Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 24.01.2000
Anrede: Sehr geehrter Herr Dr. Breuer, sehr geehrter Herr Dr. Seifert, sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/36/7336/multi.htm
wir befinden uns in der ersten Dekade eines neuen Jahrhunderts. Wenn wir Deutsche unsere Kraft zusammennehmen und uns auf das besinnen, was uns stark gemacht hat, dann haben wir die großartige Chance, diese erste Dekade gleichermaßen zu einer Dekade der wirtschaftlichen Vernunft und des sozialen Anstands zu machen. Das ist das Ziel, für das wir arbeiten. Das ist das Ziel, an dem zu arbeiten und mitzuarbeiten ich auch Sie gerade hier auffordern möchte. Ich sage das in einer bestimmten Situation. Ich sage das, was ich jetzt mitteilen möchte, insbesondere Ihren internationalen Gästen, denn kein Ort ist so international wie dieser. In Deutschland wird in den letzten Tagen und Wochen viel über eine angebliche Krise der Demokratie und des Staates geredet. Nichts davon ist richtig. Das, was wir gegenwärtig an öffentlicher Diskussion erleben, ist alles andere als eine Krise der Demokratie und des Staates in Deutschland. Es ist die Krise einer Partei, eine Krise, von der ich hoffe, dass diese Partei die Kraft entwickeln können wird, sie alsbald zu überwinden - der Lebendigkeit der Demokratie in Deutschland wegen und weil wir alle zusammen wissen, dass jede Regierung eine intakte und möglichst starke Opposition braucht. Ich möchte sehr deutlich nach innen und vor allen Dingen nach außen sagen: Die demokratischen Institutionen Deutschlands funktionieren. Die Justiz funktioniert. Die Staatsanwaltschaft funktioniert. Das Parlament funktioniert. Der Bundesrat funktioniert. Es kann keine Rede sein von dem, was ich gelegentlich in der ausländischen Presse lese, nämlich dass 50 Jahre gelebter Demokratie, erfolgreich gelebter Demokratie, in Zweifel zu ziehen wären. Dies muss vor allen Dingen von denen, die international tätig sind, ins Ausland vermittelt werden, damit dort nicht ein Imageschaden für Deutschland entsteht, den wir alle nicht wollen können. Noch eines kommt hinzu: Die Zeichen in Deutschland und damit in Europa stehen, was die Perspektiven der Wirtschaft angeht, wirklich nicht schlecht. Wenn es richtig ist, dass die Hälfte erfolgreicher Wirtschaftspolitik auch mit Psychologie zu tun hat, dann sollten wir diesen Aspekt deutscher Wirklichkeit im Inland und im Ausland deutlicher worden lassen, damit das, was wir an Erfolgsbedingungen geschaffen haben, nicht von einer Diskussion erschlagen wird, die zwar notwendig ist, die aber nicht alles, was in diesem Land passiert, beherrschen darf. Vor diesem Hintergrund ist der Satz richtig, dass Sie und alle Anleger zum Jahreswechsel viel Grund zum Feiern und zur Zufriedenheit hatten - und nicht erst zum Jahreswechsel. Die Börsenkurse sind in den vergangenen Jahren von Rekord zu Rekord geeilt. Die Umsätze auf den Aktienmärkten sind in einem nie da gewesenen Tempo gestiegen. Allein seit dem Regierungswechsel im September 1998 hat der DAX bis heute um mehr als 50 Prozent zugelegt. Wer von Ihnen hätte das unmittelbar nach der Wahl 1998 gedacht? Ursache dafür ist natürlich nicht nur - aber eben auch - die Regierungspolitik. Es gibt andere Gründe, die in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gehören. Wichtig ist, dass Kleinsparer die Aktie als Anlageform entdeckt und damit ein Stück dessen nachgeholt haben, was in anderen Ländern, die mit uns wirtschaftlich vergleichbar sind, längst Selbstverständlichkeit gewesen ist - eine Tendenz, von der ich glaube, dass man sie fördern sollte. Ich habe mich - im Unterschied zu dem einen oder anderen - immer am Steigen des DAX erfreut. Ich habe das auch immer gesagt. Ich hätte nur gerne, dass viel mehr Menschen in Deutschland als bisher an diesem Steigen und damit an der Zunahme der Wirtschaftskraft ihren Anteil haben. Das möchte ich gerne erreichen - und Sie vielleicht auch. Der unternehmerische Mittelstand - das gilt es trotz aller Beschwerden, die ich vernommen habe und die ich für genau so falsch halte wie Sie, verehrter Herr Dr. Breuer, festzuhalten - akzeptiert die Aktie zunehmend als Finanzierungsform. Das ist eine Tendenz, die wir fördern müssen, wenn wir europafähig bleiben wollen und wenn wir den globalen Herausforderungen wirklich begegnen wollen. Ich weiß, dass viele gelegentlich nostalgisch darüber nachdenken, dass wir eine gesunde Struktur haben, die insbesondere auf der Bedeutung der Personengesellschaften beruht. Aber es macht gar nichts, wenn Kontinuität in diesen Unternehmen auch dadurch gewährleistet wird, dass man bei Betriebsübergängen auch über andere Formen der Gesellschaft und deren Finanzierung nachdenkt. Ich finde, dass ich selbstbewusst sagen darf, dass die Bundesregierung ihren Anteil zur guten Börsenstimmung beigetragen hat. Zuletzt haben wir mit der Steuerreform die Fantasie der Anleger - und nicht nur deren Fantasie, sondern auch deren begründete Einschätzung - auf ein gutes Jahr 2000 mehr als angeregt. Bei diesen Voraussetzungen ist die Prognose nicht zu gewagt, dass die Zukunftsaussichten für den Finanzplatz Deutschland gut sind. Auf keinem anderen Markt ist die Globalisierung so unmittelbar spürbar und so weit fortgeschritten wie auf den Finanzmärkten. Gegenwärtig finden auf den internationalen Geld- und Kapitalmärkten Umwälzungen statt - niemand weiß das besser als Sie - , die sich viele Experten vor einigen Jahren noch nicht vorstellen konnten. Als eine Hauptantriebskraft dabei haben sich - wie in anderen Wirtschaftsbereichen auch - die neuen Informationstechnologien erwiesen. Man muss kein Prophet sein, um sich auszumalen, was das zum Beispiel für die Börsen der Zukunft bedeutet. Sie werden nicht mehr der geographisch bestimmbare Ort sein, an dem Menschen zusammenkommen, um zu handeln. Börsen der Zukunft werden mehr und mehr virtuelle Netzwerke sein, in denen Menschen an den unterschiedlichsten Orten Vermögenswerte über verbundene Computerhandelssysteme kaufen und verkaufen. Das Internet wird den Klein- und Privatanlegern Zugang zu technischen Handelsmöglichkeiten verschaffen, die zuvor nur die gnz großen, institutionellen Anleger hatten. Das ist einer der Gründe, warum ich denke, dass wir gut daran tun, uns auch politisch und hinsichtlich Ausbildung, Bildung und Studieninteressen diesen Bereichen in besonderer Weise zu widmen. Der rasche Wandel lässt sich auch an einer Erfolgsgeschichte der Deutschen Börse AG, dem Neuen Markt ablesen. Wer hätte es vor mehr als zwei Jahren für möglich gehalten, dass in so kurzer Zeit rund zweihundert Unternehmen den Börsengang wagen würden? Dies zeigt die wachsende Bedeutung der Börse für die jungen zukunftsorientierten Unternehmen. Die heutige Börsenlandschaft ist geprägt von Börsenkooperationen und Börsenallianzen, von gemeinsamen Handelsplattformen und sich rasch verändernden Markt- und Wettbewerbspositionen. Die Deutsche Börse AG hat jüngst beschlossen, sich als Euroboard europäisch aufzustellen und ihre Handelsplattform im Wettbewerb mit anderen zu testen. Ich denke, sie ist gut aufgestellt. Die neuen Konturen des europäischen Aktienmarkts stehen zwar noch nicht fest, aber eines scheint mir sicher zu sein: Es entsteht eine neue technische und institutionelle Infrastruktur, die allen am Markt Beteiligten nutzen wird. Wir wollen, dass der Finanzplatz Deutschland von den neuen Möglichkeiten möglichst weitgehend profitiert. Deshalb werden wir mit dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz das 100 Jahre alte Börsenrecht von Grund auf modernisieren. Unter anderem werden wir den Anlegerschutz unter den veränderten Bedingungen europäisierter Kapitalmärkte sicherstellen. Darüber hinaus werden wir einen modernen Rechtsrahmen für Termingeschäfte schaffen, mit dem bestehende Unsicherheiten beseitigt werden. Die Bundesregierung wird außerdem noch in diesem Jahr das geplante Übernahmegesetz vorlegen. Damit ich richtig verstanden werde: Mit diesem Gesetz wollen wir Übernahmen nicht behindern, sondern wir wollen die rechtliche Stellung von Minderheitsaktionären von Übernahmekandidaten stärken und generell für eine höhere Transparenz sorgen. Dies wird den Finanzplatz Deutschland im internationalen Wettbewerb um Kapital stärken und nicht schwächen. Die gegenwärtig grassierende Fusionswelle, mit der die deutsche und europäische Unternehmenslandschaft verändert wird, betrachte ich nicht von vornherein als - wie es gelegentlich formuliert wird - "Globalisierungsübel", das in jedem Fall bekämpft werden muss. Aber ich sehe eine wachsende Verantwortung der institutionellen Anleger und der Fondsmanager. Das Ziel von Fusionen darf nicht in erster Linie darin bestehen, kurzfristig die Aktienkurse von fusionierenden Unternehmen in die Höhe zu treiben und damit als alleiniges Ziel die Rendite der Anleger zu verbessern. Nach meiner Auffassung müssen im Vordergrund die dauerhaften Wachstumsperspektiven der beteiligten Unternehmen stehen. Lassen Sie mich das auch hier sehr deutlich sagen: Dazu gehören für mich und für uns auch die Arbeitsplätze. Ich sehe noch in einem weiteren Bereich große Aufgaben auf den Finanzplatz Deutschland zukommen. Ich meine den Bereich der Altersvorsorge. Jedermann weiß, dass der wachsende Anteil älterer Menschen in der deutschen Gesellschaft insbesondere die Rentenversicherungssysteme vor große Herausforderungen stellen wird. Übrigens, Herr Breuer: Einer der Punkte - da stimme ich Ihnen zu - , wo es notwendig ist, das Modell Deutschland, die Konsensgesellschaft, angesichts der sich dramatisch verändernden Rahmenbedingungen nicht zu konservieren, sondern anzupassen, wenn man es erhalten will, wird dieser Bereich sein, vielleicht sogar der wichtigste, den es zu lösen gilt. Deshalb habe ich die Initiative zu Gesprächen auch mit der Opposition ergriffen, um bei diesem wichtigen Thema zu einem parteiübergreifenden Konsens zu kommen. Alle Bemühungen müssen ein zentrales Ziel verfolgen: die langfristige Stabilisierung der Beitragslasten auf der einen Seite und der Alterseinkünfte auf der anderen Seite. Um es anders auszudrücken: Wir müssen es hinbekommen, dass die Alterssicherung für die Jungen und Aktiven und auch für die Wirtschaft bezahlbar und für die Alten sicher bleibt. Das ist eine der zentralen Aufgaben, die wir leisten müssen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen Vertrauen in die verlässliche Finanzierung ihrer gesetzlichen Rente haben. Künftig wollen wir der individuellen und der - das ist wichtig - betrieblichen Altersvorsorge einen größeren Stellenwert einräumen. Wir glauben, dass Beteiligungsmodelle der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dabei einen ganz wichtigen Stellenwert einnehmen können. Die jetzige Generation der Beitragszahler wird eine zusätzliche kapitalgedeckte Eigenvorsorge aufbauen müssen. Ob wir dazu schon jetzt, das heißt in den nächsen Jahren, den gesetzlichen Zwang brauchen, wird - auch bei uns - unterschiedlich beurteilt. Wir würden uns freuen, wenn das Prinzip der Freiwilligkeit, das wir einführen werden, erfolgreich Platz greifen würde. Klar ist aber auch: Ein Ausbau kapitalgedeckter Altersvorsorge bietet auch die Chance, die Leistungsfähigkeit des Kapitalmarktes weiter zu steigern. Denn ein wachsendes Kapitalangebot bedeutet sinkende Kosten für Eigenkapital, zusätzliches Risikokapital für junge Unternehmen und - nicht ganz unwichtig - tendenziell geringere Zinsen. Wenn wir diesen Weg gehen, wird die Solidargemeinschaft der Rentenversicherung auch in Zukunft in der Lage sein, die Grundanforderungen an ein sicheres und ausreichendes Einkommen im Alter erfüllen zu können. Diejenigen, die bereits heute über bessere materielle Voraussetzungen in ihrem Erwerbsleben verfügen als je eine Generation zuvor, werden mehr Eigenverantwortung und Eigenvorsorge übernehmen müssen. Sie können das, und es ist zumutbar. Die Politik wird ihnen dabei helfen, z. B. durch die Stabilisierung und Senkung der Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung im Rahmen dessen, was wir auf den Weg gebracht haben. Manche kritischen Beobachter sehen die Entwicklungen auf den Finanzmärkten mit wachsender Sorge. Sie befürchten einen zunehmenden Gestaltungsverlust nationaler Politik unter dem Diktat von Globalisierung und unbeherrschbaren Kapitalbewegungen, die ganze Volkswirtschaften in Krisen oder gar in den Abgrund stürzen könnten. Diese Sorgen nehme nicht nur ich ernst. Viele von Ihnen haben sie ebenfalls formuliert, und das ist gut so. Ich teile jedoch nicht den häufig dabei mitschwingenden Pessimismus. Politik muss nicht Erfüllungsgehilfe anonymer Globalisierungskräfte sein; sie darf es auch nicht werden. Politik, auch nationale Politik, behält in Zukunft ihre Gestaltungsaufgabe, allerdings - das gilt es einzuräumen - unter völlig veränderten Bedingungen. Es ist richtig, wenn darauf hingewiesen wird, dass die Europäische Währungsunion ein Musterbeispiel dafür ist, wie in Zeiten der Globalisierung Gestaltungskraft bewiesen werden kann. Der Erfolg widerlegt den Irrtum derjenigen, die in der globalen Integration freier Märkte die Wurzel zunehmender politischer Machtlosigkeit erblicken. Generell gilt sicherlich: Das Wahrnehmen politischer Gestaltungskraft ist im Zeitalter der Globalisierung komplizierter geworden. Politik ist aber auch heute mehr als bloßes Krisenmanagement. Die gewachsene internationale Finanzmarktverflechtung hat neben allen unbestreitbaren Vorteilen auch eine Kehrseite: Turbulenzen an den Finanzmärkten strahlen sehr viel schneller und sehr viel nachhaltiger auf andere Märkte aus. Dies ist eine der zentralen Lehren aus der Asienkrise. Politik - wenn sie Gestaltungskraft beweisen will - muss hierauf reagieren. Sie muss dies immer stärker im internationalen Rahmen leisten. Die bisherigen Reformmaßnahmen, die wir gemeinsam mit unseren Partnern auf dem Wirtschaftsgipfel in Köln angestoßen haben, folgen der gekennzeichneten Linie. Es gilt vor allem: Die Transparenz an den internationalen Finanzmärkten weiter zu erhöhen, auf eine engere Kooperation der Aufsichtsbehörden hinzuwirken, um Krisen möglichst schnell erkennen und dann möglichst gemeinsam darauf reagieren zu können, eine befriedigende Lösung für die Einbindung des privaten Sektors bei der Krisenbewältigung zu finden. Hier sind wir auch auf die Zusammenarbeit mit denjenigen angewiesen, die in diesem Sektor arbeiten. Die Sicherung langfristig stabiler Finanzmärkte bleibt ein herausragendes Thema, auch wenn krisenhafte Ereignisse - wie gegenwärtig - sie ein wenig aus dem Blickpunkt der öffentlichen Meinung verschwinden lassen. Es ist aber nicht nur die internationale Kooperation gefordert."Good Governance" bedeutet in diesem Zusammenhang zuallererst, durch nationale Politik die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Finanzmärkte ihre Aufgabe als "Schmieröl der Realwirtschaft" reibungslos erfüllen können. Notwendig ist ein in sich schlüssiger und stimmiger wirtschaftspolitischer Kurs, der sowohl die makroökonomischen Entwicklungen als auch die mikroökonomischen Strukturbedingungen im Auge behält. Kohärenz und Konsistenz werden wir nur erreichen, wenn wir in unseren Maßnahmen nicht auf die ideologisch ausweglose Scheindebatte zwischen angebotsorientierter und nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik hereinfallen. Dass wir dies in Deutschland nicht tun und nicht tun werden, zeigen die von der Bundesregierung auf den Weg gebrachten Reformen. Wir setzen auf einen Dreiklang, d. h. auf drei Elemente: Die Politik der Bundesregierung setzt zunächst darauf, den Strukturwandel für die Unternehmen zu erleichtern und auf diese Weise gute Voraussetzungen für mehr Wachstum und als Folge dessen für mehr Beschäftigung zu schaffen. Wir setzen auf eine Balance von Strukturreformen auf der Angebotsseite und einer Stärkung der Kaufkraft auf der Nachfrageseite. Dies tun wir mit dem "Zukunftsprogramm 2000". Es umfasst: die Haushaltskonsolidierung, die Neuregelung des Familienleistungsausgleichs, die Unternehmensteuerreform und die Fortsetzung der ökologischen Steuerreform. Die verkürzte Darstellung des Zukunftsprogramms als Sparprogramm in der öffentlichen Diskussion wird der Zielrichtung dieses Reformpakets nicht gerecht. Mit unserem Zukunftsprogramm gestalten wir die Grundlagen für die Zukunft unserer Kinder, denn für uns ist Sparen kein Selbstzweck. Sparen ist für uns die Voraussetzung dafür, dass der Staat handlungsfähig bleibt, dass er sozialen Schutz sichern kann, dass er helfen kann, Beschäftigung zu organisieren, und dass er etwas für Bildung und Innovationen tun kann. Mit den Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung haben wir einen ersten wichtigen Schritt zur Sicherung der Staatsfinanzen getan. Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen, weil wir fest daran glauben, dass wir diesen Weg weitergehen müssen, und weil wir zu wissen glauben, dass es zwischen Haushaltskonsolidierung einerseits und den objektiven Möglichkeiten, eine wirtschaftlich vernünftige Steuerreform zu machen andererseits, einen engen, nicht auflösbaren Zusammenhang gibt. Mit einem stetig ansteigenden Einsparvolumen - angefangen bei 30 Milliarden D-Mark im Jahr 2000 - werden wir den Staat aus der Schuldenfalle führen. In den folgenden vier Jahren können wir mit unserem Zukunftsprogramm insgesamt 150 Milliarden D-Mark einsparen. Das wird eine gewaltige Aufgabe sein. Jeder, der etwas anderes verspricht, der etwa auf dem Sektor der Unternehmensteuer die Entlastungen verdoppeln will, muss angeben, wie er das finanzieren will. Bei Licht betrachtet und vor dem Hintergrund der realen Situation in unserem Land wird er das niemals durch Einsparungen alleine schaffen können, sondern wird dieses Versprechen nur auf Pump finanzieren können. Bezogen darauf sage ich: Bei der Verschuldung ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Wir alle - da kann ich niemanden ausnehmen - haben, was das angeht, eher zu viel als zu wenig gesündigt. Teilweise aus objektiven Gründen, Stichwort: deutsche Einheit, teilweise, weil wir nicht sorgsam genug waren, und zum Dritten, weil wir nicht unter den Globalisierungszwängen standen. Unser Zukunftsprogramm ist darüber hinaus sozial gerecht und setzt gezielte Wachstumsimpulse, die den konjunkturellen Aufschwung, der nicht nur in Sicht ist, sondern der sich mehr und mehr zu realisieren beginnt, unterstützen. Mit sinkenden Haushaltsdefiziten - wer genau hinschaut, hat gemerkt, dass sie bereits im letzten Jahr deutlich unter den Erwartungshorizont gesunken sind - entlasten wir den Kapitalmarkt und tragen auf diese Weise dauerhaft zu niedrigen Zinsen bei, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern - angesichts der Bedeutung der deutschen Volkswirtschaft - auch in der gesamten Euro-Zone. Wir haben das Stabilitätsziel in Europa mit vereinbart, und wir werden es einhalten. Würde ausgerechnet Deutschland dieses Ziel verfehlen und etwa eine Ausnahme beantragen - wie es weiland Italien tun musste - , wäre dies sicherlich auch nach Ihrer Auffasssung ein verheerendes Signal für die Kapitalmärkte, ein Signal, das wir nicht geben wollen. Trotz dieser Konsolidierungsanstrengungen senken wir die Steuerbelastung für Unternehmen. Mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999 bis 2002 haben wir erste Signale gegeben: Der Einkommensteuerhöchstsatz für gewerbliche Einkünfte sinkt in zwei Schritten auf 43 Prozent. Der Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne beträgt seit dem 1. Januar 1999 nur noch 40 Prozent. Mit der Steuerreform 2000 - die im Übrigen vorgezogen wurde - folgt jetzt der zweite große Reformschritt. Für Kapitalgesellschaften und Anteilseigner soll es ab 1. Januar 2001 einen einheitlichen Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent geben, übrigens - das sage ich mit Stolz - 20 Prozent-Punkte niedriger als bei Antritt meiner Regierung! Personengesellschaften werden genau so stark entlastet wie Kapitalgesellschaften. Sie erhalten ein Wahlrecht, um sich steuerlich wie Kapitalgesellschaften behandeln zu lassen. Wer dies als Personengesellschaft nicht will, der kann - wie bisher - die Gewerbesteuer als Betriebsausgabe abziehen und künftig zusätzlich einen Teil der Gewerbesteuer direkt mit der Einkommensteuerschuld verrechnen. Außerdem profitieren die Personengesellschaften von der geplanten weiteren Senkung des Eingangssteuersatzes bei der Einkommensteuer auf 15 Prozent und des Spitzensteuersatzes auf 45 Prozent sowie von der Erhöhung des Grundfreibetrages auf 15000 D-Mark. Ich möchte einmal anhand eines Beispiels deutlich machen, was das gerade für den gelegentlich zu Unrecht in Anspruch genommenen Mittelstand bedeutet: Nur diejenigen, die mehr als 48000 DM im Jahr Gewinn haben, müssen überhaupt Gewerbeertragsteuer zahlen. Die Gewerbekapitalsteuer ist, wie Sie wissen, abgeschafft. Das sind nach den Berechnungen, die wir haben, aber mit Abstand die wenigsten jener Handwerksmeister, die von ihren Verbandsvertretern immer gegen unsere Steuerreformvorstellungen in Front gebracht werden. Diese Handwerksmeister, um die es mir in der Tat geht, haben überhaupt nichts von der Absenkung des Spitzensteuersatzes unter die Sätze, die wir ins Auge gefasst haben, sondern sie haben ausschließlich etwas davon, wenn man unterhalb dessen etwas tut. Das werden wir tun. Insofern ist das Argument von Verbandsvertretern, wir täten für diese aktiv Tätigen zu wenig, schlicht falsch. Deutschland wird damit im internationalen Vergleich auf eine attraktive Position im Mittelfeld der Unternehmensteuersätze vorrücken. Die vorgesehene Steuerfreiheit von Gewinnen aus dem Verkauf von Beteiligungen ist ein wichtiger Impuls für die notwendige Modernisierung und Restrukturierung der Wirtschaft. Der Verkauf von Unternehmensbeteiligungen soll und wird erheblich erleichtert werden. Gestatten Sie mir folgende Bemerkung, weil der eine oder andere Medienvertreter hier ist: Dies ist kein Geschenk an Herrn Breuer oder an Herrn Schulte-Noelle, sondern das ist ganz bewusst gemacht worden, weil wir davon ausgehen, dass bei dieser Maßnahme jene Beteiligungen, die bei den Kapitalsammelstellen vorhanden sind, auf den Markt gebracht werden. Damit wird natürlich auch Geldvermögen realisiert - keine Frage - , aber es passiert noch etwas anderes - ich will das sehr deutlich sagen, und zwar gerade an diejenigen, die das kritisieren: Die Chance besteht darin, dass diese Beteiligungen im Unterschied zu früher auf den Markt gebracht werden und sich in deren Umfeld neue unternehmerische Aktivitäten entwickeln, die wir brauchen, um neue Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Mir liegt daran, dass klar wird, dass diese von meinem Finanzminister ausgedachten steuerlichen Aktivitäten ein Stück aktive Arbeitsmarktpolitik darstellen und nicht etwa Steuergeschenke. Das ist wichtig, um das, was wir auf diesem Sektor vorhaben, zu legitimieren und für eine breite Mehrheit derer, die sich nicht jeden Tag mit diesen Fragen beschäftigen können, akzeptabel zu machen. Übrigens: Die Anleger haben auf diese Nachrichten - wie Sie am besten wissen - ganz positiv reagiert. Das ist eher untertrieben als übertrieben. Sie sehen hier jemanden, der trotz aller Schwierigkeiten, die wir aktuell zu diskutieren haben, bezogen auf die nächsten Jahre optimistisch ist. Wir sind in Deutschland auf dem richtigen Weg. Wir haben die Chance, uns in den europäischen Geleitzug einzureihen und vielleicht sogar - das ist jedenfalls unser Ziel - wieder ein Stück weit die Funktion der Lokomotive in der Konjunkturentwicklung Europas mit zu übernehmen. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zeigt, dass das nicht nur Hoffnung, sondern tendenziell mehr und mehr auch Realität ist. Zu Beginn des Jahres 2000 stehen alle Konjunktursignale auf Grün - eigentlich sollte ich sagen "auf Rot-Grün", aber das passt nicht ganz. Die weltwirtschaftlichen Turbulenzen sind überwunden. Die Exporte gewinnen neue Dynamik, und - was noch wichtiger ist - die Inlandsnachfrage erholt sich nach jahrelanger Schwäche. Das was das wirkliche Sorgenkind der Wirtschaftspolitik. Unternehmensinvestitionen, aber auch privater Verbrauch nehmen zu. Die Stimmung in der Wirtschaft - so weisen alle sozial-wissenschaftlichen Untersuchungen aus - verbessert sich von Monat zu Monat. Das ist gut so. Ich möchte nicht, dass diese enorm positive Stimmung zur Jahreswende durch die Aufgeregtheiten einer verständlichen Debatte tangiert wird. Jedenfalls darf diese Debatte die Stimmung in der Wirtschaft nicht verdecken - wie ärgerlich der eine oder andere die Debatte auch finden mag. Wir haben in diesem Jahr alle Chancen, ein reales Wachstum in der Größenordnung von 2,5 Prozent zu erreichen. Das jedenfalls wird in dem am Mittwoch zu beschließenden Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung stehen. Die Deutsche Bank Research hat sogar 3 Prozent prognostiziert. Wir sind sehr viel bescheidener als diejenigen, die bei Herrn Breuer in die Zukunft schauen, aber wenn es 3 Prozent werden, dann soll uns das auch recht sein. Mit diesen Wachstumsraten ist unser wichtigstes Ziel erreichbar, nämlich der schrittweise Abbau der Massenarbeitslosigkeit. Wir werden im Jahreswirtschaftsbericht davon ausgehen können - das ist die Prognose - , dass wir in diesem Jahr einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um 200000 Personen haben werden. Das ist ein guter Anfang, aber er reicht mir nicht. Das ist der Grund, warum ich - neben der Konsolidierung und der Steuerreform - auf das dritte Element in diesem Dreiklang hinweisen wollte. Es ist und bleibt meiner Auffassung nach Aufgabe der Tarifparteien, das, was wir mit der Konsolidierungspolitik und der Steuerpolitik auf den Weg gebracht haben, in ihren Bereichen, in denen sie nach unserer Verfassung autonom agieren, nicht zu konterkarieren, sonder zu unterstützen. Das ist die Aufgabe, die man diesen Verantwortlichen aus gesamtwirtschaftlicher und gesamtpolitischer Sicht zuweisen muss. Das ist übrigens der Grund, warum man sich im Bündnis für Arbeit so entschieden angestrengt hat und warum ich das so sehr für notwendig halte. Wir hatten am Anfang des Jahres die ganz konkrete Gefahr, dass in wichtigen Tarifbereichen in diesem Jahr ausschließlich über Lohn und Gehalt verhandelt werden würde, weil die einschlägigen Tarifverträge ausgelaufen waren, und dass dann im nächsten Jahr ausschließlich über Arbeitszeiten verhandelt worden wäre, weil die Tarifverträge in dieser Frage zum Ende dieses Jahres auslaufen werden. Meiner Auffassung nach ist es gesamtwirtschaftlich hochgradig vernünftig, dies nicht aufzuspalten, sondern daraus eine gemeinsame Verhandlungsstrategie zu entwicklen. Was immer man zum Bündnis für Arbeit sagen mag - es gibt viele, die sich mokieren - , eines haben wir jedenfalls deutlich werden lassen: Wir wollen diese Themen zusammenhalten. Wir wollen nicht, dass in diesem Jahr über Löhne und Gehälter geredet, verhandelt und entscheiden wird - mit allen Folgen, die das haben kann - und dass wir dann im nächsten Jahr isoliert über Forderungen zur Wochenarbeitszeit verhandeln - mit allen Folgen, die das für die Konjunktur und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit haben würde. Dass das verhindert worden ist, ist bereits ein großer Erfolg des Bündnisses für Arbeit und lohnt, dass diese Veranstaltung forgesetzt wird. Im Übrigen: Ich habe die herzliche Bitte an all diejenigen, die Deutschland gelegentlich mit den Niederlanden vergleichen einmal zu realisieren, dass deren Bündnis für Arbeit - das Polder-Modell - 1982 begonnen wurde und dass man dort eine lange Erfahrung in der Gestaltung solcher gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen hat. Von uns wird das, was dort in zehn und mehr Jahren entwickelt wurde, in einem Jahr erwartet. Das ist selbst für meine Verhältnisse ein bisschen viel. Es wird immer wieder einmal Rückschritte geben und immer wieder einmal Dinge, die einem nicht so wünschenswert erscheinen. Aber man muss damit weitermachen. Ich möchte auch noch auf eines hinweisen: Vor Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass es ein gemeinsames Papier - sicherlich immer noch interpretationsbedürftig und interpretationsfähig - zwischen der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände und dem DGB geben würde, in dem darüber nachgedacht wird, ob es nicht sinnvoll ist, in solchen gesamtgesellschaftlichen Debatten miteinander über die Frage zu reden, was in Tarifauseinandersetzungen als gesamtgesellschaftlicher Verteilungsspielraum zur Verfügung steht und was man vom gesamtgesellschaftlichen Verteilungsspielraum in Lohn und Gehalt, in vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben und in die Alterssicherung investieren kann. Es ist doch hochgradig vernünftig, wenn man Vorklärungen machen und Rahmen abstecken kann, über die die Tarifpartner dann in Autonomie und eigener Verantwortung, aber in realisierter Kenntnis der Rahmen endgültig entscheiden. Ich glaube, dass dieses Instrument bei der Anpassung dessen, was man "Modell Deutschland" oder "Rheinischer Kapitalismus" genannt hat, an radikal veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen nützlich ist bzw. sein kann. Vor diesem Hintergrund ist das, was Herr Dr. Breuer hat erkennen lassen, nämlich dass das alte Konsensmodell verbesserungsfähig und verbesserungsbedürftig ist, absolut richtig. Aber das, was dieses Land in 50 Jahren stark gemacht hat, nämlich die Bereitschaft, sich unter den Rahmenbedingungen auf Vernünftiges zu einigen, sollte nicht preisgegeben werden. Ich wünsche Ihnen, meine Damen und Herren, für Sie ganz persönlich ein wirklich erfolgreiches Jahr 2000, für den einen oder anderen politisch natürlich nur, soweit es meinen Interessen nicht entgegensteht. Darüber hinaus möchte ich zu dem zurückkehren, was ich eingangs gesagt habe: Wenn sich dieses Land auf seine wirklich gewaltige Kraft, auf die Intelligenz, die Kreativität und die Bereitschaft zum Arbeitseinsatz seiner Menschen besinnt, dann wird dies ein Jahrzehnt der wirtschaftlichen Vernunft und des sozialen Anstands werden. Wünschen sollten wir uns das alle - im Interesse unserer gesamten Gesellschaft, im Interesse unseres Landes. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.