Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 26.01.2000

Anrede: lieber Göran Persson, verehrte Präsidenten und Ministerpräsidenten, verehrter Elie Wiesel, verehrter Herr Professor Bauer, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/23/7423/multi.htm


Erinnerung, Verantwortung und Zukunft "Majestäten, Königliche Hoheit, am 27. Januar 1945, also fast auf den Tag genau vor 55 Jahren, befreiten Soldaten der Roten Armee die Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau. Das heißt: Befreien konnten sie dort nur noch etwas mehr als 7000, größtenteils schwer kranke KZ-Opfer. 60000 der Lagerinsassen hatte die SS in den Tagen zuvor auf die berüchtigten" Todesmärsche "Richtung Westen gezwungen. Mehr als eine Million Menschen waren allein in Auschwitz-Birkenau zwischen März 1942 und November 1944 von den Nazis ermordet worden. Der Name" Auschwitz "steht heute als schreckliche Metapher für nationalsozialistischen Rassenwahn, für den geplanten, kaltblütigen Mord an Millionen von Menschen: Juden zuallermeist, aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, Kriegsgefangene - an Menschen, deren Leben eine verbrecherische Ideologie sich angemaßt hatte, als" lebensunwert "zu vernichten." Auschwitz "war keine Naturkatastrophe. Menschliche Wesen, meist Deutsche, hatten diesen Ort Schritt für Schritt in eine Mordstätte verwandelt, in einen Ort des Zivilisationsbruchs schlechthin, einen Ort des namenlosen, andauernden Entsetzens. Deshalb haben wir uns heute nicht nur im Gedenken an die Opfer versammelt. Unsere Konferenz kann sich nicht auf das feierliche Bekenntnis beschränken, solche Barbarei nicht wieder geschehen zu lassen. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert" danach ", gilt es auch, Wege und Praxis des Erinnerns zu besprechen, uns zu unterstützen in einer Erziehung zu Menschlichkeit und Zivilcourage - damit niemals wieder gewöhnliche Menschen im Namen verbrecherischer Ideologien gewöhnliche Orte zu grausamen Hinrichtungsfabriken machen. Es ist daher gut, dass sich diese große internationale Konferenz mit so prominenter Beteiligung diesem Thema widmet. Ich danke stellvertretend Göran Persson, dass Schweden in den vergangenen Jahren eine so aktive Rolle bei der Befassung mit dem Holocaust und der Holocaust-Erziehung gespielt hat. In einer Zeit, da neonazistische Gruppen die modernen, weltweiten Kommunikationsmittel nutzen, um ihre menschenverachtenden Ideen zu verbreiten, müssen wir unsere internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Hasspropaganda und Gewaltverherrlichung verbessern. Aber angesichts der zunehmenden Bereitschaft dieser Gruppen, ihre Hetze auf die Straßen zu tragen, angesichts ihrer Gewaltbereitschaft bis hin zum Mord, denke ich auch, dass wir sowohl die polizeilichen Maßnahmen und die der Justiz als auch die geistige Auseinandersetzung mit Rassismus und Neonazismus verstärken müssen. Verehrte Anwesende! Wie so viele aus meiner Generation, die ungefähr so alt ist wie die demokratische Bundesrepublik Deutschland, bin auch ich in meiner politischen Entwicklung nachhaltig geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, von der Debatte um Schuld und Verantwortung, die sich für uns aus der Vergangenheit ergibt. Ganz gewiss hat diese, seit Mitte der 60er-Jahre sehr intensive politische Diskussion zur Stabilität der demokratischen Ordnung und zur Wertebindung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft beigetragen. Trotz mancher öffentlicher Erregung, die es um einzelne Kontroversen und Meinungsäußerungen immer wieder gegeben hat, haben doch gerade auch diese Debatten gezeigt: Einen Schlussstrich unter die deutsche Geschichte kann niemand ziehen, und die überwältigende Mehrheit der Deutschen will das auch nicht. Einige Entscheidungen, die die Politik zu treffen hatte, werden gerade in diesen Tagen wirksam: Heute Vormittag hat das Bundeskabinett den Gesetzentwurf beschlossen, mit dem die Stiftung" Erinnerung, Verantwortung und Zukunft "zu Gunsten der ehemaligen Zwangsarbeiter eingerichtet werden wird. Morgen, am deutschen Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, werden wir in Berlin offiziell den Baubeginn der vom Deutschen Bundestag beschlossenen zentralen Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas einleiten. Verehrte Anwesende! Praktische Politik kann aber nicht die tagtäglich zu leistende Arbeit des Erinnerns ersetzen." Arbeit "schon deshalb, weil das Erinnern an so dunkle Momente unserer Geschichte stets auch ein Kampf des menschlichen Gedächtnisses gegen den menschlichen Stolz ist. Es bleibt unsere vordringliche Aufgabe, einem" Nachgeben "des Gedächtnisses entgegenzuwirken. Das ist nicht allein dadurch zu erreichen, dass wir über die Verbrechen aufklären und das Gedenken an die Opfer wach halten. Immer wieder - ich erinnere an die Diskussion über das gescheiterte Attentat auf Hitler durch Johann Georg Elser - zeigen uns zeitgeschichtliche Kontroversen, dass das öffentliche Nachdenken über den Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur noch längst nicht abgeschlossen ist. Mir geht es dabei vor allem um den zivilen, um den nicht organisierten Widerstand gegen Hitler. Es ist meiner Auffassung nach wichtig, dass unsere Schüler über die Funktionsweisen des nationalsozialistischen Terror-Regimes Bescheid wissen. Wir wollen, dass sich die Jugendlichen in unseren Ländern mit dem Grauen des Holocaust auch in Zukunft auseinander setzen. In der Bundesrepublik ist dies seit langem ein fester Bestandteil des Unterrichts für die Schülerinnen und Schüler. So wird es bleiben. Es wäre aber auch nützlich, wir würden unsere Jugend ähnlich umfassend über Menschen wie den Reviervorsteher Krützfeld oder den Pfarrer Poelchau unterrichten. Der eine war - einfach durch beherzte Anwendung der Vorschriften - in der Pogromnacht 1938 gegen die SS-Horden eingeschritten. Er wurde später zur Rede gestellt; geschehen ist ihm nichts. Der andere hat unter mancherlei Vorwänden etliche Verfolgte vor der Gestapo schützen können. Menschen wie diese haben vielleicht nicht die" ganz großen "Heldentaten vollbracht. Aber sie haben uns allen gezeigt, dass elementar menschliches, ziviles Verhalten auch unter den Bedingungen von Diktatur und Volksverhetzung zumindest in Grenzen möglich war. Wir sollten dies unserer Jugend zum Ansporn ihres Gedächtnisses, aber auch ihres Stolzes sagen. Niemand kann und will die heutige deutsche Jugend in Haftung nehmen für Taten, die sie nicht zu verantworten hat. Aber ihnen die grausamen Verbrechen der Vergangenheit vor Augen führen und ihnen Beispiele nennen, wie dem Unrecht widerstanden werden kann - das sollten und das müssen wir tun. Denn gerade die Vorbilder des Widerstandes gegen Terror und Unrecht können Leitbilder für die heutige Jugend sein. Deshalb haben all diejenigen, die, etwa bei den" Lichterketten "auf Deutschlands Straßen, ihren Bürgerwillen für Freiheit und Toleranz demonstriert haben, meinen Respekt - genau so wie all die meistens Ungenannten, die eben nicht wegsehen, wenn Skinheads und Rechtsextremisten gegen Ausländer oder Behinderte pöbeln oder gar Gewalt anwenden. Verehrte Anwesende! Dass der Holocaust mitten in der so genannten" zivilisierten " Welt möglich war, zeigt uns: Wir können eine aufgeklärte, freie und friedlich-tolerante Gesellschaft nie für selbstverständlich halten. Wir müssen um diese Freiheit kämpfen: Jahr für Jahr und Tag für Tag. Wir sollten uns vor dem Glauben hüten, dass die Zugehörigkeit zu einer Nation oder Kultur - sei sie noch so fortschrittlich und zivilisiert - immun machen könnte gegen die Fehlbarkeit und Verführbarkeit der Menschen. Deshalb müssen wir unsere Vergangenheit und Gegenwart immer wieder kritisch betrachten und zur aktiven Toleranz, zur friedlichen Konfliktlösung, zum Respekt für alle Menschen und ihre unveräußerliche Würde erziehen. Dazu gehört selbstverständlich auch eine internationale Politik, die sich die Verteidigung der Menschenrechte und der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Toleranz zum höchsten Anliegen macht. Dazu gehört als gemeinsame Verpflichtung unserer Regierungen eine Erziehung, die die Erinnerung an den Holocaust wach hält und dem Hass und der Menschenverachtung den Kampf ansagt. Zugleich dürfen wir aber nicht vergessen, dass eine solche Erziehung nur gelingen kann, wenn sich jeder Einzelne aktiv für eine tolerante, offene und friedliche Gesellschaft einsetzt. Dies erreichen zu helfen, verstehe ich als den Sinn dieser Tagung. Das ist der Grund, warum ich der heute beginnenden Tagung einen guten und sehr erfolgreichen Verlauf wünsche.