Redner(in): Christina Weiss
Datum: 04.02.2005
Untertitel: In ihrer Rede zur Eröffnung des Neubaus des Studienzentrums der Herzogin Anna Amalia Bibliothek am 4. Februar in Weimar verweist Staatsministerin Christina Weiss auf die Bedeutung der Bibliotheken als Jahrhunderte überdauerndes Gedächtnis der Menschheit.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/11/783811/multi.htm
war der 2. September des letzten Jahres ein Tag großer Betroffenheit, so ist heute ein Tag ebenso großer Freude. Das was über viele Generationen und über Jahrhunderte zusammen getragen worden und was seit gut 300 Jahren der Öffentlichkeit zugänglich ist, hat nun eine neue Heimstatt, ein neues Haus. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Jahrhunderte den auf über eine Million Einheiten gewachsenen Beständen bis zum letzten Herbst kaum Schaden zugefügt haben, in Deutschland wahrlich ein kleines oder großes Wunder, je nachdem. Unter den verschiedenen Werkzeugen ", schrieb vor einem halben Jahrhundert der oberste Bibliothekar Argentiniens, Jorge Luis Borges," ist das erstaunlichste zweifellos das Buch. Die anderen sind Erweiterungen seines Körpers. Mikroskop und Teleskop sind Erweiterungen des Sehens, das Telefon ist eine Erweiterung der Stimme; dann haben wir Pflug und Schwert, Erweiterungen des menschlichen Arms. Aber das Buch ist etwas anderes: Es ist eine Erweiterung des Gedächtnisses und der Phantasie."
Wer also, so könnte man schlussfolgern, den Büchern Häuser errichtet, der baut sie auch der Phantasie - eine schöne Vorstellung. Aber ist sie noch zeitgemäß? Ist es vielmehr nicht so, wie Hans Blumenberg 1981 in seiner Abhandlung über die "Lesbarkeit der Welt" schrieb, dass die "geschriebene und schließlich gedruckte Tradition immer wieder zur Schwächung von Authentizität der Erfahrung geworden" sei. Es gebe so etwas wie die "Arroganz der Bücher durch ihre bloße Quantität, die schon nach einer gewissen Zeit schreibender Kultur den überwältigenden Eindruck erzeuge, hier müsse alles stehen und es sei sinnlos, in der Spanne des ohnehin allzu kurzen Lebens noch einmal hinzusehen und wahrzunehmen, was einmal zur Kenntnis genommen und gebracht worden sei."
Freilich, Blumenberg, der selbst noch die entlegensten Quellen aufspürte und seinen Lesern ausbreitete, hätte sein gelehrtes und Bücher gesättigtes Werk niemals ohne Bibliotheken wie diese schreiben können.
Die nach ihrer tatkräftigsten Förderin benannte Büchersammlung in Weimar ist ein deutsches Wunder, das so in keinem anderen europäischen Land möglich war. Es ist mehr als nur politische Pflicht-Rhetorik, wenn ich erwähne, woran dieser Tage und Wochen immer wieder erinnert werden wird: Dass nämlich dieses Wunder in einem Land und in einer Stadt möglich war, in der es einen anderen Ort mit Namen Buchenwald gab. Auch dies ist etwas, das die Menschheit niemals begreifen konnte und können wird. In Weimar, wie oft ist es schon gesagt worden, liegt es zum greifen nahe beieinander.
Auch heute noch denkt, wer "Bibliothek" sagt, vielleicht eher an den düsteren Turm in Umberto Ecos "Namen der Rose" als an die lichten Prunksäle der süddeutschen Barockklöster. Stockfleckiges Papier, modriger Geruch, stickige Luft. So entsteht, noch einmal Hans Blumenberg, aus "Stickluft, Halbdunkel, Staub und Kurzsichtigkeit aus ihrer Unterwerfung unter die Surrogatfunktion die Bücherwelt als Unnatur." Dies mag noch gelten für die ehemaligen Ausweichlagerstätten, in denen ein großen Teil der Weimarer Bücher seit Jahrzehnten unter teilweise unverantwortlichen Bedingungen gelagert werden musste. Die letzte bauliche Erweiterung der Bibliothek fand, und das ist nun auch schon einige Jahre her, aus Anlass des 100. Geburtstages Goethes 1849 statt. Aber für das Herzstück der Bibliothek, die "Bücher-Arche Noah", den so genannten Rokokosaal gelten diese Charakterisierungen ganz sicher nicht. Und noch weniger gelten sie für die wunderbar hellen und funktionalen Räume über und unter der Erde, die heute der Öffentlichkeit übergeben werden.
Dies ist freilich noch keine hinreichende Antwort auf die zwar nicht von Ihnen, meine Damen und Herren, aber doch in Zeiten schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse von Steuerzahlern gestellte Frage: Zu welchem Zweck bauen wir heute noch Bibliotheken, Museen oder Theater, und wozu brauchen wir sie eigentlich noch.
Seit Jahrtausenden sammeln und bewahren Menschen das schriftlich festgehaltene Wort. Und ebenso lange gibt es Orte und Räume, diese Träger aufzubewahren. Diese Orte der Schriftenaufbewahrung sind immer wieder zerstört, geplündert und in Brand gesteckt worden. Immer auch hatten und haben die Mächtigen Angst vor der Macht des aufgeschriebenen Wortes und wollten sich vor ihm schützen wie jener erste chinesische Kaiser Schih Huang Ti, der der Überlieferung nach den Bau der berühmten Mauer wie auch die Verbrennung aller Schriftrollen, die vor ihm waren, anordnete und rigoros durchsetzte. Etwas weniger ängstliche Herrscher schränkten nur den Zugang zu dem ein, was so mächtig und ihrer Herrschaft gefährlich war oder doch werden konnte. Die Geschichte der Bibliotheken ist auch die Geschichte ihrer Geheimkabinette, in denen das Gift freier Gedanken unter Verschluss gehalten wurde.
Das Buch ist das Kommunikationsmedium des letzten halben Jahrtausend. Immer wieder ist von seinem Ende und dem Ende seines Zeitalters die Rede. Angesichts der rasanten technologischen Entwicklung ist diese Sicht der Entwicklung durchaus nachvollziehbar. Allein: Es bedürfte allerdings vieler Jahrzehnte enormer personeller und finanzieller Anstrengungen, die in sämtlichen alten Büchern erhaltenen Informationen in die neuen Medien zu transformieren. Damit wäre aber auch erst deren Inhalt konserviert. Die Prognosen für die Haltbarkeit von Büchern sind einigermaßen gesichert. Bücher werden noch Jahrhunderte überdauern, während die Zukunftsaussichten digitaler Speichermedien derzeit noch weitgehend unbekannt sind.
Es bleibt aber - jenseits seines Informationsgehaltes - das Buch als Dokument der Sozial- , Wirtschafts- und Kunstgeschichte. Als solches ist es nicht ersetzbar durch neue Medien. Bücher als "Material" für den Prozess der fortgesetzten kulturellen Selbstverständigung zu sichern, ist Aufgabe der Bibliotheken und der Bibliothekare. Dafür bauen wir ihnen neue, zeitgemäße und manchmal, wie hier in Weimar auch noch schöne Häuser. Übrigens ist die größte Kulturbaustelle Berlins an einem einzelnen Gebäude der Umbau der Staatsbibliothek Unter den Linden, der sich weitgehend den Augen der Öffentlichkeit entzieht, weil er im geschlossenen Quarrée des Innenhofes bewerkstelligt wird.
Soweit es in Zukunft um die reine Informationsspeicherung und Verwaltung geht, werden die elektronischen Medien sicher weiter an Raum gewinnen. Aber zumindest für die alten Bücher brauchen wir Aufbewahrungsorte noch für Jahrhunderte. Diese Orte freilich werden neue Bedeutung als Forschungszentren erlangen, die in Allianz mit verwandten Instituten eine umfassende wissenschaftliche Erforschung ihrer Bestände ermöglichen. Sie bleiben aber "Häuser des Lebens" auch für künftige Generationen, in dem sie sich zu Dienstleistungsunternehmen wandeln, die den komplexen Anforderungen des Informationszeitalters gerecht werden.
Die Eröffnung des Studienzentrums und der neuen Magazinen ist nicht nur im Hinblick auf den Brand vom 2. September ein sichtbares Zeichen dafür, dass das Land und auch der Bund dieses kulturelle Erbe, zumal an einem Ort seiner größten Verdichtung, als Verpflichtung begreifen und ernst nehmen.
Mein letztes Wort gilt dem obersten Bibliothekar Weimars. Der Bund, lieber Herr Knoche, hat viel für Weimar getan und wird auch in Zukunft viel für Weimar tun. Die Hälfte der Baukosten haben wir getragen, und für die Beseitigung der Folgen des Brandes habe ich mich von Anfang an persönlich engagiert. Sie wissen, dass der Bund Sie auch da nicht im Stich lassen wird. Die Planungen für eine vorgezogene Sanierung des Stammgebäudes sind im Gange und wenn alles gut geht, kann im Oktober das Richtfest gefeiert werden. Tausende Bürgerinnen und Bürger haben dafür gespendet, dass das Verlorene, wo irgend möglich, wiederbeschafft werden kann. Und wenn ich die Firma Vodafone mit einer beeindruckenden Spende hier und heute nur am Rande erwähne, dann nur deshalb, weil der Bundeskanzler dieses Engagement schon gewürdigt hat und davon im Übrigen im Zusammenhang des Altbaus noch zu reden sein wird.
Auch der Bund hat also schon viel getan. Gleichwohl wollte ich nicht mit leeren Händen kommen und bringe Ihnen symbolisch ein Stück von dem zurück, was am 2. September verloren ging. 13 der zahllosen verbrannten Titel haben wir mit Hilfe von Herrn Dr. Mangei in Antiquariaten ausfindig machen können. Drei davon habe ich im übertragenen, aber auch im tatsächlichen Sinne herausgegriffen, weil sie beispielhaft für den unerhörten Reichtum des bis heute unerschöpften Kosmos der Bestände dieser wunderbaren Bibliothek stehen. Generation von fürstlichen und privaten Sammlern, Bibliothekaren und Stiftern haben diese Bestände wie einen Baum wachsen lassen, um dessen Stamm sich unzählige Jahresringe gelegt haben. 1786 wurde dieser Band mit dem Titel "Etwas über den Borkenkäfer oder die Baumtrockniß fichtener Waldungen" gedruckt. Ein zweiter Band ist dieses 1772 in Rom erschienene Handbuch für Architekten und Ingenieure, seinerzeit ein Standardwerk in ganz Europa. Schließlich halte ich ein Bändchen mit dem höchst vergnüglichen Titel "Die Feuerwerkskunst für Dilettanten, oder Anleitung wie man mit geringen Kosten aller Arten von Kunst- und Lustfeuern zur Verschönerung häuslicher Feste zubereiten kann".
Ihnen lieber Herr Knoche übergebe ich diese und zehn weitere Titel. Hüten Sie die Ihnen anvertrauten Schätze, von denen Goethe beim Besuch der damals viel bewunderten Bibliothek in Göttingen gesagt hat, man fühle sich in ihrer Gegenwart wie in der Gesellschaft "eines großen Capitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen" spende. Von diesen Zinsen mögen Generationen von Besuchern und Wissenschaftlern profitieren, zu unser aller Nutzen. Denn hier und heute hebt ein neues Zeitalter der Herzogin Anna Amalia Bibliothek an, und wir können sagen, dass wir dabei gewesen sind.