Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 24.01.2005

Untertitel: Zum Neujahrsempfang der SPD-Bundestagsfraktion hat Bundeskanzler Gerhard Schröder am 24. Januar folgende Rede gehalten:
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/73/778573/multi.htm


Lieber Franz, liebe Freundinnen, liebe Freunde!

Schön, hier zu sein, vor allen Dingen schön, hier zu sein in dieser Stimmung. Und ich beziehe da jetzt alle ein. Das war nicht immer so, ich weiß es wohl. Es kann kaum noch besser werden, aber man kann ja daran arbeiten.

Jenseits dessen ist dieses Jahr 2005 ein Jahr, in dem viel nachgedacht werden wird über Vergangenheit - und das sind mehr die Gedenktage als Symbole. ( Es ist ) Gelegenheit, Verantwortung zu übernehmen für Vergangenes und daraus die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Ich meine 60 Jahre Befreiung von Auschwitz, ich meine 60 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges - beides Daten, denke ich, die für Deutschland, für die Deutschen von besonderer Bedeutung sind. Es wird Gelegenheit sein, daran zu besonders zu erinnern, aber ich fand es gut und richtig, dass Franz Müntefering deutlich gemacht hat, dass das Gedenken an Auschwitz eine Verpflichtung ist, eine Verpflichtung, die in dem wichtigen und richtigen Satz "Nie wieder!" ihren Inhalt findet. Und "Nie wieder!" heißt, dass wir in der Gesellschaft dafür sorgen müssen, dass Nazis - und die Leute in der NPD sind unverbesserliche Nazis - bei uns keine Chance haben.

Ich bin heute anlässlich des Besuchs des chilenischen Präsidenten, eines erfolgreichen, überzeugten Sozialdemokraten, gefragt worden, ob dieses "Nie wieder!", diese kompromisslose Haltung gegen Nazis in und außerhalb der NPD damit zusammenhänge, dass wir Acht geben müssten auf die Art und Weise, wie unser Deutschland im Ausland gesehen wird. Ich habe geantwortet: Das auch, aber das nicht einmal und schon lange nicht alleine. Es geht dabei um unsere Selbstachtung als Demokraten, um nicht weniger als um unsere eigene Selbstachtung, wenn wir diesen Kampf aufnehmen und ihn erfolgreich führen.

Und das Zweite betrifft 60 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges, betrifft die Frage, wie wir mit unserem großen Nachbarn im Osten, mit Russland, umgehen. Ich denke, auch da geht es nicht nur darum, zu wissen, wer den Krieg begonnen hat, nämlich Deutschland unter Hitler, und was das bedeutet, sondern es geht darum, dafür zu sorgen, dass wir zu einem Verhältnis insbesondere zu Russland als Deutsche, aber auch als Europäer kommen, das gekennzeichnet ist durch die Erkenntnis, dass Frieden und Wohlfahrt auf diesem Kontinent nur möglich sind durch ein gutes europäisches Verhältnis zu einem demokratischen Russland. Das ist der Inhalt dessen, was wir auch in Moskau zu vermitteln haben, wenn ich dort mit anderen zusammen dieses Tages zu gedenken habe.

Weil ich bei der Außen- und Sicherheitspolitik bin, bin ich ziemlich sicher, dass wir in diesem Jahr eine Reihe wichtiger Probleme zu lösen haben, Chancen zu ergreifen haben, wenn wir keine Niederlagen kassieren wollen. Ich denke, es wird uns gelingen, die Europäische Verfassung als eine der ersten in den Parlamenten, im Bundestag und Bundesrat, zu verabschieden. Das ist ein wichtiges Signal der stärksten Volkswirtschaft, des einwohnerstärksten Landes, wenn wir da vorangehen. Wir sollten das tun. Das ist ein Signal für andere, ein Signal auch, dass die Deutschen sehr wohl wissen, dass Europa etwas ist, das wir bauen müssen und entwickeln müssen, wenn wir Zukunft wirklich auf Dauer in Frieden und in wirtschaftlichem Wohlergehen gewinnen wollen.

Und das Zweite: Wir haben die Chance - und ich denke, die jüngsten politischen Entscheidungen des neu gewählten palästinensischen Präsidenten zeigen das - , wir haben die Chance, einer Lösung des Konfliktes zwischen Israel und Palästina näher zu kommen, einer Lösung, die auf dem Boden dessen, was in der Roadmap aufgezeichnet worden ist, sich nur vollziehen kann, bei der Europäer und Amerikaner eng zusammenarbeiten müssen, eine Lösung, die es aber nur geben wird, wenn die neue Administration in Washington nach der Erkenntnis handelt, dass dieser Konflikt nur mit neuer Dynamik und neuer Entschiedenheit durch die Vereinigten Staaten zu lösen sein wird. Die Europäer haben gewiss eine wichtige Rolle und werden sie wahrnehmen. Und die anderen im Quartet, die Vereinten Nationen, Russland ebenso, aber entscheidend wird sein, ob man in Washington den Willen aufbringt. Und ich glaube, das kann gelingen, diesen Konflikt zu lösen. Würde er gelöst, wäre dem internationalen Terrorismus viel von Massenloyalität entzogen, die terroristische Aktive aus diesem Konflikt versuchen - und nicht ohne Erfolg versuchen - , auf ihre Mühlen zu leiten. Wir können - und auch das mussklar gesagt werden - angesichts der Tatsache, dass wir in Afghanistan, im Irak noch weit weg von einer wirklich befriedigenden, weil befriedeten Situation sind, keine neuen Konflikte brauchen. Und deswegen glaube ich, dass wir mit Deutlichkeit und Entschiedenheit unterstützen sollten, dass die drei europäischen Mächte, Großbritannien, Frankreich und Deutschland mit allem, was ihnen zur Verfügung steht, eine politische Lösung der Frage wollen, die es im Iran gibt. Wir sind gegen die Möglichkeit des Iran, über atomare Waffen zu verfügen. Aber wir wollen das Problem politisch lösen. Zu einer militärischen Intervention darf es nach unserer Auffassung nicht kommen. Das wird die nächsten Gespräche, die wir zu führen haben, leiten. Und ich denke, diese Entschiedenheit sollte allen Freunden klar sein, wen auch immer es betreffen mag. Was die Innenpolitik angeht, will ich unterstreichen, was Franz Müntefering gesagt hat, unterstreichen, dass es wirklich Quatsch ist, so zu tun, als sei das Ende der Reformen erreicht. Eine Gesellschaft, die sich so radikal und so schnell an ihrer ökonomischen Basis verändert wie unsere, ist in einem ständigen Reformprozess, in einem Prozess der ständigen Anpassung der politisch-sozialen Systeme an veränderte Bedingungen. Aber uns geht es eben nicht um bloße Anpassung, sondern um Gestaltung. Natürlich ist es richtig, dass die Aufgaben, die Franz Müntefering genannt hat, angepackt werden müssen, auch angepackt werden in diesem Jahr. Aber ich will die Kehrseite dessen, was wir in der Sozialpolitik, in der Gesellschaftspolitik geleistet haben, weil wir es leisten mussten, nämlich die Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die Herausforderung der Globalisierung und der demografischen Entwicklung unseres Landes. Ich will die Kehrseite nennen, weil das sind auch - und gerade das - sind Reformen: Es geht um mehr Investitionen in Bildung, Ausbildung hat Franz genannt, in Forschung und Entwicklung.

Und es gibt das große beherrschende Thema der Frage "Wie geht es den Familien in Deutschland?". Und Familie ist überall dort, wo Kinder sind, damit auch das klar ist. Wie schaffen wir es, das was Renate Schmidt formuliert, worum sie wirbt, Familienpolitik in diesem modernen Sinne begriffen als eine Angelegenheit des ganzen Volkes, der ganzen Gesellschaft und nicht nur der politischen Akteure hinzubekommen. Wie schaffen wir das? Ich bin durchaus froh darüber, dass auch diejenigen, die sich gelegentlich mit dem Thema beschäftigt haben, in der Vergangenheit jedenfalls die Union, auch andere jetzt sagen: Wir wollen da mithelfen. Bitte schön, Sie sind eingeladen. Wir wollen das nicht alleine tun, aber wir beanspruchen für uns, für die Sozialdemokraten, für die rot-grüne Koalition, dass wir vieles von dem bereits im Begriff sind umzusetzen, ein gesellschaftliches Bündnis zu schaffen für diese Fragen, während andere noch überlegen, ob sie denn irgendwann im Herbst ein Papier dazu vorlegen sollen oder nicht sollen. Mir ist das wichtig.

Mir ist das wichtig, weil ich glaube, die Perspektiven für unsere Gesellschaft daran nicht zuletzt hängen. Also, Reform ist nicht nur, wenn man der bitteren Notwendigkeiten wegen die eine oder andere Leistung anders definieren muss, sondern Reform ist auch und gerade, wenn man mehr tut für Betreuung, mehr tut für Bildung und Wissenschaft, mehr tut für diejenigen, die am Rande sind und die Qualifizierung und Ausbildung brauchen. Es ist mir wichtig, dass wir einen Reformbegriff pflegen, der nicht nur darauf kuckt, was die Öffentlichkeit angeht, wann ist die nächste Gruppe dran, sondern dass wir einen Reformbegriff pflegen, der den Menschen klar macht, die manchmal schwierigen Entscheidungen, die wir haben treffen müssen, die Belastungen, die wir des Ganzen wegen zumuten mussten, die haben eine Kehrseite. Und die Kehrseite ist, mehr Ressourcen in die Bereiche, die ich genannt habe. Nur zusammen ergibt das Reformkonzept Sinn und nur so zusammen sollte es auch beschrieben und bewertet werden. Wir haben eine Menge zu tun. Ich bin sehr optimistisch, dass wir dieses Jahr im Sinne der letzten Tage und Wochen nicht nur anfangen können, sondern wirklich gut zu Ende bringen können. Das ist wichtig für die Menschen in unserem Land. Und dass das gelingt - ich sage das, ohne pathetisch zu werden - , das hat auch etwas zu tun - lieber Franz - mit dem Maß an Zusammenarbeit, mit der glücklichen Erfahrung von Unterstützung, nicht nur im Prinzipiellen, sondern in jedem Alltagsschritt auch. Und dafür, denke ich, bin nicht ich nur dir dankbar, sondern ist es die gesamte Sozialdemokratie und diejenigen, die in erfreulich größerer Zahl sich wieder auf sie beziehen. Das ist nicht zuletzt deine Leistung im abgelaufenen Jahr. Herzlichen Dank dafür!