Redner(in): Christina Weiss
Datum: 25.04.2005

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss empfing am 25. April den Kurator Julian Heynen und die Künstler Thomas Scheibitz und Tino Sehgal im Bundeskanzleramt. Sie sind die deutschen Teilnehmer der Biennale 2005 in Venedig.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/85/823385/multi.htm


herzlich willkommen im Bundeskanzleramt. Ich begrüße Sie zu einem Empfang, mit dem wir Thomas Scheibitz und Tino Sehgal nach Venedig verabschieden wollen. Wir ahnen, was eine Teilnahme an der Biennale für Sie bedeuten mag. Davon auch etwas im eigenen Lande mitzuteilen, die Arbeit des Deutschen Pavillons auch mal hier zu preisen, das war mein Wunsch.

Meine Damen und Herren,

an Venedig denken, aber über Toledo reden - das ist heute Abend kein Widerspruch."Ansicht und Plan von Toledo" : So heisst ein Gemälde, das der Maler El Greco im Jahr 1609 gemalt und einen Stadtplan und ein Panorama der Stadt Toledo zeigt.

Den selben Titel trug eine Ausstellung, die Thomas Scheibitz vor vier Jahren im Kunstmuseum Winterthur und im Leipziger Museum der bildenden Künste hatte. Das, möchte man meinen, war natürlich kein Zufall: Die Verbindung von Draufsicht und Frontalperspektive kennzeichnet auch Scheibitz' Werk.

Mit Erstaunen habe ich dann im Katalog nachgelesen, dass Sie, lieber Herr Scheibitz, sich bei ihrer Arbeit am gleichnamigen Bild nicht an dem großen El Greco orientiert haben, sondern an einem japanischen Manga.

Aber so ist die Kunst. Sie geht ihre eigenen Wege und nimmt dabei manchmal einen verblüffenden Verlauf, nicht wahr, Herr Sehgal? Zum Beispiel kann es passieren, dass man eine internationale Kunstmesse besucht, und auf einmal steht ein Achtjähriger vor einem, der wissen will, welche Kunst er wohl für sein Geld kaufen soll.

Oder man flaniert arglos durch ein Museum und plötzlich fängt ein Aufseher an, mit den Armen rudern und die Beine kreisen zu lassen, um anschließend Werktitel und den Namen des Künstlers zu deklamieren.

Das sind Momente, lieber Herr Sehgal, die ich mir sehr eindrucksvoll vorstelle. Das Geschehen spielt sich im konventionellen Rahmen der Kunst ab - und bricht gleichzeitig mit allen Konventionen.

Ich freue mich auf jeden Fall sehr, dass Sie, Herr Heynen, als Kurator des Deutschen Pavillons für die Venedig Biennale in diesem Jahr zwei so junge Künstler ausgewählt haben. Und ich danke der Jury die Sie, Herr Heynen, berufen hat: den Museumsdirektoren Peter-Klaus Schuster, Armin Zweite, Reinhold Baumstark, Kornelia von Berswordt-Wallrabe, Sabine Fehlemann, Herwig Guratzsch, Christian von Holst und, nicht zuletzt, Uwe Schneede.

An dieser Stelle seien ausdrücklich auch die DekaBank als Exklusivpartner und die Deutsche Welle als Medienpartner gewürdigt, die die Arbeit des Deutschen Pavillons nun schon zum wiederholten Male unterstützen.

Meine Damen und Herren,

Kunst handelt nicht immer, aber häufig, nicht nur, aber auch - von der Vergänglichkeit. Ich finde, Ihnen, Herr Sehgal, gelingt es auf wundervolle Weise, dem Vergänglichen, dem Flüchtigen und Immateriellen der Kunst eine bezwingende Form zu verleihen.

Dass diese Form die Gestalt eines ephemeren Ereignisses besitzt, beschreibt einen Gegensatz, der mich persönlich an der bildenden Kunst schon immer fasziniert hat: das Transitorische der Materie auf der Wegstrecke in den geistigen Raum.

Man sieht etwas und denkt sich seinen Teil, und legt dabei eine Entfernung zurück, die sich dem üblichen Längenmaß entzieht, aber eine Größe hat und die eigenen Grenzen überschreitet.

Und ich muss sagen, Herr Scheibitz, bei Ihren Gemälden und Skulpturen geht es mir oft ganz ähnlich. Auch dort widersprechen sich häufig materielle Realität und die unmittelbare Wahrnehmung. Wenn ein Bild von einer einzigen Perspektive bestimmt wird, sind die Dinge meist noch relativ überschaubar.

Wenn sich darin jedoch mehrere Perspektiven, mögliche Blickpunkte und Ansichten auf einmal befinden, dann steigt nicht nur die visuelle Verwirrung, sondern das Ganze hat auch grundsätzliche Auswirkungen auf den Status des Faktischen: Es wird in Frage gestellt. Gewissheiten verschwinden, und an ihre Stelle treten fortgesetzte Überlegungen, eine wachsende Zahl von Optionen - produktive Unsicherheiten, die ihren originären Ort natürlich auch im geistigen Raum haben.

Alles in allem bin ich fest davon überzeugt, dass Sie beide hervorragend geeignet sind, die zeitgenössische deutsche Kunst auf der diesjährigen 51. Biennale von Venedig zu repräsentieren. Die Leichtigkeit und die gedankliche Tiefe, die Ironie und der Ernst, die sich in Ihrer beider Schaffen vereinen, werden unserem Land in Italien sicher gut zu Gesicht stehen. Ich freue mich, dass Sie beide heute Abend hierher gekommen sind. Und genauso freue ich mich, wenn Sie wieder fort fahren: nach Venedig! In der Obhut des Auswärtigen Amtes, denn an der Staatsgrenze endet ja meine Zuständigkeit. Ich wünschen Ihnen beiden viel Glück!

Vielen Dank!