Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 13.04.2005

Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Frau Ministerin, liebe Renate Schmidt, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/10/815910/multi.htm


Familienpolitik war in der Vergangenheit häufig ein Thema, das nur Fachzirkel und die Fachleute in den Fraktionen und politischen Parteien berührte. Heute wissen wir - oder sollten jedenfalls wissen - , dass eine gute Familienpolitik und eine gute nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes untrennbar zusammengehören. Familienpolitik ist längst nicht nur, aber auch eine ökonomische Frage. Familienpolitik ist nach meiner Auffassung jedoch weit mehr. Sie ist zuerst eine gesellschaftspolitische Frage. Kinder und Familien sind das soziale Fundament unserer Gesellschaft. Gerade weil die Menschen so zahlreiche, manchmal wirklich rasante Veränderungen erleben, lernen sie den Wert ihrer Familien immer wieder neu schätzen. Kinder und Familien geben Halt und Erfüllung. Kinder sind die Antwort nach dem Sinn der täglichen Plackerei.

Wenn wir in diesem Saal diese Einschätzung teilen - davon gehe ich aus - , dann müssen wir uns allerdings auch eine ganz und gar unbequeme Frage stellen - wir sollten uns aber nicht nur die Frage stellen, sondern auch eine Antwort darauf finden - : Weshalb hat es uns so wenig interessiert und berührt, dass wir in 40 Jahren von einem Land des Kinderreichtums zu einer Republik des Kindermangels geworden sind? Seit dem Jahr 1964 hat sich die Zahl der Neugeborenen in Deutschland halbiert, und zwar von rund 1,4 Millionen auf heute etwa 700.000 pro Jahr. Lange Zeit glaubte man, dass Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mit dieser Entwicklung nichts zu tun hätten - besser: nichts zu tun haben dürften. Wie viele Kinder geboren wurden, das wurde als reine Privatangelegenheit betrachtet. Das ist im Kern auch richtig. Die Entscheidung für oder gegen ein Kind ist immer zuallererst eine persönliche Frage. Aber die Konsequenzen aus 40 Jahren Kindermangel werden die Zukunft unseres Landes ganz erheblich verändern und das Leben eines jeden einzelnen Menschen prägen. In einem Land mit weniger Kindern und erheblich mehr älteren Menschen müssen wir die Solidarität zwischen den Generationen neu verhandeln und neu austarieren.

Meine Damen und Herren, wir haben in den vergangenen Jahren die Kinder- und Familienpolitik in den Mittelpunkt unserer Arbeit gerückt. Ich verstehe sie als eine der wichtigsten Querschnittsaufgaben, die jedes Ressort und jedes Politikfeld angeht. Vor allem aber - das zeigt sich auch an diesem Kongress - nehmen wir die ökonomische Dimension von Familienpolitik weit stärker als in der Vergangenheit wahr. Kinder sind unsere Zukunft. Das ist nicht nur so daher gesagt, sondern auch ökonomisch ohne jeden Zweifel richtig. Sie sind mehr als das, aber auch Arbeitskräfte, Konsumenten und vor allen Dingen die Eltern von morgen. Mit jedem Kinderwunsch, der in unserem Land - aus welchen Gründen auch immer - unerfüllt bleibt, geht der nächsten Generation ein möglicher Leistungsträger verloren. Jedes Land braucht die Erfahrung der Älteren, vor allen Dingen aber auch die Neugier, den Veränderungsdrang und die Dynamik einer jungen Generation.

Unsere Zukunft - also die wirtschaftliche Kraft des Landes, die Sicherheit der Altersvorsorge und die Lebensfähigkeit aller Regionen - liegt in unseren Kindern und darin, ob und wie wir es ihnen ermöglichen, ihre Talente und Fähigkeiten für sich, aber auch für die Gesellschaft, die Gemeinschaft, zu nutzen. Deshalb wird es in der anbrechenden Wissensgesellschaft für unser Land zu einer strategischen Aufgabe ersten Ranges, wie viele Kinder hier geboren werden, und ebenso, wie gut wir jedes einzelne von ihnen ausbilden und auf das Leben nach dem Kindsein und nach der Schule vorbereiten. Das ist eine Aufgabe, die Politik, Wirtschaft und alle anderen Gruppen der Gesellschaft gleichermaßen angeht.

Ich freue mich sehr, dass die Wirtschaft beginnt, sich auf diese Veränderungen wirklich einzustellen. Ich denke - das sage ich mit großer Freude und großem Respekt und Anerkennung - , dazu hat nicht zuletzt der beherzte Einsatz von Renate Schmidt beigetragen. Sie hat in den vergangenen Jahren in den Köpfen vieler Unternehmer den Gedanken verankert, dass betriebliche Familienpolitik - wie sie sagt - "kein weiches Weiberthema", sondern konkretes und langfristiges Handeln für eine gute Zukunft unsers Landes ist. In vielen Unternehmen setzt sich die Erkenntnis durch, dass es sich sogar betriebswirtschaftlich rechnet, auf die Belange von Familien Rücksicht zu nehmen; denn nur Mütter und Väter, die ihre Kinder tagsüber gut betreut wissen, können sich mit ganzer Kraft auf ihre Arbeit konzentrieren. Flexible Arbeitszeiten und eine familienfreundliche Personalpolitik sind also im wahrsten Sinne des Wortes ein gutes Geschäft, weil beide Seiten profitieren.

Von einer familienfreundlichen Haltung in den Betrieben profitieren aber auch der Staat und die Sozialversicherungsträger. Je mehr Mütter und Väter sich am Erwerbsleben beteiligen können, umso mehr Steuern und Sozialabgaben werden geleistet. Gleichzeitig sind weniger Aufgaben für soziale Leistungen notwendig. Es geht aber nicht nur um nackte Zahlen. Es geht in erster Linie um Menschen. Jede allein erziehende Mutter, die sich und ihre Kinder durch Arbeit aus der Sozialhilfe oder dem Arbeitslosengeld befreit, nützt nicht nur den Sozialkassen. Sie stabilisiert damit vielmehr ihr Selbstwertgefühl sowie das Selbstbewusstsein und die Entwicklung ihrer Kinder.

Meine Damen und Herren, auch das stark gestiegene Interesse an dem Unternehmenswettbewerb "Erfolgsfaktor Familie" zeigt, dass sich Familienfreundlichkeit längst zu einem harten Wirtschaftsthema entwickelt hat. Gegenüber dem Wettbewerb im Jahr 2000 sind diesmal fünf Mal so viele Bewerbungen zu verzeichnen. Wir werden die Preisverleihung am 24. Mai bewusst im Kanzleramt vornehmen, um deutlich zu machen, dass das Thema für uns alle einen hohen Stellenwert genießt. Aber wir sollten auch festhalten: In vielen Betrieben gehört die Rücksichtnahme auf die Belange von Familien leider noch nicht zur Unternehmensphilosophie oder Unternehmensstrategie. Flexible Arbeitszeiten und Teilzeitmodelle, besonders für Frauen, sind heute zwar fast überall Standard; Unterstützung indessen bei der Kinderbetreuung findet sich immer noch zu selten. Ich sage das übrigens nicht, um von der Verpflichtung des Staates auf allen Ebenen für Kinderbetreuung abzulenken. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass insbesondere Sie als Arbeitgeber mithelfen können und müssen, den dringend notwendigen Ausbau der Kinderbetreuung voranzutreiben.

Die lokalen Bündnisse für Familien sind dafür eine hervorragende Plattform. Dort bringen Kommunen zusammen mit Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und anderen Partnern die Zukunftsthemen Bildung und Betreuung voran. Mehr als 140 solcher lokalen Bündnisse gibt es bereits, und ich halte das für einen ganz großen Erfolg. Der Ansatz der freiwilligen Einsicht und Selbstverpflichtung spiegelt sich auch in der "Allianz für die Familie" wider. Ich danke Ihnen ausdrücklich, sehr geehrter Herr Präsident Dr. Hundt, dass Sie diese Initiative so engagiert unterstützen. Sie hilft, Deutschland zu einem kinder- und familienfreundlichen Land zu machen.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat in der Kinder- und Familienpolitik einen bedeutsamen Paradigmenwechsel vorgenommen. In den ersten Jahren nach 1998 haben wir die finanziellen Leistungen für Familien in einem Maße erhöht, wie das seit Bestehen der Bundesrepublik ohne Vergleich ist. Wir haben das Kindergeld um 40 Euro auf 154 Euro pro Kind angehoben. Mit Steuersenkungen und höheren Freibeträgen haben wir dafür gesorgt, dass ein Durchschnittsverdiener mit zwei Kindern rund 2.000 Euro pro Jahr mehr zur Verfügung hat. Mittlerweile stehen wir, was die reinen Geldleistungen für die Familien angeht, in Europa ganz weit oben. Das ist gewiss gut, aber allemal kein Anlass zur Zufriedenheit. Denn auf die Geburtenrate in Deutschland hat das - zumindest noch - keine Auswirkungen. Sie liegt bei uns deutlich niedriger als zum Beispiel in den skandinavischen Ländern oder auch in Frankreich.

Wir müssen uns also fragen: Woran liegt es, dass jedes Jahr zigtausende junge Frauen und Männer in Deutschland ihre Kinderwünsche mindestens verschieben? Wir wissen: Viele fürchten den Verdienstausfall eines Elternteils nach der Geburt. Und vor allem Frauen im Westen haben Angst - leider zu Recht - , dass sie wegen fehlender Betreuungsplätze nur schwer oder gar nicht wieder in ihren Beruf zurückkehren können. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass sich eine junge Frau gegen ein Kind entscheidet, nur weil sie vor der Alternative "Kind oder Karriere" Angst haben muss. Wir dürfen auch nicht zulassen, dass eine Familie mit Normaleinkommen sagen muss: Wenn wir ins Portemonnaie schauen, dann müssen wir auf ein Kind verzichten. Das bedeutet: Die Familienpolitik der Zukunft muss Rahmenbedingungen schaffen, bei denen sich mehr Menschen ihre Kinderwünsche erfüllen können.

Ich bin fest davon überzeugt: Eltern brauchen mehr Infrastruktur statt einfach mehr Geldscheine. Deswegen hat die Bundesregierung gehandelt. Als Konsequenz nicht zuletzt aus der PISA-Studie haben wir ein Programm aufgelegt, mit dem wir den Bau von Ganztagsschulen mit 4 Milliarden Euro über vier Jahre hinweg anschieben. Mit der Hartz IV-Reform - gelegentlich zu Unrecht diskreditiert - haben wir die Kommunen auf Dauer um mindestens 2,5 Milliarden Euro pro Jahr entlastet. Wir erwarten, dass 1,5 Milliarden Euro davon in den Ausbau der Tagesbetreuung für die unter Dreijährigen investiert werden. Das ist übrigens keine Einmischung in fremde Zuständigkeiten, und ich verstehe die Beschwerden mancher Ministerpräsidenten deswegen überhaupt nicht. Jeder weiß: Die meisten Ganztagsschulen, die jetzt entstehen, hätte es ohne die Anschubfinanzierung des Bundes nicht gegeben. Es geht aber nicht, sich auf der einen Seite zu beklagen, man hätte zu wenig Geld für die Schulen, und auf der anderen Seite dann die Annahme von Unterstützung zu verweigern, nur weil sie von der Bundesregierung kommt.

Meine Damen und Herren, wir müssen eine Verbesserung der Kinderbetreuung erreichen. Ob alle sinnvollen und dazu geeigneten Vorschläge bereits ausgewertet sind, das will ich nicht bewerten. Ich glaube es im Übrigen nicht. Der Blick über die deutschen Grenzen hinaus ist jedenfalls nicht verboten. Die Frage, wie andere den verhängnisvollen Trend zu immer weniger Kindern gestoppt haben, ist nicht verboten, sondern geboten. Schweden und Dänemark haben mit der Einführung eines Elterngeldes als reale Lohnersatzleistung während des ersten Lebensjahres des Kindes gute Erfahrungen gemacht. Mehr erwerbsfähige Frauen entscheiden sich für ein Kind, und mehr Väter nutzen die Möglichkeit, an der Erziehungsarbeit teilzuhaben. Insoweit begrüße ich die von Bundesministerin Renate Schmidt angestoßene Diskussion, auch wenn ich sehe, dass es noch Klärungsbedarf in dieser Frage gibt. Wir müssen auf jeden Fall die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter verbessern. Denn noch nie hat es eine Generation so gut ausgebildeter und hoch qualifizierter Frauen gegeben. Es ist eine schlimme persönliche Ungerechtigkeit, wenn erstklassig ausgebildete Frauen gegen ihren Willen nicht arbeiten können, nur weil es keine Betreuungsmöglichkeiten gibt. Aber es ist auch eine volkswirtschaftliche Verschwendung. Denn für die Unternehmen, die sich schon jetzt oder in wenigen Jahren um knappe Spitzenkräfte sorgen, sind diese Frauen auch qualifizierte Arbeitskräfte der Zukunft.

Meine Damen und Herren, jedes Kind hat den Anspruch, eine bestmögliche Förderung und eine bestmögliche Ausbildung zu erhalten, und zwar unabhängig, aus welcher sozialen Schicht es kommt. Noch immer - das hat die PISA-Studie leider auch vor Augen geführt - entscheidet häufig die soziale Herkunft über den Lebensweg. Ich unterstreiche hier: Alle Kinder brauchen eine faire Chance auf einen guten Schulabschluss, egal ob sie aus einem Professoren- oder einem Arbeiterhaushalt kommen. Davon profitiert nicht zuletzt die Wirtschaft. So brauchen besonders die Kinder, bei denen zu Hause wenig gesprochen wird und bei denen kein Buch steht - und das gibt es - , eine frühe Förderung. Gerade diese Kinder brauchen andere Kinder, um soziale Kompetenz zu erwerben. Sie brauchen Hilfe, um ihre Talente zu entwickeln. Sie brauchen vor allem Sprachförderung. Denn wer bis zum ersten Schultag die deutsche Sprache nicht beherrscht, der ist praktisch schon dazu verurteilt, sich später im Leben höchstens mit Gelegenheitsjobs durchschlagen zu müssen.

Manche wenden an dieser Stelle ein, der Staat habe bei der Erziehung der Kinder nichts verloren. Darauf entgegne ich: Wir wollen alles andere als eine Verstaatlichung der Erziehung. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es heute bedauerlicherweise Elternhäuser gibt, in denen die Kinder ohne die Hilfe des Staates keine Chance auf Entwicklung und Förderung haben. Diese Eltern brauchen Unterstützung, ohne dass man ihnen Beziehungsarbeit nicht abverlangte. Manchmal bedeutet dies, dass ihre Kinder in Ganztagskindergärten oder Ganztagsschulen außer warmen Mahlzeiten auch jene Zuwendung und Anregung bekommen, die ihnen bedauerlicherweise zu Hause fehlt. Deshalb sind Investitionen in die Bildung und Erziehung der Kinder ganz herausragende Zukunftsinvestitionen.

Meine Damen und Herren, ich halte es auch für wichtig, dass alle Schüler über Werte und ethische Fragen in der Schule unterrichtet werden. Ich stimme - auch wenn das den einen oder anderen stört - dem Ratsvorsitzenden der EKD, Herrn Bischof Huber, ausdrücklich zu: Im Schulalltag sollte die Wahlmöglichkeit bestehen, dass Kinder und Jugendliche entweder ihre eigene Religion bekenntnisgestützt kennen lernen oder sich neutral über Werte und Religionen informieren können. Diese Frage liegt in der Kompetenz der Länder, die dies in einem engen Dialog mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften regeln sollten. Einsame Entscheidungen sind ganz und gar verzichtbar in dieser Frage.

Meine Damen und Herren, wir wollen Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts zu einem familienfreundlichen Land in Europa machen. Ich betone ausdrücklich: Auch dieses Ziel gehört zur Agenda 2010. In meiner Regierungserklärung vom 17. März habe ich deutlich gemacht, dass die Agenda 2010 konsequent weitergeführt wird. Wir werden die Unternehmen weiter entlasten und damit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stärken. Denn das ist ein Ziel. Wir haben nichts zu verschenken, und wir wollen nichts verschenken. Aber wenn man sich umschaut: Um uns herum besteht die Notwendigkeit, diese Maßnahmen durchzusetzen, weil wir ansonsten Wettbewerbsfähigkeit verlören. Ich gehe davon aus, dass wir es schaffen werden, das, was vereinbart worden ist, nicht als eine taktische Manövriermasse im demokratischen Machtkampf zu missbrauchen, sondern Wirklichkeit werden zu lassen. Das ist die Aufgabe, die vor uns steht. Ich jedenfalls werde mich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass wir hier erfolgreich sind. Wir werden die Unternehmen weiter entlasten und auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit stärken. Denn sie muss sich im globalen Wettbewerb behaupten können.

Aber wir werden auch zeigen, dass die Agenda 2010 keine Anstrengung ist, die sich nur für die Wirtschaft auszahlt. Wir wollen, dass die Agenda 2010 auch für die Familien dieses Landes eine wirklich spürbare Dividende erbringt. Dies kann uns nur in einer gemeinsamen Anstrengung aller gesellschaftlichen Kräfte gelingen. Auch jeder Handwerker, jeder Mittelständler oder Konzernmanager kann und muss seinen Beitrag dazu leisten, dass wir ein Land werden, in dem Kinder und Familien willkommen sind. Denn ich betone noch einmal: Investitionen in Kinder und Familie sind Investitionen für unsere gemeinsame Zukunft, aber erst recht für die Zukunft jener Generationen, die nach uns kommen.