Redner(in): Christina Weiss
Datum: 19.04.2005

Untertitel: Zur Verabschiedung von Uwe Kammann, epd-Medien, sprach Staatsministerin Weiss am 19. April 2005 im Französischen Dom am Gendarmenmarkt in Berlin über die Rolle der Medienkritik in den neuen Informationsmitteln und die Vermittlung von Kultur im Fernsehen.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/86/818286/multi.htm


man mag sich fragen, ob Uwe Kammann schwer daran getragen hat, dem kulinarisch fabelhaft beleumundeten Rheingau den Rücken zu kehren, um ins kulinarisch bislang unbeschriebene Marl aufzubrechen. Nach "Marl an der Grimme", um mit dem Umzieher zu sprechen. Es heißt doch, der Mann sei ein Genießer, frankophil obendrein und stilvoll sowieso. Vielleicht wusste er schon 1989, als er in der Süddeutschen Zeitung den Zusammenhang von Juryfreiheit und Magenbedrängnis erläuterte, dass der einzige Weg zum Grimme-Preis wohl nur über den Bauch führen kann und es kein Entrinnen vor der prosaischsten Form der Sättigung gibt. Nicht Salzstangen, Chips und Bier, also das, was in deutschen Haushalten zu einem ordentlichen Fernsehabend gehört, sondern belegte Brötchen - akkurat auf runden Platten angerichtet - Kuchen und Mangojoghurt - der Aludeckel muss noch abgezogen werden - begleiten den gehobenen Grimme-Juror bei seinem titanischen Werk. Und das seit Jahren!

Spätestens wenn Uwe Kammann den Weg der Jury zum Italiener mit dem Tropfsteinhöhleninterieur beschreibt, weiß man, dass die Verlockung anderswo ihren hell-süßen Klang verströmt. Schiller sagt: "Eine Leiter zu Gott ist die Liebe, sie fängt bei dem Essen / An, bei der höchsten Substanz hört sie gesättigt auf". Im allgemeinem Menü nach dem Nahrhaften zu suchen, nach der Substanz, nach dem, was den herrschenden Geschmack nicht nur kitzelt, sondern packt und rüttelt, das hat Uwe Kammann, der Medienkritiker, meisterlich verstanden. Ich weiß wovon ich rede, denn ich habe mit ihm in der Jury beim Karl Sczuka-Preis in Baden-Baden gesessen und nach den Meisterwerken der Radiokunst gefahndet. Abgelenkt nur vom Riesling, dem goldenen und den unübertroffenen badischen Hechtklößchen, von Topinambur ganz zu schweigen. Es ist diese unbedingte Suche nach Qualität, die Uwe Kammann etwas bedeutet, und die die Marken seines Weges bestimmt. Hier schließt sich für mich der Kreis zwischen epd und Grimme-Institut.

Meine Damen und Herren,

es verhält sich immer noch kompliziert mit der Medienkritik. Stets herablassend vom großen Bruder Feuilleton behandelt, ausgeschlossen sogar, heftig befehdet in den Zeiten, als die Umfänge der Zeitungen schrumpften, behauptet sich die Medienkritik doch stets, wird stärker, weil sie mehr als nur eine Ansammlung von Fernsehkritikern ist. Ich wage zu behaupten, dass die relevante Kritik, die emanzipierte Meinung und investigative Arbeit der Journalistinnen und Journalisten die Entwicklung unserer Mediengesellschaft entscheidend beeinflusst hat. Mehr noch: Durch diese Arbeit wurden uns gewahr, welche Vielfalt und welcher Wert hier zu verteidigen ist und wodurch er bedroht sein könnte. Das gilt in besonderer Weise für den Evangelischen Pressedienst, der in der Fachwelt zudem das besondere Siegel der Glaubwürdigkeit trägt.

Fast alles, was wir über die Welt erfahren, wissen wir aus den technischen Medien. Sie sind Medium für unsere Selbstvergewisserung - über unseren Standort, unsere Haltungen und am Ende unsere Entscheidungen. Zugleich sind sie Faktor - sie beeinflussen, ja sie bestimmen. Hinzu kommt: Medien spiegeln keine Realität, sondern konstruieren ein Bild von Realität - immer gebrochen vom eigenen Vorverständnis. Das gilt für die Auswahl der Themen, für die Perspektive der Bilder und selbstverständlich für den Inhalt der Texte.

Wer also verarbeiten und verstehen will, der braucht unbedingt kritische Begleitung. Die Fähigkeit, Produkte zuordnen und bewerten zu können, darauf kommt es an. Für Medienschaffende gilt das ebenso wie für die Nutzer. Hierüber zu wachen, der Transparenz in diesem Gewerbe aufzuhelfen und zu benennen, was der gesellschaftlichen Relevanz abträglich ist, darin besteht die schwierige Aufgabe der Medienkritik.

Obwohl es heute kaum mehr eine Qualitätszeitung ohne Medienseite gibt, und sei es manchmal auch nur eine halbe, sind die Bedingungen für Medienkritik nicht günstiger geworden. Uwe Kammann verweist auf die beschleunigte Kommerzialisierung, die allumfassende Verflechtung der Medienformen und die Konzentration der Veranstalter. Und er fragt: Wer kann, wer darf noch personal- und zeitintensiv recherchieren, wer dringt in den Kern von EU-Beschlüssen und erklärt sie zudem, wer kann sich umfassende Analyse leisten? Wo sind Aufklärung und Kritik in glücklicher Balance?

Noch einmal: Die Kritik, die das weite Medienfeld und seine schönsten wie wildesten Blüten zusammen denkt, die immanente Werkkritik mit gesellschaftlicher Wertung verbindet, die sich auf einen kulturellen und moralischen Wertekanon beruft, diese Form der Kritik ist lebenswichtig.

An dieser Stelle muss Adorno sein. Der hat in den "Vierzehn Mutmaßungen über das Fernsehen" festgestellt: "Die Millionen Menschen, welche die auf sie zugeschnittene Massenkultur konsumieren, die sie eigentlich erst zu Massen macht, haben kein in sich einheitliches Bewusstsein. Sie ahnen, vorbewusst, unterhalb einer dünnen ideologischen Schicht, dass sie vom Titelblatt jeder illustrierten Zeitung, von jedem zellophanverpackten Schlager betrogen werden. Wahrscheinlich bejahen sie, womit man sie füttert, so krampfhaft nur, weil sie das Bewusstsein davon abwehren müssen, solange sie nichts anderes haben. Dieses Bewusstsein wäre zu erwecken und dadurch dieselben menschlichen Kräfte gegen das herrschende Unwesen zu erwecken, die heute noch fehlgeleitet und ans Unwesen gebunden sind." Eine Definition, eine Aufforderung, eine Ermunterung, eine Verpflichtung zur Medienkritik.

Wir wissen, dass es die Adressaten bitter nötig haben:

Ich denke an Produzenten und ihre Auftraggeber, die sich zur Qualität und zum kulturellen Anspruch ermuntert fühlen sollten. Wer allein der Quotenkraft nachgibt und sich nur noch damit aufhält, immer stärkere Unterhaltungsdrogen zu verteilen, verliert am Ende auch seine Reputation.

Ich denke an Medien- und Gesellschaftspolitiker, die den Rahmen zimmern sollen, aber oft genug das Bild nicht richtig kennen. Ich denke vor allem an die Nutzer, die erst verstehen müssen, was sie sehen, um wirklich sehen zu können.

Dabei muss Medienkritik die Nutzer an die Hand nehmen, Inhalte offen legen, unterscheiden, bewerten und Rat geben. Medienkritik und Medienkompetenz gehören gedanklich zusammen.

Weil unsere Mediengesellschaft ein Kulturträger ist, ja sogar Ausdruck unserer Kultur, und weil das so bleiben soll, ist das Adolf Grimme Institut ein Bollwerk gegen schlechten Geschmack. Seit 1964 sitzt im kleinen Marl der Sicherheitsrat der inzwischen vereinten Fernsehnation, eine so unangefochtene wie respektierte und unbestechliche Gralshüterin der Qualität. Ihr obliegt die Prämiierung von Produktionen und Fernsehleistungen, die - wie es im Statut heißt - die spezifischen Möglichkeiten des Mediums Fernsehen auf hervorragende Weise nutzen und nach Inhalt und Methode Vorbild für die Fernsehpraxis sein können. Zwar gab es durchwachsene Jahrgänge, immer aber ragten Produktionen heraus, die uns vor Augen führten, dass Fernsehen auch etwas mit kulturellem Diskurs und unterhaltendem Erkenntnisgewinn zu tun hat. Mal mehr, mal weniger waren auch kommerzielle Sender unter den Preisträgern. Auch von ihnen gingen Innovationen für das Programm aus, wer möchte das bestreiten. Ich hoffe, dass das so bleibt.

Meine Damen und Herren,

es würde mich freuen, wenn der Grimme Online Award, der seit 2001 herausragende Internet-Angebote auszeichnet, bald ein ähnliches Renommee erreichen könnte wie der Grimme Preis für das Fernsehen. Das Netz braucht dringend Qualitätsgaranten und -produkte, die sich mit den Anbietern und Angeboten in den klassischen Medien messen können.

Die Nutzergewohnheiten verändern sich unaufhörlich, signifikant ist das bei den Jüngeren. Wenn auch Fernsehen seine komfortable Position als Leitmedium behauptet, bringt die Entwicklung der Übertragungswege eine Veränderung der Kommunikationsordnung mit sich. Wenn dies nicht zu einer Neubewertung, einer Zäsur führen soll, müssen wir uns jetzt darauf einstellen.

Wir sind in Deutschland zu Recht stolz auf unser Rundfunksystem. Zu Recht bestehen wir auf dem Informations- , Kultur- und Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Er ist die Existenzberechtigung für ARD und ZDF! Nur dank robuster Angebote im kulturellen Bereich lassen sich Bestrebungen auf europäischer Ebene abwehren, die Finanzierung der Sender als unzulässige Beihilfen einzustufen und somit den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Ganzes in Frage zu stellen. Insofern freut es mich sehr, dass die Mitglieder der Kultur-Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages meine Forderung unterstützen, mehr Kulturbeiträge in den Nachrichten von ARD und ZDF zu platzieren.

Der Kultur- und Bildungsauftrag bedeutet auch, dass es nicht darum gehen kann, die Programminhalte und -formen in Zukunft noch stärker denen der privaten Anstalten anzunähern. Die besondere Qualität für alle ist wichtig und dabei kann man dem Zuschauer im guten Sinne mehr zumuten, als man es tut - auch und gerade zur Prime-Time! Ich setze hier auf die Medienkritik, aber auch auf die Kreativität und das Verantwortungsgefühl der Programmdirektoren.

Meine Damen und Herren,

es ist an der Zeit, eine Qualitätsdiskussion auch mit den neuen Online-Medien zu führen. Wer gibt hier verlässliche Orientierung, wer sorgt für ein Basisangebot an Qualität für alle Altersgruppen und Interessen? Leider erleben wir eine solche inhaltliche Debatte nicht, sondern halten uns mit den Schlachten der Vergangenheit auf. Statt um das Profil der Online-Dienste zu ringen, streiten wir über Einschränkungen von öffentlich-rechtlich finanzierten Angeboten, um angebliche Marktchancen nicht zu beeinträchtigen. Wenn Einschränkungen nötig sind, dann finden wir sie in den Qualitätskriterien, denen öffentlich-rechtlich finanzierte Angebote entsprechen müssen. Sie müssen in besonderer Weise die gesellschaftlichen, demokratischen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung berücksichtigen. Alles andere soll man anderen überlassen!

Der digitale Welt, meine Damen und Herren, bietet uns ganz neue Möglichkeiten, ein elektronisches Gedächtnis aufzubauen und es vielen Menschen zu erschließen. Lassen Sie uns darüber nachdenken, wer daran mitwirken, wer dieses Archiv unserer Medienkultur entwickeln könnte. Ungeahnte Allianzen zwischen privaten und öffentlichen Anbietern scheinen am Horizont der Möglichkeiten auf!

In einem Bukett von Qualitätsangeboten aus den Bereichen Information, Kultur, Bildung und Unterhaltung, mit einer Mischung von frei abrufbarem und bezahltem Archivgut, könnten sich gesellschaftliche mit kommerziellen Interessen treffen. Ich habe schon oft auf die ungehobenen Schätze in den Archiven der Rundfunkanstalten hingewiesen. Hinzu kommen Museen und Bibliotheken, aber selbstverständlich auch Zeitungs- und Zeitschriftenverlage. Sollte man nicht den Versuch unternehmen, möglichst viele qualitätsvolle Archive auf einer Plattform zu platzieren, die ein hoch anerkanntes Gütesiegel trägt? Die Kriterien für die Aufnahme in diesen Kreis könnten sich die Anbieter in Form einer Selbstverpflichtung eigenständig geben! Urheberrechtliche Probleme dürfen sich nirgendwo zu einer unüberwindlichen Mauer auswachsen. Alles soll erschwinglich, nicht alles aber muss auch kostenlos sein!

Ich verkenne nicht, dass sich Medienkritik zunehmend auch mit den neuen Medien beschäftigt. oft - und sicher zu Recht - wird aber der reichlich vorhandene Schund beklagt, die Netzverschmutzung mit jugendgefährdenden und menschenverachtenden Inhalten. Der Urknall des digitalen Zeitalters hat uns vielleicht ein wenig überfordert, es ist aber wichtig, das Netz nicht nur als Gefahr zu begreifen, sondern die Chancen darin zu erkennen. Wer eine Medienmündigkeit besitzt, wird in der Lage sein, den Reichtum des Internets ebenso zu erkennen wie seine Schranken.

Die Medienkritik in unserem Land hat den Mediennutzer kultiviert, ihn erzogen, ihn geschützt. Das ist eine wichtige Leistung, die noch viel stärker werden sollte.

Wie Sie wissen, liegt mir viel am Vermitteln von Medienkompetenz. Gemeinsam mit der Kinowirtschaft und der Filmförderungsanstalt haben wir eine Agentur für die Filmbildung in Deutschland gegründet. Sie soll nicht regionale Initiativen beseitigen, sondern vernetzen und die Schulfilmwochen, mit denen wir in den vergangenen Jahren große Erfolge hatten, verstetigen. Der deutsche Film hat viel zu bieten - und zwar für alle! Den Kinobesuch zu einem kulturellen Ereignis zu machen, ist unser Ziel.

Sehr geehrter Herr Kammann,

wenn Sie nun im fernen Marl den Traum von der ästhetischen Fernsehnation ausrufen, dann werden Sie das mit Enthusiasmus und dem Ihnen eigenen Optimismus tun. Und Sie werden medial genießen können, und wo könnte man das besser als in Marl. Viel Glück in Ihrem neuen Amt! Ich danke Ihnen.