Redner(in): k.A.
Datum: 13.04.2005
Untertitel: Am 13. April 2005 wurde das Archiv unterdrückter Literatur in der DDR in der Landesvertretung Sachsen-Anhalt in Berlin an die Stiftung Aufarbeitung übergeben.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/42/816042/multi.htm
am Wochenende habe ich ein Interview mit einer jungen Schauspielerin gelesen, die zwanzig Jahre nach dem Mauerbau in Ost-Berlin geboren wurde.
Von einer wunderschönen Kindheit war da die Rede, von Märchenplatten und Kakao trinken, von einem sozialen Umgang und dem Gefühl des Aufeinanderangewiesenseins. Den meisten Ostdeutschen behagt diese hier gezimmerte Realitätskulisse sicherlich, so auch der jungen Schauspielerin. Dann aber fordert sie, dass von der DDR doch mehr bleiben müsse als das Ampelmännchen: "Träume, Ideale, politische Gegenmodelle". Was immer das heißen mag, ich für meinen Teil hätte die junge Schauspielerin gern gefragt, ob damit auch die unglaubliche Kraft des Nein-Sagens verbunden ist, der Mut zum Aufsässigen, der Wille zur Freiheit in einer Diktatur.
Spätestens an dieser Stelle wird man, so habe ich gehört, in den neuen Ländern häufig korrigiert. Es klinge doch zu hart, das Wort Diktatur. Die lebensweltlichen Umstände der DDR sind im alltäglichen Gedächtnis so geschickt und vor allem gemütlich konserviert worden, dass es schwer fällt, der Erinnerung an ein cleveres Über-die-Runden-Kommen die Kapitel von menschenverachtender Repression hinzuzufügen. Da ist zum Beispiel eine andere junge Frau, ebenfalls 24 Jahre alt, die ihr letztes Lebensjahr in der Strafvollzugsanstalt Waldheim zubringen muss und 1954 an ihre Eltern schreibt: "Man muss wohl erst Abstand von sich selbst und von den Dingen um uns gewonnen haben, um bereit zu sein für das, was uns bestimmt ist; dann wird auch die schwerste Probe, vor die uns das Schicksal stellt, uns immer fördern und niemals zurückwerfen können." Edeltraud Eckert heißt die Dichterin, die im Gefängnis dafür büßen muss, Flugblätter mit der Aufschrift "Für Freiheit und Demokratie" verteilt zu haben. Von ihr wird nachher noch die Rede sein. Wer sich solch gebrochenen Lebensläufe nähert, wer bereit ist, auch die Kammern der Finsternis auszuleuchten, um sein Bild von der DDR zu akzentuieren, wird die fiktive Welt des Kommunismus ganz verstehen.
Es wäre für unsere geeinte Nation fatal, wenn Generationen heranwüchsen, die an Mauer und Reiseverbot, Teilung und Zwangsumtausch, Befehle und normiertes Denken nur noch vage Erinnerungen haben oder zuwenig über diese Zumutungen vermittelt bekommen. Niemand muss sich als Ost-Hasser beschimpfen lassen, wenn er den Mut hat, den Finger in die offene Wunde der Vergangenheit zu legen.
Meine Damen und Herren,
wir denken, wir seien fertig mit der DDR und müssen doch immer wieder feststellen, dass unter den Schichten der Diktatur immer noch Zeugnisse von Repression und Willkür, aber auch Hoffnung lagern. Danach haben wir zu suchen! Das sind wir den Opfern schuldig. Deshalb bin ich sehr froh, dass Ines Geipel und Joachim Walther hinter eine zementierte literarische Realitätskulisse geschaut und dort Texte gefunden haben, die der offizielle Literaturbetrieb des Druckens nicht für würdig befand. Weil er Angst vor dem Wort hatte! Es wird deutlich, dass die ostdeutsche Literatur differenzierter und ambivalenter war, als wir bislang angenommen haben - obwohl wir doch glaubten, alles zu kennen.
Einschließlich der Bücher, die nur im Westen erschienen waren. Den Herausgebern geht es nicht nur darum, diesen unterdrückten, verhinderten und beschwiegenen Texten eine Öffentlichkeit zu geben, Ihnen ist die moralische Rehabilitierung der abgewiesenen Autorinnen und Autoren genauso wichtig. Ihre detektivischen Recherchen und die jetzt von der Edition Büchergilde herausgegebene Reihe sind ein Versuch, diese Autorinnen und Autoren dem geplanten Vergessen zu entreißen und ihnen etwas von ihrer Würde zurückzugeben.
Wenn wir heute, gerade auch nach dem Tod von Johannes Paul II. , soviel über Werte reden, dann fällt mir immer wieder auf, dass Mündigkeit, Toleranz, Individualität, unabhängiges Denken und geistige Autonomie als sehr selbstverständlich vorausgesetzt werden. Wir wissen, dass das vierzig Jahre lang nicht so war und wir sind dankbar, dass "Die verschwiegene Bibliothek" einen Einblick in die Schreibwerkstätten derer gibt, die sich ihre Persönlichkeit nicht brechen lassen wollten. Es wäre gut, wenn man von diesem Mut zur Individualität in einer verriegelten Gesellschaft den jungen Menschen berichten könnte, die die DDR mit Freudentänzen verabschiedet haben, ohne sie recht zu kennen.
Natürlich kommt es hier auf die Vermittler an, die bereit sind, die ostdeutsche Geschichte auch einmal abseits affirmativer Deutungen zu beleuchten. Weil es unser Ziel sein muss, die Geschichte von Opposition und Widerstand aus der Ecke der Dabeigewesenen zu holen, weil uns viel mehr einfallen muss, um die jungen Menschen - gerade auch in Ostdeutschland - zu erreichen. Deshalb ist es mein Wunsch, einen Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu schaffen. Wir brauchen einen aktiven Verbund der Bildungs- und Forschungsarbeit, der den Blick auf die andere DDR jenseits des Staatsbildes und die Erinnerung daran legt.
Ich verspreche mir davon eine neue Offenheit für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, aber auch eine Selbstvergewisserung demokratischer Tugenden.
Zum Beispiel auch, was es bedeutet, wenn das Wort wirklich frei ist. Für mich gehört es zu den wichtigsten Aufgaben eines solchen Geschichtsverbundes, den Spuren bedrohter und befehdeter Kunst zu folgen. Insofern bin ich der Stiftung Aufarbeitung sehr dankbar, dass sie das Archiv unterdrückter Literatur in der DDR aufnimmt und hoffentlich vielen Interessierten mit einer Reihe von Veranstaltungen zugänglich macht.
Die Stiftung Aufarbeitung krönt damit ihre wichtige Aufklärungsarbeit, die sie in mehr als eintausend Projekten und mit mehr als 17 Millionen Euro der politischen und ästhetischen Widerständigkeit in der vergangenen DDR angedeihen lässt. Dafür gebührt Ihnen Dank und höchster Respekt. Sie werden noch viel zu tun bekommen!
Meine Damen und Herren,
die literarische Parallelgesellschaft in der DDR wird zum gängigen Bild vom ostdeutschen Schreiben und ihrer Rezeptionsgeschichte hinzugerechnet werden müssen. Hier geht es nicht um trotzige Behauptung, sondern um ein Plädoyer für die Vielfalt, zu der dieses Schreiben am Rand eben auch gehört. Ich kann mir gut vorstellen, was es bedeutete, zu schreiben, aber nicht veröffentlichen zu dürfen. Wir können uns aber nur schwer vorstellen, was es bedeutete, für ein paar Manuskriptblätter mit einer hohen Haftstrafe belegt worden zu sein. Einhundert Autorinnen und Autoren sind es wert, entdeckt und auch rezensiert zu werden. Ich danke Ines Geipel und Joachim Walther für ihre vierjährige Leidenschaft zum Sammeln, ich danke der Stiftung Aufarbeitung für das Bewahren und Öffnen dieses Schatzes, ich danke der Büchergilde Gutenberg für den Mut, sich auf diese Texte einzulassen und hoffe sehr, dass diese Bücher ein bereitwilliges, erstauntes und zum Nach- wie Umdenken fähiges Publikum finden.