Redner(in): Michael Naumann
Datum: 05.01.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/40/11840/multi.htm


Herr Naumann, die Museumsinsel und die Berliner Sammlungen sollen neu geordnet werden. Was halten Sie von den Plänen des Generaldirektors Peter-Klaus Schuster?

Es geht hier nicht um die Einrichtung eines nationalen Kunstheiligtums, sondern darum, mithilfe der opulenten Bestände ein Weltkulturfenster zu öffnen - für die Bürger dieser Stadt und des Landes, für Besucher, für Forscher aus aller Welt. Das Ganze ist finanziell ein ambitioniertes Unternehmen, vor uns liegt eine zentrale kulturpolitische Aufgabe des Bundes für die nächsten Jahre. Das Gesamtvolumen dürfte bei fast zwei Milliarden Mark liegen, gestreckt über ein Jahrzehnt.

Damit uns die Sache gelingen kann, müssen Berlin, die Länder und der Bund verstehen, was die repräsentative Funktion einer Hauptstadt ist: nämlich nicht sich selbst und das Land selbstzufrieden zu bespiegeln, sondern sich der Welt zu öffnen, die in die Stadt kommt - und die Weltkunstschätze zu ehren, die in den Depots und Regalen liegen. Der Weg dahin ist außerordentlich schwierig. Auch die Stiftung ist dabei, umzudenken und sich dem Publikum mehr denn je zu öffnen. Der Bund muss verstehen, dass die Sparpolitik gegenüber der Stiftung, mit der wir ja bereits Schluss gemacht haben, indem wir den Etat 2000 um 100 Millionen erhöht haben, nicht wieder aufgenommen werden kann. Das bedeutet auch, dass einige Länder, an der Spitze Bayern, sich angesichts dieser Anstrengung nicht verweigern dürfen. Bayern zahlt bisher 300 000 Mark an die Stiftung jährlich, Nordrhein-Westfalen hingegen über 14 Millionen.

Diese Ungleichgewichte, die wie verspätete Reflexe auf die Zeit vor Bismarck wirken, müssen aufgehoben werden. Berlin ist Hauptstadt des ganzen Landes.

Woher soll so viel Geld kommen?

Wir wollen nationale Finanzierungsmethoden entwickeln, um über den beschränkten Etat der Stiftung hinausgehen zu können. Es gibt zum Beispiel die Idee, eine entsprechende Gedenkmünze zu lancieren, die dann die letzte in der Geschichte der D-Mark ist. Auch der Präsident der Bundesbank wäre damit einverstanden.

Gefährden Sie mit solch gigantischen Projekten nicht den Kulturföderalismus?

Jeder neue Autobahnabschnitt ist gigantischer. Es ist schon witzig, dass alle Bundesländer sich in der Hauptstadt teure Botschaften, pardon, Landesvertretungen bauen - sogar Berlin - und dann kulturpolitische Investitionen, die die Länder der Hauptstadt, und damit auch sich selbst, schulden, unter Wilhelminismus-Verdacht gestellt werden. Bayern ist im Übrigen das Land - abgesehen von Berlin - , das aus meinem Etat die höchsten Zuwendungen bekommt, 36 Millionen Mark im Jahr.

Es mag Sie überraschen, das von einem Sozialdemokraten zu hören: Ich finde, dass es in Deutschland neben dem Bekenntnis zum Föderalismus auch einen aufgeklärten Begriff der Nation geben sollte. Selbst wenn er nicht mehr mit dem Begriff des Territorialstaats übereinstimmen muss. Nationenbildungen verdankten sich Freiheitsbewegungen - Deutschland machte eine unselige Ausnahme im 19. Jahrhundert. Nationale kulturelle Identifikationsprozesse sind außerdem unentbehrlich in einer Welt mit einer zunehmend globalisierten Wirtschaft, einer europäisierten Verwaltung und einer immer abstrakter werdenden politischen Herrschaft. Die Hauptstadt hat eine identitätsstiftende Legitimationsfunktion, die nicht chauvinistisch ausgeübt werden muss und darf, sondern - um es schlicht sagen - auf eine sehr kultivierte Weise. Auf den Podien der Kultur werden bürgerliche Freiheiten definiert, verteidigt und in ihren bisweilen fehlgeleiteten Manifestationen kritisiert. Und dass hier - zum Beispiel in der Musik - genau jener Lebenstrost zu haben ist, den wir mehr denn je benötigen, ist meine altmodische Überzeugung.

Wie wollen Sie den Leuten klar machen, dass im Lichte der neuen Konzepte die kürzlich eröffnete Gemäldegalerie eine Fehlplanung war?

Es war insofern keine Fehlplanung, als die Pläne dazu vor der jetzigen Neukonzeption gefasst wurden. Und in der Übergangszeit vor der Neuordnung der Museumsbestände haben wir mit der Gemäldegalerie eine gute Zwischenlösung. Am Ende wird sie die Moderne beherbergen: Es ist eines der schönsten Gebäude des neuen Berlin.

Es scheint, als wäre die Veränderung des Bewusstseins, die Sie fordern, fast noch schwieriger zu bewirken als die konkrete Finanzierung. Für die meisten Kulturliebhaber im Land findet Kultur in ihrem Stadttheater, ihrem Museum, ihrem kommunalen Kontext statt.

Zweifellos. Dabei wird es bleiben. Aber es kann doch nicht sein, dass sich Deutschland als Nation in Zukunft etwa nur noch über die Fußballnationalmannschaft, über den olympischen Tabellenspiegel und die gesicherte Altersvorsorge definiert. Es muss auch andere Projektionsflächen unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses geben. Wir können das, was wir mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz geerbt haben, auch in einem aufgeklärten, weltoffenen Geist benutzen - mit etwas mehr gelassener Heiterkeit, wenn möglich. Ein Teil des Masterplans ist der Bau eines Depots auf dem Gelände der Marx-Engels-Kaserne. Dort sollen Forscher aus aller Welt mit den Schätzen arbeiten können, die wir - aus den Museumskellern - in die Öffentlichkeit heben wollen. Wir wollen Fenster, Türen, Tore zur eigenen Kultur- und Sammelgeschichte Berlins, aber damit auch des ganzen Landes öffnen. Es ist ein geistiges, ein nationales und zugleich ein europäisches Projekt, nicht mehr und nicht weniger.

Sie haben die Hauptstadtkulturförderung erheblich aufgestockt. Wie wollen Sie verhindern, dass das vom Bund gegebene Geld in Berlin dazu benutzt wird, die bekannten Haushaltslöcher zu stopfen?

Ich rechne im Jahr 2000 derzeit mit einem Defizit von etwa 90 Millionen Mark im Berliner Kulturhaushalt. Der Bund hat 120 Millionen in diesem Jahr gegeben, im nächsten werden es 100 Millionen sein. Wir werden darauf bestehen, dass der Berliner Kulturetat nun nicht genau um die Summe gesenkt wird, die wir zusätzlich überweisen. Aber das Problem liegt ja woanders. Es fehlen schlichtweg an die 90 Millionen, und hier liegen gewaltige Aufgaben vor der neuen Kultursenatorin, Frau Thoben. Ich kann nur hoffen, dass sie anlässlich ihrer Berufung gut verhandelt hat. Es kann ja nicht sein, dass der Kulturetat der Stadt in eine große Krise gerät ausgerechnet in dem Moment, in dem die Regierung hierher zieht.

Kommen wir in diesem Zusammenhang zu Ihrem neuesten Vorschlag: Sie möchten die Berliner "Leuchttürme" - die vom Bund geförderten Kulturinstitutionen - in privatrechtliche Gesellschaften umwandeln. Der Bund soll dann in deren Aufsichtsräten mitbestimmen.

Ich habe einmal an einem Gespräch zwischen einem Opernintendanten und dem damaligen Berliner Kultursenator Radunski teilgenommen. Der Intendant erklärte beim Nachtisch en passant, er habe ein Defizit von fünf Millionen Mark. Das war im Mai 1999. An dieser Institution ist der Bund mit erheblichen Fördersummen beteiligt. Besonders irritierte mich bei dem Gespräch, dass auch der Senator bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal von dem Defizit erfuhr. Ich selbst habe jahrelang im Aufsichtsrat der Hamburger Staatsoper gesessen. Wir haben dort nicht über die Programme der Oper, sondern über die ordnungsgemäße Haushaltsführung gerechtet. Es ging um Modernisierungen, zum Beispiel die Einführung eines EDV-gestützten Kostenmanagements für einzelne Produktionen. Derlei Kontrollmechanismen gibt es in Deutschland mittlerweile an vielen Häusern. Dem Bund kommt bei den Berliner Leuchttürmen bisher ausschließlich die Funktion zu, Haushaltslöcher zu stopfen. Man möchte aber schon wissen, wie effizient das Fördergeld verwandt wird. Das bedeutet nicht, dass der Bund die Kontrolle übernimmt. Das kann er auch gar nicht auf Grund der Mehrheitsverhältnisse.

Ist das Ziel dieser Maßnahme die grundsätzliche Umsteuerung von der alten Form der Haushaltsführung, der Kameralistik, zur Selbstbewirtschaftung?

Auch dies. Die zwangsweise Abführung von Überschüssen in den Gesamthaushalt zum Beispiel nach dem kameralistischen Prinzip führt dazu, dass man sich gar nicht erst bemüht, welche zu erwirtschaften.

Warum ist diese Modernisierung, die ja andernorts schon stattgefunden hat, eigentlich an den Berliner Häusern vorbeigegangen?

Nicht überall, das BE ist eine GmbH. Das hat wohl mit der Berliner Insellage und Sondersituation zu tun, der Bund wurde hier quasi als Reservebank im Hintergrund gesehen. Es wird aber Zeit, dass hier wirtschaftliches Denken Einzug hält - zum Vorteil der Intendanten und ihrer Arbeit, wohlgemerkt. Sprechen Sie mit Zehetlein, Metzmacher, Ruzicka - die arbeiten alle schon unter diesen Bedingungen. Es geht nicht an, dass sich in Berlin riesige finanzielle Defizite wie Naturgewalten öffnen - das schlägt zuerst auf die künstlerische Qualität durch. Dem folgt der Überdruss der Steuerzahler und Kommunalpolitiker, denken Sie an das Schiller-Theater.

Reicht denn das Geld überhaupt, das derzeit den Häusern zur Verfügung steht?

Vergleichen Sie doch die hiesigen Etats mit denen von Häusern in Deutschland, die keine Defizite erwirtschaften. Dann sehen Sie: Am reinen Volumen kann es nicht liegen. Es war in Berlin üblich, dass nachgezahlt wurde, wenn ein Haus zum Beispiel einen zusätzlichen Star engagierte, obwohl das mit den haushaltsmäßig vorgesehenen Mitteln gar nicht zu machen war. Früher reichte ein Anruf beim Kultursenator und etwas öffentlicher Druck, damit das Loch gestopft wurde.

Haben Sie mit Ihrer neuen Kollegin, Frau Thoben, schon über Ihre Pläne gesprochen?

Ich habe mit Herrn Diepgen gesprochen, und ihm schienen meine Vorschläge einzuleuchten. Frau Thoben meint, wer was ändern will, müsse mehr zahlen. Das ist Berliner Logik...

Glauben Sie wirklich an die Zukunft aller drei Berliner Opern?

Ja, ich glaube daran - wenn die musikalisch-programmatische Architektur der Opernlandschaft dieser Stadt denn einmal als Einheit gesehen wird und die Häuser sich nicht so verhalten, als könne eines auch in Wattenscheid stehen, das andere in Potsdam, das dritte in Dresden. So gibt es parallel zwei Ring-Inszenierungen in der Stadt, und eines Tages wird es auch an allen Häusern gleichzeitig Figaros Hochzeit geben. Die Opern müssen sich wohl spezialisieren und gleichzeitig ihr Publikum halten. Das ist eine Gratwanderung. Als Reflex der alten Insellage war aber jeder Intendant offenkundig eine Insel. Das ist nicht mehr haltbar.

Die Leuchttürme werden gefördert, weil sie die Aufgabe einer "gesamtstaatlichen Repräsentation" mit erfüllen, wie es heißt. Was soll man sich unter diesem Begriff vorstellen?

Die Künste sind in einem demokratischen Staat gleichsam Akademien, in denen Grundfragen gesellschaftlicher Existenz thematisiert werden können. Gesamtstaatliche Repräsentation heißt also nicht staatsaffirmatives Theater in einem schlichten Sinn, nicht einfach Lobpreis des Bestehenden. Im Gegenteil - jedes Theater ist auch eine Art Notausgang aus der Langeweile des Normalen. Es gab im Übrigen hier zu Lande ein Staatstheater in einer Zeit, als dieses Theater sich um keinen Preis so hätte bezeichnen wollen. Dennoch war es auf eine interessante Weise systemaffirmativ und zugleich repräsentativ: Ich meine die Schaubühne unter Peter Stein. Was wurde dort affirmiert? Der kritische linke ästhetische Grundkonsens der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. Die Schaubühne war das Staatstheater der Siebzigerjahre, und wahrscheinlich das beste im Land. Dass es sich im Gestus der Resistance gerierte, gehörte zur Selbstverklärung der Linken. Aber es definierte den ästhetischen Mainstream sehr eindrucksvoll, mit großen Künstlern und unvergesslichen Aufführungen.

Kommen wir zu einem anderen Reformvorhaben der rot-grünen Regierung, das große Auswirkungen auf die Kulturfinanzierung haben wird: der Reform des Stiftungsrechts. In den gängigen Schemata würde man das Umsteuern von staatlicher Subvention auf stärkere Bürgerbeteiligung an der Kulturfinanzierung als "rechtes" Projekt bezeichnen."Links" war ja klassischerweise das Fordern von mehr "Staatsknete" - und entsprechend groß die Skepsis gegenüber dem Geld der Industrie und anderer Sponsoren. Es liegt schon eine gewisse Ironie darin, dass nun ausgerechnet eine linke Regierung hier etwas in Bewegung bringt.

Sie sehen ja an der 16-jährigen Tatenlosigkeit unserer Vorgänger in dieser Sache, die nicht einmal unter dem Druck der finanziellen Knappheit standen, dass diese alten Rechts-links-Schemata nichts mehr taugen. Man darf nicht übersehen, dass es das Bürgertum war, das uns gewählt hat. Das blühende Stiftungswesen, das wir einmal in Deutschland um die Jahrhundertwende hatten, war ein Freiraum, den sich die Bürger - darunter übrigens viele deutsche Juden - geschaffen hatten, um das Gemeinwesen gemäß ihren eigenen Werten und Vorstellungen mitzugestalten. Diese Kultur des Bürgersinnes ist durch die Inflation zerstört und dann im "Dritten Reich" fast endgültig vernichtet worden. Totalitäre Systeme brauchen keine Stiftungen. Für uns ist die Reform des Stiftungsrechts ein gesellschaftspolitischer Akt, der diese freiheitliche Tradition wiederbeleben soll - ganz verschwunden ist sie ja nicht. Es gibt heute 8000 Stiftungen; um 1900 waren es 100.000. Man schätzt den Anteil der Stiftungen an der Kulturfinanzierung auf höchstens fünf Prozent. Welche Zuwächse erwarten Sie?

Ich will keine Prognosen wagen. Es geht um einen Bewusstseinswandel. Es gibt viel zu wenige bekannte Stifter. Das Verhältnis von Staat und Bürger ist bei uns auch im Kulturbereich noch viel zu sehr das von Lieferant und Kunde. Dass man sich als Stifter den Ruhm erwirbt, die "Fama", ein guter Bürger zu sein, das ist ein gutes republikanisches Konzept, kein rechtes oder linkes. Diese Reform, die ja auch in unserem eigenen Lager umstritten war, steht in der Bilanz meines ersten Jahres auf der Habenseite. Es war übrigens Gerhard Schröder, der am Ende in der Auseinandersetzung mit den Kräften des Fiskus das Ruder herumgerissen hat.

Wie geht es mit dem Denkmal für die ermordeten Juden voran?

Die vom Bundestag beschlossene Stiftung hat sich in ihrer ersten Kuratoriumssitzung konstituiert. Ich halte es für sehr wichtig, dass Vertreter der jüdischen Gemeinden dabei sind. Denn das Argument, es handle sich hier um ein Denkmal, das das "Volk der Täter" den Opfern setze, war immer heikel. Zu der Gesellschaft, die hier ein Denkmal setzen will - der Begriff des "Volks" ist für mich in diesem Zusammenhang nicht mehr tragbar - , gehören auch die Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland. Im Begriff des "Volks der Täter" liegt übrigens etwas Fatales. Wenn es nämlich dieses Volk gibt, dann gibt es ja offenkundig auch ein "Volk der Opfer". Und ich glaube nicht, dass sie einem in Deutschland lebenden Juden zumuten können, durch die Definition des Initiativkreises um Lea Rosh zu diesem "Volk der Opfer" gerechnet zu werden: Es wäre eine neue Gettoisierung - einmal Opfer, immer Opfer.

Kann man am 27. Januar einen ersten Spatenstich tun, obwohl man nicht weiß, wie das Denkmal endgültig aussehen wird?

Ja, das kann man. Das Wichtigste ist jetzt, dass dieses Denkmal gebaut wird. Der "Ort der Information" ist eine wesentliche Ergänzung. Über die Gestaltung werden wir in der nächsten Kuratoriumssitzung reden. Ich habe einen Lernprozess durchgemacht und erwarte nun auch von allen anderen Beteiligten im Kuratorium die gleiche Lernbereitschaft.