Redner(in): Christina Weiss
Datum: 14.04.2005

Untertitel: Am 14. April 2005 eröffnete Staatsministerin Christina Weiss in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde die neue Ausstellung zur Flucht im geteilten Deutschland.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/39/816039/multi.htm


welche Ortsnamen werden es sein, die in der Textur der deutschen Geschichte einen Klang und eine Relevanz haben, um als Vokabeln für Beträchtliches, Wegweisendes zu gelten. Wir kennen diese Städte, und doch sind es nicht sie allein, die uns vergegenwärtigen, woher wir kommen, was uns getrennt hat und wohin wir gegangen sind.

Was ist mit Marienborn, Gießen, Friedland, Schwanheide, Helmstedt, Gutenfürst, Bebra, Gerstungen, Dreilinden oder eben Marienfelde? Werden dies irgendwann Orte sein, die keiner mehr nennt, weil sie nicht mehr von Abschied und Neubeginn künden, weil hier nicht mehr über Weggehen und Ankommen, Verlust und Hoffnung, Entronnensein und Ungewissheit entschieden wird, weil diese Orte den letzten Hauch des Schreckens und die erste Spur von Erleichterung verloren haben? Werden diese Ortsnamen mehr sein als dankbare Lesezeichen im Terminkalender der deutschen Teilungsgeschichte?

Marienfelde, meine Damen und Herren, ist so ein Ortsname, der dem kollektiven Gedächtnis der Kommenden vererbt werden sollte. Hier haben sich Lebensläufe entschieden, und hier wird viel dafür getan, dass unter der vernarbten Wunde der Teilung eine Ahnung vom Trennungsschmerz übrig bleibt. Hierher nach Marienfelde kam, wer an den Traum vom sozialistischen Elysium nicht mehr glauben mochte oder konnte. Mir liegt daran, dass heute, wo die DDR mit jedem weiteren Todesjahr in ein immer milderes Licht getaucht wird, an die Jahrzehnte der gepackten Koffer erinnert wird, an Momente voller Ungewissheit, Gängelei und sozialer Demütigung drüben, an das erste Durchatmen hier. Aber auch an die neuen Hürden eines Lebens im Westen, an Ernüchterung und Geduld, akribische Befragungen durch die westlichen Geheimdienste und das Essen auf Marken, an kulturelle Konflikte in den Schulklassen und an glückliche Wendungen in so vielen Biographien.

Wenn man sich überlegt, dass etwa fünf Millionen Menschen der DDR zwischen 1949 und 1990 den Rücken kehrten, so wird deutlich, welcher chronische Vertrauensschwund den Heilsversprechen vom blühenden Sozialismus gegenüberstand. Für viele vergingen Lebensjahre, kostbare Lebensjahre und das Land blieb, was es war, ein einziger Befehl zur Hoffnung, ein Land, in dem man immer gesagt bekam, was man sein und was man tun sollte. Wer nicht länger bereit war, Befehle entgegenzunehmen oder innerlich zu emigrieren, der versuchte davonzukommen, um von Deutschland nach Deutschland zu gehen.

1,35 Millionen Menschen kamen in Marienfelde an, betraten diesen Ort des Übergangs. 1,35 Millionen Menschen, die hier ein Dach über den Kopf, ein Bett, Verpflegung aber auch den Auftrag zur Mündigkeit und Emanzipation erhielten.

Die Schriftstellerin Julia Franck, selbst hier auf der Durchreise, trifft es im Kern, wenn sie in ihrem Marienfelder Roman "Lagerfeuer" ihren Helden Hans Pischke denken lässt: "Vor mir lag nichts Geringeres als das Warten auf Glück. Die Sonne war kurz durchgebrochen und verschwand wieder, Schneeregen trieb zwischen den Häuserblocks und wehte mir in den halboffenen Anorak. Unter den bedeckten Himmel treten, den Schneeregen im Gesicht spüren und nicht Folge leisten, das genoss ich."

Im Roman wird Marienfelde wie eine moderne Burg beschrieben, und man erfährt, dass die Strapazen, die nötig waren, um das Notaufnahmeverfahren zu durchlaufen, nicht wenige auch an der gewonnenen Freiheit zweifeln ließen. Und war da nicht immer auch die Angst, hier im freien Teil Berlins von ferngesteuerten Stasi-Schergen bespitzelt, ja sogar entführt zu werden."Wir sind hier im Lager, nicht im Westen", sagt Hans. Pischke."Du hast vielleicht den Osten verlassen und ich das Gefängnis dort. Aber wo bist Du gelandet? Ist Dir aufgefallen, dass wir in einem Lager wohnen mit einer Mauer drumherum, in einer Stadt mit einer Mauer drumherum, mitten in einem Land mit einer Mauer drumherum. Du meinst, hier drinnen, im Innern der Mauer, ist der goldene Westen, die große Freiheit?" Solche oder ähnliche Ausbrüche von Bitterkeit und Gedrücktheit finden sich auch in den Zeitzeugeninterviews, die die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde gesammelt hat. Und es ist gut, dass auch diese Stimmungslagen, die von der Last des Wartens genährt wurden, dokumentiert sind. Geschichte, wir erleben es immer wieder, leitet sich nicht nur von Exponaten her, sondern in besonderer Eindringlichkeit durch die Erzählungen derer, die die Geschichte bestimmt haben. Wie habe ich gelesen, man mochte in fremde Schuhe, fremde Kleider, auch in fremde Betten schlüpfen, aber nie mehr in ein fremdes Leben.

Die neue Ausstellung, die wir heute eröffnen und die mein Haus mit 800.000 Euro unterstützt hat, wird aber nicht nur das Kapitel der innerdeutschen Flucht beleuchten, sondern auch von der großen humanistischen Leistung künden, die die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Notaufnahmelager Marienfelde in all den Jahren erbracht haben. Ihnen, aber auch den allen in den anderen Aufnahmelagern in Westdeutschland, in den Deutschen Botschaften in Prag, Warschau, Budapest und der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, den Mitarbeitern der karitativen Einrichtungen und nicht zuletzt der Kirchen gebührt an diesem Tage unser Dank.

Wir sollten denen danken, die geholfen haben, den Flüchtlingen den Weg in den Westen zu bahnen, die den Entwurzelten Mut gaben, im neuen Lebensraum heimisch zu werden. Wenn wir eine Ausstellung zur deutsch-deutschen Fluchtbewegung eröffnen, darf davon nicht geschwiegen werden. Es ist mir eine besondere Freude, dass wir diesen Tag mit ungarischen Gästen begehen, den Helden von Sopron, die aus dem eisernen einen zerrissenen Vorhang machten.

Meine Damen und Herren,

es wäre wünschenswert, wenn die neue Ausstellung auch das Nachdenken darüber befördern würde, welchen Wert unsere Freiheit besitzt, wie kostbar diese Selbstverständlichkeit ist. Es liegt mir viel daran, dass wir neben der Trauer um die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft die Geschichte des Unbotmäßigen aus Ostdeutschland erzählen, von Widerstand und Opposition, von der Kraft zum Nein-Sagen, von der inneren Bewegung, die Angst in Mut verwandeln konnte. Aber auch von dem tiefen Gewissenskonflikt vieler Oppositioneller, an Ort und Stelle zu kämpfen oder aber zu gehen.

Davon immer wieder Kenntnis zu geben, jungen Menschen von den Werten zu berichten, die die andere Gesellschaft in der DDR ausgezeichnet haben, das gehört zu einem aufgeklärten Bild über die zweite deutsche Diktatur. Wir wissen längst, dass man nicht mit der Stasi zusammenarbeiten musste, wir wissen, dass es vielen gelungen ist, anständig zu bleiben und sich nicht zu Lumpen machen zu lassen, wir wissen von der Kraft und der Kreativität des Unangepassten. Wir begreifen, dass ein Wort wie Antikommunismus einen sehr guten Klang haben konnte. Entdecken wir doch Werte in der Geschichte, die uns noch heute etwas bedeuten, werten wir vor allem die Mutigen von damals auf.

Dies soll auch im geplanten Geschichtsverbund "Aufarbeitung der SED-Diktatur" geschehen. Wir brauchen ein lebendiges Netzwerk der Bildungs- und Forschungsarbeit, das den Blick auf die andere DDR jenseits des Staatsbildes und die Erinnerung daran legt. Ich verspreche mir davon eine neue Offenheit für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, aber auch eine Selbstvergewisserung demokratischer Tugenden.

Die neue Ausstellung in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde wird, so hoffe ich, viele Besucherinnen und Besucher ansprechen und hoffentlich dazu anregen, sich mit der deutsch-deutschen Fluchtbewegung auseinander zusetzen. Nur, wenn es uns gerade bei jungen Menschen gelingt, danach zu fragen, was Mündigkeit und Individualität bedeutet, was es heißt, zu denken und zu tun, was einem gefällt, wenn man sie damit konfrontiert, in welcher Weise ideologische Ersatzreligionen Volksseelen betäuben können, nur dann werden wir das Schattenreich der jüngeren Vergangenheit verstehen können.

Wie viel zu tun ist, zeigte mir eine E-Mail, die mir eine Lehrerin aus Dresden schrieb. Dort, so hieß es in ihren Zeilen, dürfe man das Wort Diktatur nur noch um den Preis verwenden, als Ost-Hasserin abgestempelt zu sein. Meist folge dann der Satz: So schlimm wie im Moment war es in der DDR nie.

Sie können sich denken, wie nachdenklich mich diese Mail gestimmt hat. In diesem Sinne wünsche ich der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde eine aufklärerische Arbeit!

Ich danke Ihnen.