hat. Unsere Wirtschaft befindet sich auf einem guten Wachstumskurs. Aber die Arbeitslosigkeit ist leider noch immer erschreckend hoch. Und Arbeitslosigkeit - das heißt ja nicht nur, dass das Geld nicht reicht, eigene Wünsche zu erfüllen. Arbeitslosigkeit heißt eben auch, dass Fähigkeiten ungenutzt bleiben, dass Menschen sich ausgeschlossen und überflüssig fühlen. Deshalb ist die Schaffung neuer Arbeitsplätze auch im kommenden Jahr mein dringendstes politisches Anliegen. Entscheidende Maßnahmen hat die Bundesregierung bereits ergriffen - auch wenn alle dabei Opfer bringen mussten. Wir haben Schluss gemacht mit der galoppierenden Staatsverschuldung. Niemand kann auf Dauer mehr ausgeben, als er eingenommen hat. Daran muss sich auch der Staat halten - schon aus Verpflichtung gegenüber unseren Kindern und Enkeln. Wir haben mit der Reform der sozialen Sicherung, vor allem bei der Rente, begonnen. Wenn wir weiterhin finanzielle Sicherheit für die Älteren und bezahlbare Beiträge für die Jüngeren haben wollen, dann geht dies nicht ohne ein Stück mehr Eigenverantwortung für die Alterssicherung. Aber auch nicht ohne praktische und praktizierte Solidarität. Es geht eben nicht immer nur ums Geld. Es geht auch um Mitgefühl und Interesse für den anderen. Ich denke, wir brauchen keine Gesellschaft, in der viele fast alles über die Börse in Bangkok wissen - aber keiner mehr mitbekommt, wenn beim Nachbarn seit Wochen der Briefkasten nicht mehr geleert wurde. Verantwortung tragen wir auch vor der Geschichte. Ich bin deshalb froh, dass es uns am Ende des alten Jahrhunderts gelungen ist, eine Einigung in der Frage der Zwangsarbeiter-Entschädigung zu erreichen. Wir Deutsche hatten hier eine besondere moralische Verantwortung. Und ohne das Bewusstsein unserer Vergangenheit kann es keinen guten Weg in die Zukunft geben. Deutschland wird mit der "EXPO 2000" im nächsten Jahr in Hannover Gastgeber der ersten Weltausstellung des neuen Jahrhunderts sein. Sie gibt uns Gelegenheit, unsere Weltoffenheit und Gastfreundschaft unter Beweis zu stellen. Lassen Sie uns das Jahr 2000 auch zu einem Jahr der guten Nachbarschaft, der Absage an Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit machen. Unser Land wird im neuen Jahrhundert weiter zusammenwachsen. Je besser wir diesen Prozess der inneren Vereinigung im Herzen Europas gestalten, desto mehr geben wir auch ein Beispiel für das weitere Zusammenwachsen Europas. Nur wenn wir alle zusammenstehen, kann diese große Aufgabe gelingen. Im neuen Jahrhundert werden wir umdenken müssen. Wir werden unsere Ansprüche überdenken und mehr Verantwortung übernehmen müssen. Wir werden unser Wohl nicht dem Staat allein überlassen können. Ich bin sicher: Wir Deutsche haben die Kraft und den Mut zu diesem Aufbruch. Ich bin ebenso sicher: Die faszinierenden Möglichkeiten des neuen Jahrhunderts werden diesen Mut belohnen. Und unsere Kinder und Enkel werden es uns danken, wenn wir ihnen Perspektiven für eine friedliche und lebenswerte Zukunft eröffnen. Erstmals in unserer Geschichte haben wir Deutschen die Chance, ein neues Jahrhundert in einem in Frieden und Freiheit geeinten Land zu beginnen. Vor uns liegt die glänzende Aussicht, für alle Menschen in Europa eine Zukunft des Wohlstands und der Demokratie aufzubauen. Lassen Sie uns diese Chancen miteinander nutzen. Ich wünsche Ihnen alles Gute für das Jahr 2000.