Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 14.02.2005
Untertitel: Bundeskanzler Gerhard Schröder hat am 14. Februar 2005 anlässlich der Ausstellung "Die Kunst des SPIEGEL - Titelillustrationen aus fünf Jahrzehnten" in Berlin folgende Rede gehalten.
Anrede: Herr Chefredakteur, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/36/788636/multi.htm
ich habe mir natürlich eine Rede schreiben lassen, die ich auch vortragen werde. Denn ich denke gar nicht daran, mich Missverständnissen auszusetzen. Aber eins muss ich gleichsam frei vortragen; ein bisschen Replik auf die unglaublich freundliche Einführung, die der Herr Chefredakteur mir hat zuteil werden lassen. Wäre, lieber Stefan Aust, nicht der Titel das Gesicht des "SPIEGEL", sondern der Chefredakteur, ich bin ganz sicher, das Produkt wäre total unverkäuflich.
Ich hoffe, damit wenigstens Gleichstand hergestellt zu haben. Also, um weiteren Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin nicht gekommen, um zu sehen, wie oft ich dran war. Das kann nur besser werden. Und es ist doch nicht nötig, wenn es schlechter werden sollte.
Wie auch immer: Ich habe mich, als ich den Katalog gelesen und durchgeblättert habe, wirklich darüber gefreut, hier sein zu können. Denn es geht hier um Kunst und, wie ich finde, um große Kunst. Es geht auch um ein Stück Zeitgeschichte. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Titel des "SPIEGEL" einmal in schwarz-weiß begonnen worden sind. Pate gestanden haben "TIME" und "Newsweek", wenn ich richtig erinnere. Das war damals etwas Neues in Deutschland.
Als dann Eberhard Wachsmuth 1954 dahin kam - das wird übrigens in seinem Interview im Katalog sehr schön beschrieben, wie er zu den Verrückten nach Hannover gekommen ist, die gerade nach Hamburg ausgewandert wurden, die ja vielleicht auch deswegen so verrückt geworden sind, weil sie aus Hannover weggingen; die wirkliche Metropole, wenn Sie wissen, wovon die Rede ist - , hat er einmal gesagt, was er eigentlich vorhatte.
Er sagte: "Ich brauche jetzt nicht nur Photographien" - obwohl das ja auch etwas Neues und etwas Schönes war - ,"ich möchte durch zeichnerische Darstellung den Titel oder besser die Titelgeschichte zuspitzen, sie gelegentlich überhöhen" - auch das ist ja in der späteren Folge geschehen - ,"die Titelgeschichte verschärfen, auch abstrakte Zusammenhänge pointiert darstellen." Ich finde, dass das in den Titelbildern fast immer gelungen ist, in den Geschichten selten.
Ohne aber die politische Karikatur oder die Karikatur schlechthin zum darstellerischen Zweck zu erklären und damit das Feld der Illustration zu verlassen, hat er versucht, dies alles darzustellen.
Dann hat er wirklich tolle Zeichner eingeladen, das zu machen. Wenn man sich den Katalog anschaut und sicher noch schöner die Ausstellung unten, dann wird das auch deutlich. Hier ist aufgeschrieben worden, was im Einzelnen dahinter steckt. Das schenke ich mir jetzt, weil ich Sie auffordern möchte, sich selbst damit auseinander zu setzen und sich nicht anhören zu müssen, was ich davon halte.
Aber ich finde schon, wenn man sich den Katalog aufmerksam anschaut, dass wirklich ein Stück Zeitgeschichte dargestellt worden ist. Früher war man ja so verrückt und hat jeden Montag darauf gebibbert, den "SPIEGEL" lesen zu können. Das ist natürlich längst vorbei; das ist gar keine Frage.
Ich muss wirklich sagen: Das ist ein Stück meiner politischen Sozialisation gewesen. Nicht die jetzt Aktiven, aber die Früheren sind schon für das verantwortlich, was daraus geworden ist. Also Ihr könnt auf diese Kontinuität durchaus ein bisschen mehr stolz sein, als das im Blatt zum Ausdruck kommt.
Ich will gern erklären, was "ein Stück Zeitgeschichte" meint. Das meint nicht nur die Titelbilder; das meint auch - das gibt es jetzt nicht mehr - diese gelben Seiten, die es eine Zeitlang gab. Sie wurden zu der Zeit eingeheftet, als es z. B. die Auseinandersetzung über die Notstandsgesetze gab. Diejenigen, die so um die 60 sind, werden sich noch daran erinnern. Ich habe sie herausgerissen und gesammelt, z. B. auch zu dem Zweck, das Abitur zu bestehen. Sie haben dazu beigetragen; man glaubt das nicht.
Ich war damals an einem Kolleg des Zweiten Bildungswegs und hatte ( Abiturprüfung ) in Geschichte. Ich habe natürlich eine Eins in Geschichte bekommen, aber nur wegen des "SPIEGEL". Da gab es eine Abhandlung in diesen gelben Seiten über das deutsch-französische Verhältnis, offenkundig ein besonderes Interessengebiet von Rudolf Augstein, jedenfalls zur damaligen Zeit. Dieses Ding hatte ich fast auswendig gelernt und hatte tatsächlich das Glück, in der Abiturprüfung damit konfrontiert zu werden. Da brachen natürlich alle Dämme, so gut war ich dank des "SPIEGEL" vorbereitet. Das ist mir danach nie wieder wiederfahren; ich musste aber auch nie wieder Abitur machen.
Ich will, meine Damen und Herren, keineswegs die Gelegenheit nutzen - obwohl das natürlich sehr nahe liegt - , um auf das Blatt zu schimpfen. Das will ich wirklich nicht. Nein, ich will es loben. Ich will es wirklich loben. Damit macht man sie nämlich richtig fertig. Ich finde, das Maß an intellektueller Auseinandersetzung, für die der "SPIEGEL" gerade in letzter Zeit steht, ist schon beeindruckend und sagt einem, wenn man das montags liest, unglaublich viel. Also man lernt daraus. Das ist das Eine.
Das Zweite ist: Wenn Sie sich die Titelgeschichten ansehen, die hier sozusagen als Bilder oder in Form von Bildern vorgestellt werden, dann fällt Ihnen etwas auf. Alles, was die heute beschreiben, war schon einmal da. Die Angst in Deutschland war schon einmal da, dass die Republik schwarz werden würde. Das ist auf den Bildern übrigens sichtbar. Dass alles bergab geht - wie Steingart nicht aufhört zu beschreiben - , das war alles schon einmal da.
Ich glaube nämlich, dass diejenigen, die heute schreiben, sich einfach das Archiv vornehmen, die Geschichten von vor zwanzig Jahren lesen und sie nacherzählen. Das ist jedenfalls das, was ich mir beim Lesen immer so vorstelle.
Ich könnte mich noch eine halbe Stunde über diese Fragen verbreiten, meine Damen und Herren. Aber ich will ein ehrlich gemeintes Lob sagen, und zwar ohne jede Ironie. Ich glaube, dass der "SPIEGEL" eine Menge für Pressefreiheit in Deutschland getan hat, nicht nur in der Zeit, wo Rudolf Augstein - den wir alle sehr verehrt haben, egal, auf welcher Seite des politischen Geschehens wir waren - in den Knast einfahren musste, sondern auch darüber hinaus. Damit hat er auch viel getan für die Entwicklung von Demokratie in Deutschland. Das gilt auch, wenn man mit den Geschichten, die über einen selber geschrieben werden, selten einverstanden sein kann. Das ist ja auch nicht die Aufgabe.
Zweitens glaube ich, dass auf diese Weise vielen geholfen worden ist, einen Zugang zur Politik zu finden, auch kritisch. Man wurde durch das, was beschrieben worden ist, sozusagen herausgefordert und angeregt, sich Gedanken über Politik zu machen. Ich denke, diese beiden Dinge - Pressefreiheit als Essentiale von Demokratie gelebt und verteidigt zu haben und ein Stück am wachsenden politischen Bewusstsein in Deutschland mitgearbeitet haben - sind unzweifelhaft nicht zuletzt ein Verdienst eines Magazins, wie es der "SPIEGEL" ist und - das sage ich trotz aller kritischen Auseinandersetzung - immer noch ist.
Ich wünsche mir deswegen auch, dass Sie gelegentlich ein bisschen freundlicher und damit zutreffender über Unsereinen berichten. Diese Hoffnung habe ich zwar noch nicht aufgegeben; sie gehört aber nicht mehr zum großen Teil meines Lebens. Aber in jedem Fall wünsche ich, dass das Blatt als eine kritische Stimme - gleichgültig, wen es gerade erwischt - auch in Zukunft lebt und leben kann und - weil ich weiß, wie Ihr das wünscht - gut leben kann.
In diesem Sinne: Freuen Sie sich einfach auf die wunderbaren Titelbilder, die Sie sehen. Sie sind wirklich ein Stück Zeitgeschichte in Deutschland und für Deutschland. In diesem Sinne: Alles Gute und viel Spaß am heutigen Abend.