Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 17.04.2005
Anrede: Lieber Friedhelm Vogt, lieber Peer Steinbrück, lieber Werner Müller, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/93/817393/multi.htm
Es gibt im Bergwerg West, so habe ich mir sagen lassen, eine gute Tradition, nämlich die Tradition, Politiker zu Betriebsversammlungen einzuladen und ihnen die Aufgabe zu stellen, etwas über die Gegenwart, vor allem aber über die Zukunft der deutschen Steinkohle zu sagen. In den vergangenen Jahren hat sich eine Menge verändert. Sowohl Peer Steinbrück als auch Werner Müller haben darauf hingewiesen. Das internationale Umfeld, was Energiepolitik und die Rohstoffversorgung Deutschlands angeht, hat sich verändert. Dabei gibt es eine enge Beziehung zwischen der Energiepolitik im engeren Sinne einerseits und der Rohstoffpolitik andererseits, auf die ein Land Wert legen muss, das industriell so wie unseres beschaffen ist. Die globalen Rahmenbedingungen für die Rohstoffversorgung haben sich in der letzten Zeit wirklich stark verändert. Es dringen eben nicht nur neue Nachfrageländer wie China und Indien auf die Märkte. Es ist schon schwierig genug, damit umzugehen, wenn die Märkte fast zu allen Preisen - übrigens gelegentlich, das muss man auch einmal kritisch anmerken, staatlich subventioniert - leer gekauft werden. Aber so funktioniert internationale Marktwirtschaft. So sollte sie nur nicht funktionieren, was die verdeckten oder offenen Subventionen angeht; denn das ist von den WTO-Regelungen her eigentlich nicht erlaubt.
Aber es gibt noch einen anderen Punkt, nämlich den, dass der Kreis der Lieferanten in der Rohstoffversorgung kleiner geworden ist, dass die Oligopolisierung oder gar Monopolisierung der Märkte zunimmt und dass Preise von daher natürlich nicht in dem Sinne unter Druck geraten, dass sie fallen, sondern in dem Sinne unter Druck geraten, dass die Rohstoffversorgung teurer wird. Wir haben in den vergangenen Monaten gesehen, wie sensibel die Märkte auf diese Verschiebungen reagieren. Für wichtige Rohstoffe mussten im vergangenen Jahr Höchstpreise wie nie zuvor gezahlt werden. Natürlich hat das Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum bei uns. Ein Land, das so abhängig von der Rohstoffversorgung ist und das eine so breite industrielle Struktur hat, ist natürlich besonders von der eben gekennzeichneten Entwicklung betroffen. Ich erwähne das, weil genau dies der Hintergrund für die energiepolitische Diskussion ist und weil - Peer Steinbrück hat darauf hingewiesen - genau dieser Hintergrund von den energiepolitischen Geisterfahrern aus CDU und FDP nicht verstanden wird. Er müsste aber verstanden werden, wenn man nicht nur an die Zukunft des Bergbaus, sondern an die Zukunft der industriellen Strukturen in Deutschland insgesamt denkt.
Mein Eindruck ist übrigens, dass die Öffentlichkeitsarbeit sowohl der Ruhrkohle AG als auch der Gewerkschaften genau diesen Punkt der Rohstoffversorgung in der letzten Zeit deutlich gemacht. Eure Arbeit und das Funktionieren des Unternehmens ist nicht Selbstzweck und hat nicht einmal nur den Zweck, Energieversorgung in Deutschland diversifiziert sicherzustellen, sondern hat auch den Sinn, die Rohstoffversorgung Deutschland sicherstellen zu helfen. Wir sind ein rohstoffarmes Land; das wissen wir. Deswegen müssen wir unsere Energieversorgung sicher machen, und zwar auf zwei Wegen. Der erste Weg betrifft die Frage: Wie sichern wir Rohstoffversorgung - speziell was Öl und Gas angeht - durch internationale Verträge? Wir kennen die Unsicherheiten in den Regionen, aus denen sehr wichtige Lieferanten kommen, z. B. aus dem Nahen Osten. Deshalb hat die Bundesregierung gesagt: Der verlässlichste Lieferant ist Russland. Darauf können wir uns verlassen, und das wird auch in Zukunft so bleiben. Wir wollen aber nicht nur Lieferbeziehungen zu diesem so wichtigen Land, sondern wechselseitige Beteiligungen aufbauen. Wir wollen dort an der Förderung beteiligt sein, und die russische Seite soll hier an der Distribution beteiligt sein. Solche Verträge sind auf der Hannover-Messe unterzeichnet worden.
Zweitens: Als rohstoffarmes Land sind wir verpflichtet, zu sagen: Die internationale Politik und die Außenwirtschaftspolitik Deutschlands müssen auch und gerade die Energieversorgung sichern. Aber gleichzeitig müssen wir unsere Rohstoffressourcen mit vertretbaren wirtschaftlichen Kosten im eigenen Land sichern. Beides gehört zusammen: eine vernünftige internationale Strategie, weil wir ohne diese nicht auskommen, und die Absicherung dessen, was wir haben, unter veränderten Bedingungen. Wenn wir diese Debatte vor fünf Jahren geführt hätten, dann hätten wir sie weitaus defensiver als jetzt führen müssen. Man kann diese Möglichkeit, dass wir jetzt darauf verweisen können, dass ein langer Atem gerade in der Energiepolitik richtig und wichtig ist, auch einmal nutzen, damit einem nicht der Vorwurf gemacht wird: Wenn du über diese Fragen redest, dann willst du Hubertus Schmoldt, Werner Müller oder euch, die ihr hier versammelt seid, einen Gefallen tun. Nein, ihr könnt mit Stolz und Selbstbewusstsein darauf hinweisen, dass das, was ihr tut, nicht durch staatliche Almosen finanziert wird, sondern dass es eine bittere Notwendigkeiten darstellt, die es jetzt gibt und auch in Zukunft geben wird. Das ist der Zusammenhang, der in die Köpfe der Menschen hinein muss, und die Chance war nie besser als jetzt, das auch zu schaffen.
Im engeren Sinne komme ich jetzt zu dem, was die Ruhrkohle AG interessiert. Wir haben uns gemeinsam mit Gewerkschaften und dem Land Nordrhein-Westfalen Ende 2003 auf den hier schon angesprochenen Rahmen geeinigt. Wir haben bewusst den längeren Zeitraum von 2006 bis 2012 gewählt, weil wir Planungssicherheit für das Unternehmen, aber vor allen Dingen natürlich für die Beschäftigten und die Menschen in dieser Region herstellen wollen und auch hergestellt haben. Wenn ich die Daten 2006 und 2012 nenne, dann wird das auch eingehalten. So, wie es in der Vergangenheit eingehalten worden ist, wird es auch in der nächsten Zeit eingehalten werden. Dabei wird es dann - auch durch die Umsetzung in klare Bescheide, was die notwendigen Zuwendungen angeht - natürlich um die Verfestigung der politischen Absicht gehen. Das steht nicht aktuell an, aber wir haben bewiesen, dass wir Willens und in der Lage sind, das einzuhalten, was wir vereinbart haben. Man muss übrigens darauf hinweisen, dass sich das Unternehmen nicht unerheblich an der Mitfinanzierung beteiligt. Dieser Anteil ist ständig gewachsen, und das war auch notwendig. Auch das will ich unterstreichen, damit deutlich wird, dass hier nicht nur die Hand aufgehalten wird, sondern dass ernsthafte wirtschaftliche Anstrengungen unternommen werden, um einen beachtlichen Eigenfinanzierungsbeitrag zu leisten. Was das bedeutet, ist vor allem von Friedhelm Vogt klar gemacht worden: Die Förderung wird noch einmal reduziert werden, auch mit Folgen für die Beschäftigten, aber das bleibt. Wir haben das so eingerichtet, dass betriebsbedingte Kündigungen jetzt überflüssig sind und auch in Zukunft überflüssig bleiben werden. Das gilt allerdings nur für die Ziffern, die wir vereinbart haben. Das würde sofort in sich zusammenbrechen, wenn man die kohlepolitischen Vorstellungen von Union und FDP, wenn man sie denn so nennen will, realisierte. Das ist klar: Diese Dinge, über Nacht realisiert, wären das Aus für den Bergbau. Aber es wäre eben auch wirtschaftspolitischer Unsinn, in diesen Zeiten auf ein Stück Versorgungssicherheit zu verzichten.
Das heißt also, nicht nur der Bergleute und des Unternehmens wegen, sondern, um in Deutschland, was die Versorgungssicherheit angeht, nicht völlig von den Märkten abhängig zu werden, braucht man auch diesen Teil einer vernünftigen Strategie. Wer ihn - wie die Union und FDP - in diesem Land, aber auch darüber hinaus in Frage stellt, dem muss man ganz kühl, aber auch ganz klar sagen: Ihr arbeitet gegen die Zukunft Deutschlands auf dem Gebiet der Energie- und Industriepolitik. Ihr arbeitet gegen unsere Zukunft. Wer das tut, der ist nicht geeignet, Verantwortung in diesem Land zu übernehmen. Die Beschäftigten haben einen gewaltigen Anpassungsprozess erfolgreich hinter sich gebracht. Übrigens sollte man den Schreihälsen auf der anderen Seite auch einmal sagen: Ich halte es für einen Vorteil, wenn sich solche Anpassungen an internationale Entwicklungen in der Wirtschaft, die auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betreffen, so vollziehen, wie das bei Kohle und Stahl in unserem Land gelaufen ist. Es gibt Länder, in denen das, was die sozialen Konflikte angeht, auf der Straße stattfindet. Das sollten wir uns nicht als Modell aufdrängen lassen von denen, die meinen, man könne ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland führen, ohne soziale Gesichtspunkte sensibel wahrzunehmen.
Das Unternehmen Ruhrkohle AG selbst hat große Anstrengungen unternommen, diesen Anpassungsprozess auch unternehmensintern vernünftig zu gestalten. Jetzt stehen die Integration der Degussa und die Anpassungen im Bergbau selbst bevor oder sind mitten im Gange. Politik, Arbeitnehmervertretern und Unternehmensführung ist es bisher gelungen, das vernünftig zu regeln. Wenn es nach mir geht, dann wird dieser Kurs weitergefahren und eben nicht geändert werden. Die Ruhrkohle AG sucht jetzt nach neuen Wegen, um Koks und Kokskohle langfristig sicher und günstig bereit zu stellen. Andere Unternehmen tun das auch. Ich höre das von ThyssenKrupp, und es ist ja nichts Schlechtes, wenn die vereinbaren, Kokerei in Deutschland, nicht nur woanders, aufzubauen. Das ist eine willkommene Investition - der Ministerpräsident hat es gesagt - und stärkt die Arbeitsplätze im Bergbau und in der deutschen Stahlindustrie. Ich finde es richtig, wenn Werner Müller für sein Unternehmen ankündigt: "Wir werden das Gleiche machen". Ich habe natürlich genau zugehört, was er, was diese Zukunftspläne angeht, sagen würde. Er hat "beihilfefrei" gesagt. Das ist also eine unternehmerische Entscheidung. Es geht dabei - das unterstreiche ich ausdrücklich; denn das muss ich schon - nicht um eine zusätzliche Kohlehilfe des Staates. Wir reden hierbei von einer unternehmerischen Aufgabe, die das Unternehmen selbst darstellen will. Im Interesse des Unternehmens und der Beschäftigten in der Stahlindustrie und in der Stahlverarbeitung liegt es, dass man sich bald handelseinig wird. Peer Steinbrück hat das Notwendige dazu gesagt, was dieses Land unter seiner Führung tun wird, damit aus seinem Plan schnell Wirklichkeit wird.
In diesem Zusammenhang und auch im Zusammenhang mit der Unternehmensstrategie sowie einer Verbesserung der Beweglichkeit des Unternehmens - auch, was die finanziellen Ressourcen angeht - muss man die sympathische Idee der Ruhrkohle AG sehen, durch einen Börsengang den Zugang zum Kapitalmarkt zu eröffnen. Klar ist: Realisiert werden kann das nur, wenn zuallererst die Eigentümer des Unternehmens zu diesem Konzept stehen. Ich füge für mich persönlich hinzu: Das kann nicht gegen, sondern muss mit der zuständigen Gewerkschaft und den Vertretungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besprochen werden. Daneben muss die Steinkohleförderung auch für die Zukunft finanziell gesichert bleiben. Es muss also faire Bedingungen für alle Beteiligten geben. Für den Bund bedeutet das volle Kompensation für die angedachte Übernahme künftiger Verbindlichkeiten. Aber ich betone ausdrücklich und bin darin völlig einig mit Peer Steinbrück: Unter diesen Voraussetzungen positiv über einen Börsengang zu reden, ist in Ordnung. Soweit ich weiß, haben das auch die Eigentümer der Ruhrkohle AG erklärt. Die Diskussion über diesen Schritt zeigt aber durchaus auch, wie weit die Neuausrichtung des Unternehmens im Sinne der Beschäftigten und zu Gunsten des Unternehmens fortgeschritten ist. Man kann den Verantwortlichen wirklich nur wünschen, dass das auch in Zukunft mit dieser Dynamik weitergehen wird.
Für die Energiepolitik der Bundesregierung gilt: Die Sicherheit der Energieversorgung steht gleichberechtigt neben den Zielen der Wettbewerbsfähigkeit und der Umweltverträglichkeit. Es ist auch so eine Legende, dass es die Bergleute nicht interessierte und ihnen völlig egal sei, was mit dem Umfeld, in dem sie leben, passiert. Sie haben ein Interesse daran, die Lebensgrundlagen zu erhalten. Sie wollen, dass auch ihre Kinder und deren Kinder eine lebenswerte Zukunft haben, und das geht nur, wenn es zu einem immer wieder neu herzustellenden vernünftigen Kompromiss zwischen den ökonomischen Notwendigkeiten und den wirklichen - nicht nur den von einigen Gruppen angedachten - umweltpolitischen Notwendigkeiten kommt. An einem solchen Kompromiss mitzuarbeiten, ist die Aufgabe von Politik, aber auch von Gewerkschaften und Unternehmensführungen.
Wir haben Herausforderungen vor uns. Die sind nicht neu, aber schon gewaltig. Ein großer Teil des Kraftwerkparks in Deutschland, speziell in Nordrhein-Westfalen, muss modernisiert werden. Übrigens muss auch in die Netze investiert werden. Experten gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2020 rund 40.000 Megawatt an Kraftwerksleistung gebaut bzw. erneuert werden müssen. Damit ist - der Ministerpräsident hat darauf hingewiesen - ein gewaltiger Investitionsbedarf verbunden: 5 Milliarden Euro allein in Nordrhein-Westfalen, 20 Milliarden Euro in Deutschland. 20 Milliarden Euro müssen in Deutschland in den Netzausbau und in die Modernisierung der Kraftwerke investiert werden. Das hilft, Arbeitsplätze abzusichern und neue zu schaffen. Deswegen wollen wir das auch schnell umsetzen. Es war nicht einfach, ein modernes Energiewirtschaftsrecht auf den Weg zu bringen. Aber wir haben das in den vergangenen Monaten harter Arbeit hinbekommen, seinerzeit noch von Werner Müller vorbereitet und von Wolfgang Clement zu Ende gebracht. Ich hoffe nur, dass der Bundesrat grünes Licht dafür geben wird, dass diese Investitionen schnell Wirklichkeit werden können. Das hat nämlich mit den Notwendigkeiten zu tun. Ich denke, dass das ein großer Erfolg ist und auch zu großen Hoffnungen Anlass gibt. Wie ich gehört habe, befindet sich unter den Investitionsprojekten ein Steag-Kraftwerk in Walsum und auch andere Kraftwerke in Nordrhein-Westfalen. Damit ist und bleibt Nordrhein-Westfalen das Energieland Nummer 1 in Deutschland.
Ich finde, dass man auch einmal sagen sollte, dass diese Investitionen auch ein gewaltiges Klimaschutzprogramm darstellen. Wenn man einmal auf die Entwicklung sieht, sich die Wirkungsgrade deutscher Steinkohle- und Braunkohlekraftwerke anschaut und sie mit den Wirkungsgraden der Kraftwerke in anderen Ländern vergleicht - z. B. in China, aber auch in Indien - , dann weiß man, was das bedeutet und welch gewaltigen Beitrag zum Klimaschutz es bedeutet, wenn wir diese Kraftwerke entwickeln. Wir sollten alles daran setzen, die bei uns entwickelten und installierten Kraftwerke so beispielhaft zu machen, dass sie im Sinne unserer Außenwirtschaft, aber auch des Klimaschutzes in China und woanders verkaufbar sind. Auch das ist ein Aspekt, der nicht gering geschätzt werden sollten. Wir werden darüber hinaus - das steht nicht in Konkurrenz zur Kohle - zusehen müssen, dass wir auf der einen Seite die Energieeffizienz immer weiter erhöhen - das gilt quer für alle Energieträger - und auf der anderen Seite auf die alternativen Energieträger setzen. Auch dabei ist Nordrhein-Westfalen führend.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will über dieses Thema hinaus nur sagen: Sie haben verlässliche Partner in der Landesregierung und in der Bundesregierung. Das sind Partner, die deshalb verlässlich sind, weil sie im Kopf wissen und davon überzeugt sind, dass wir diese Form der Energieversorgung brauchen, aber weil sie auch im Herzen davon überzeugt sind, dass Sie, die Kolleginnen und Kollegen im Bergbau, gebraucht werden. Dort, wo beides zusammenkommt, nämlich Kopf und Herz, kann es eigentlich nur gut gehen, und dort, wo beides fehlt, kann man eigentlich nur sagen: Man muss sich nicht groß darum kümmern; davon kann nichts Gutes kommen. Genau das würde sich sehr schnell herausstellen.
Ich will, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch ein paar Bemerkungen zum Umfeld machen, in dem sich das innenpolitisch vollzieht. Wegen zwei großer Herausforderungen, die in den 90er-Jahren nicht hinreichend gesehen wurden, stehen wir vor enormen Entscheidungen und auch enormen Schwierigkeiten. Die eine Herausforderung ist die Globalisierung; über die Internationalität der Märkte habe ich geredet. Die andere ist ein radikal veränderter Altersaufbau unserer Gesellschaft, der Druck auf unsere gesellschaftlichen Formationen und die sozialen Sicherungssysteme ausübt. Mir kommt es darauf an, dass Menschen wie Sie, die Anpassungsleistungen hinter sich haben, verstehen, dass diese beiden Dinge - Globalisierung der Wirtschaft und radikal veränderter Altersaufbau - dazu führen mussten, dass wir die sozialen Sicherungssysteme diesen Entwicklungen anpassen. Ich weiß, wie schwer das manch einem gefallen ist, als die Entscheidungen getroffen werden musste. Inzwischen - das ist mein Eindruck - beginnt man zu verstehen, dass wir es nicht hinnehmen konnten, dass 2003 im Krankenkassenbereich Verluste in Höhe von 2,5 Milliarden Euro gemacht wurden, übrigens auch zu Lasten der Beitragszahler. Nach der Reform gab es bei den Krankenkassen einen Überschuss in Höhe von 2,5 Milliarden Euro - mit der Folge, dass die Beiträge sinken können. Das musste gemacht werden. Ansonsten wären die Systeme irgendwann zusammengebrochen. Das Gleiche gilt bei der Altersvorsorge. Wir mussten eine private Vorsorge neben die weiterhin sinnvolle und notwendige Umlagefinanzierung stellen. Wir mussten, was den Arbeitsmarkt angeht, gewiss sagen: Diejenigen, die in die Sozialhilfe geschoben worden sind, obwohl sie arbeitsfähig sind, mussten da heraus. Sie müssen qualifiziert werden und Jobs annehmen, auch wenn sie ihnen nicht immer zumutbar erscheinen. Kein Staat, der sich Sozialstaat nennen will, kann und darf es sich erlauben, gerade junge Leute ihr Leben lang in der Perspektivlosigkeit der Sozialhilfe zu belassen.
Ich weiß, dass man über einzelne Maßnahmen aus guten Gründen reden kann. Aber ich habe die herzliche Bitte, dass verstanden wird, dass wir das nicht getan haben, weil wir auf einmal unser soziales Herz vergessen hätten. Sondern dass wir das tun mussten, weil Sozialstaatlichkeit unter radikal veränderten wirtschaftlichen Bedingungen wie auch unter den Bedingungen eines anderen Altersaufbaus unserer Gesellschaft nur über Veränderungen und nicht ohne Veränderungen zu sichern ist. Das will ich deutlich machen und mit der Bitte verbinden, bei aller Kritik an Einzelheiten, die die Gewerkschaften deutlich machen, die wir zur Kenntnis nehmen und die wir auch in unsere Debatten aufgenommen haben, zu sagen: Der Grundkurs, soziale Sicherheit durch Veränderung auch für unsere Kinder zu gewährleisten, ist richtig.
Eine letzte Bemerkung in diesem Zusammenhang: Wir haben das Zerstören der Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften abgewehrt, und wir werden es weiterhin abwehren, und zwar auch wieder aus ganz rationalen Erwägungen. Warum? - Ich bin fest davon überzeugt, dass die betriebliche wie die überbetriebliche Mitbestimmung in vielen Krisensituationen, die es in Deutschland und nicht nur im Bergbau gegeben hat, dazu geführt hat, dass wir die Konflikte in unserem Land innenpolitisch friedlich austragen konnten. Ich gehöre zu denjenigen, die sagen: Der Preis dafür ist die Beteiligung der Menschen nicht nur am erarbeiteten Wohlstand, sondern auch an den Entscheidungen in unserer Gesellschaft. Wer diese Beteiligung im Prinzip auflösen will, der begeht einen folgenschweren Irrtum. Der wird nämlich erleben, dass die nicht weniger werdenden Konflikte der Zukunft deutlich unfriedlicher ausgetragen werden. Dagegen steht ein Bollwerk von Menschen, die um den Wert der Entscheidungsbereitschaft und der Entscheidungsfähigkeit der Betriebsangehörigen wissen und die um den Wert sozialen Friedens wissen, auch und gerade in Krisenzeiten.
Das ist es, verehrte Kolleginnen und Kollegen, was uns letztlich eint und was gut für dieses Land ist. Alle, die das in der Art und Weise, in der das in Punkto Kohlepolitik in diesem Land geschieht, in Frage stellen, dürfen keine Möglichkeit bekommen, an politisch verantwortlicher Stelle eine Politik umzusetzen, die gegen die Interessen der arbeitenden Bevölkerung in diesem Land gerichtet ist.