Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 04.05.2005
Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Freund, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/60/825660/multi.htm
Es ist ja wahr: Im Dezember des letzten Jahres hat die Europäische Union eine wirklich historische Entscheidung getroffen. Sie war keineswegs unumstritten - wie sollte das auch anders sein - , aber sie wurde getroffen. Die Entscheidung hieß: Wir wollen am 3. Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnehmen.
Es macht vielleicht Sinn, weil all diese Dinge zu leicht in Vergessenheit geraten, daran zu erinnern, was vorausgegangen war: Vorausgegangen war ein Assoziierungsabkommen, 1963 geschlossen, ein Abkommen, von dem man damals gesagt hatte: Wir wollen mit diesem Abkommen erreichen, dass die Türkei ein Beitrittskandidat werden kann. Alle - egal, welcher politischen Couleur - hatten der Türkei dies versprochen. Manchmal musste man in den folgenden Jahren den Eindruck haben: Die, die das damals versprochen hatten, haben wohl selbst nicht so recht daran geglaubt. Denn ansonsten hätte es nicht solche kontroversen Diskussionen gegeben.
Aber die Türkei hat sich genau auf den Weg gemacht, der die Voraussetzung dafür war, dass diese Beitrittsverhandlungen eröffnet werden konnten. Die strategische Entscheidung von wirklich historischer Bedeutung, die im Dezember letzten Jahres getroffen worden ist, war nicht möglich, weil andere etwas Gutes tun wollten, sondern sie war möglich, weil die Türkei selbst die Voraussetzungen dafür geschaffen hatte. Deswegen sage ich: Diese historische Entscheidung wurde möglich, weil die Türkei sich auf einen Weg tief greifender Reformen begeben hat. Ich sage das durchaus mit großem Respekt. Genau dafür gebührt in erster Linie Ministerpräsident Erdogan ganz persönlich Respekt und Anerkennung.
Es geht jetzt darum, den eingeschlagenen Weg konsequent fortzusetzen. Ich lese gelegentlich in der Presse, dass es die eine oder andere Schwierigkeit auf diesem Weg gebe. Wer hat denn eigentlich ernsthaft damit gerechnet, dass dieser Weg ohne Schwierigkeiten vonstatten gehen würde? Derjenige, der geglaubt hat, diesen Transformationsprozess, der nötig ist, und diese Veränderungen in den Mentalitäten der eigenen Bevölkerung, wie der Ministerpräsident es nennt, könne man so nebenbei vornehmen, der versteht, glaube ich, nicht sehr viel von den politischen und ökonomischen Prozessen, die nötig sind, um diesen Weg erfolgreich zu gehen. Wichtig ist doch nicht, dass man immer wieder einmal mit Schwierigkeiten rechnen müsste. Wichtig ist vielmehr, dass der feste Wille besteht, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Das ist der politische Auftrag, um den es nach meiner Auffassung geht, um gar keinen anderen.
Wer gerade heute wieder aufmerksam den Bemerkungen des Ministerpräsidenten zugehört hat, der weiß doch, dass hier jemand spricht, der genau weiß, dass er selbst die Voraussetzungen für den Beschluss vom Dezember des letzten Jahres geschaffen und vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit die Verantwortung dafür übernommen hat, dass dieser Weg konsequent weiterbeschritten wird und seinen Ausdruck nicht nur in Beschlüssen findet, sondern Staatpraxis und gesellschaftliche Wirklichkeit wird. Wer ihm heute aufmerksam zugehört hat, der kann doch nur gespürt haben, dass hier der feste Wille besteht, auch exakt das umzusetzen, was an Vereinbarungen getroffen worden ist.
Genau so muss es natürlich auch auf der anderen Seite, nämlich der der Europäischen Union sein. Das, was vereinbart worden ist, muss eingehalten werden, unabhängig von Stimmungen. Man kann solche historischen Entscheidungen nicht von wechselnden Meinungsumfragen und auch nicht von Referenden abhängig machen, sondern man muss sie, wenn man sie getroffen hat, verantworten und durchhalten. Man muss vertragstreu bleiben. Deswegen sage ich: Weil ich davon ausgehe, dass die türkische Seite buchstabengetreu ihrer Verantwortung gerecht wird und alles Vereinbarte umsetzt, trete ich dafür ein, dass seitens der Europäischen Union nichts draufgesattelt wird und dass die Europäische Union ihre Verpflichtungen genauso buchstabengetreu einhält und umsetzt.
Ich glaube, so geht es. So kann man eine Partnerschaft in den Verhandlungen entwickeln, die dann zum Beitritt führen. Es sind schwierige Verhandlungen, langwierige Verhandlungen, aber Verhandlungen, die, glaube ich, eine gute und große Perspektive sowohl für die Türkei als auch für die Europäische Union und damit auch für Deutschland haben.
Erinnern wir uns, wie das gewesen ist, als die Türkei in einer großen ökonomischen Krise steckte. 2001 ist noch gar nicht so lange her. Zum damaligen Zeitpunkt hätte doch niemand die Prognose gewagt, dass sie nur wenige Jahre später die heutige Stabilität erreichen würde. Aber durch eine entschiedene Reformpolitik im Ökonomischen, durch die Herstellung politischer Stabilität im Inneren und durch die Übernahme der Verpflichtungen, die sich aus dem Wunsch nach der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ergeben, ist genau das erreicht geworden. Ich wage die Behauptung, meine Damen und Herren, dass nicht zuletzt die Entschiedenheit, mit der diese Regierung den Beitrittswunsch verfolgt hat, die Stabilität, die hergestellt worden ist, und die Reformpolitik, die ins Werk gesetzt wurde, genau Teile dieser ökonomischen Erfolge gewesen sind. Anders ausgedrückt: Ohne diese Politik wären die ökonomischen Erfolge nicht möglich gewesen, aber mit den ökonomischen Erfolgen wird die Umsetzung der Politik auch leichter. Ich denke, auch dieser Zusammenhang sollte deutlich werden.
Es ist immer wieder klar und zu Recht vom Ministerpräsidenten gesagt worden, dass die Türkei auf Deutschland als einen strategischen Partner und einen Freund in diesem Prozess baut. In der Tat kann und soll sie es sogar. Das hat mit Traditionen zu tun. Deutsche und Türken verbindet eine lange Freundschaft. Aber Traditionen würden nicht reichen, wenn diese Traditionen nicht auch die heutige Wirklichkeit beeinflussten. Diese wird in der Tat beeinflusst von gemeinsamen Interessen: politisch, ökonomisch und man sollte auch Kulturelles nicht vergessen. Ich denke, das ist ganz wesentlich, auch für Menschen, die ansonsten sehr rational ihren Geschäften nachgehen.
Aber ich bleibe einmal beim Politischen. Ich sage den Menschen bei mir zu Hause gerne: Überlegt einmal, welch ungeheuren Sicherheitszuwachs es im Politischen gibt, wenn ein in dieser Region so wichtiges Schlüsselland wie die Türkei es auf Dauer schafft, einen alles andere als fundamentalistischen Islam mit den Wertvorstellungen der europäischen Aufklärung zu verbinden und auf diese Weise ein Stabilitätsfaktor in einer gewiss unruhigen Region wird; unruhig, was Zentralasien angeht, und unruhig - wir bedauern das gemeinsam - , was den Nahen Osten angeht. Der Sicherheitszuwachs für die Menschen in der Türkei, für die Menschen in der Region, aber auch für die Menschen in Europa und damit in Deutschland kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Natürlich, meine Damen und Herren, sind mit all diesen epochalen Entscheidungen auch Risiken verbunden, aber im Vergleich zu den Risiken, die wir eingehen würden, wenn es diese Entscheidungen nicht gäbe, sind sie allemal beherrschbar. Das ist jedenfalls meine feste Auffassung.
Über das Ökonomische und die gemeinsamen Interessen, die wir haben, muss ich nicht lange reden. Ich kann mich auf das beziehen, was der Ministerpräsident gesagt hat. Er hat eindrucksvoll deutlich gemacht, welche gewaltigen Erfolge in welch kurzer Zeit die deutsche und die türkische Wirtschaft durch Zusammenarbeit erzielen konnten. Das ist nach meiner festen Überzeugung der Anfang eines Weges, keineswegs das Ende eines Weges. In der Tat haben wir in den bilateralen Beziehungen gewaltige Potenziale, auf der einen wie auf der andere Seite. Die Unternehmen von türkischstämmigen Deutschen oder von Türken, die in Deutschland auf Dauer leben, leisten einen beachtlichen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt. Auch darüber hat der Ministerpräsident gesprochen. Ich sage den deutschen Landsleuten: Schaut euch das an! Ohne die 300.000 Beschäftigten in diesen Betrieben hätten wir manches Problem mehr. Ich denke, das gilt auch umgekehrt. Ohne das, was hier von deutschen Unternehmen an Wertschöpfung erbracht wird, hätte es auch die Türkei nicht leichter, sondern schwerer. Ich glaube, an diesem Beispiel zeigt sich, dass Zusammenarbeit unter Partnern, unter Menschen, die einander vertrauen, das herstellt, was wir eine "Win-Win" -Situation nennen, also etwas, das beiden zugute kommt. Ich glaube, das kann man in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen sehen.
Wo liegen die Felder künftiger Zusammenarbeit? Wir haben heute intensiv darüber gesprochen. Sie wissen das doch sehr viel besser als ich; denn die eindrucksvolle Größe dieser Veranstaltung zeigt doch, dass wir uns gar nicht mehr theoretisch darüber auslassen müssen, sondern dass Sie es längst praktisch tun. Aber gleichwohl, will ich auch dazu noch ein paar Bemerkungen machen. Ich glaube, dass es im Grunde keinen Bereich gibt, der von dieser Zusammenarbeit ausgenommen werden könnte. Wir haben das heute in einem kleineren Kreis besprochen.
Es gibt gewaltige Möglichkeiten in der Infrastruktur, und das meine ich in einem sehr umfassenden Sinne, keineswegs nur auf Straßen und Eisenbahnen allein bezogen, sondern ich meine Infrastruktur insgesamt. Wirtschaftliche Infrastruktur meint ja nicht nur die ganz harten Dinge, die mit Beton oder Stahl gemacht werden, sondern meint z. B. auch den ganzen Bereich der Kommunikation, also einen Bereich, in dem gegenwärtig schon wirklich etwas los ist und in Zukunft noch mehr los sein wird. Wir haben darüber geredet, dass wir in einem sehr umfassenden Sinne im Bereich der Ausrüstungsinvestitionen klassisch stark sind. Es gibt Kooperationen in der Luftfahrt, die gewaltig sind und die viele Möglichkeiten eröffnen. Von der Automobilindustrie und deren Zulieferern will ich in diesem Zusammenhang gar nicht erst reden, sonst komme ich wieder in der Verdacht der Einseitigkeit.
Aber, meine Damen und Herren, ich will noch einen anderen Aspekt nicht unerwähnt lassen, nämlich den der gesamten Konsumgüterindustrie und was sich auch und gerade dort an Gemeinsamkeiten auftut. Das betrifft den Handel. Ich sehe die Handelsunternehmen hier sitzen. Ich darf ja keine Werbung machen. Ich sehe aber auch andere. Ich sehe diejenigen, die sich z. B. im Textilbereich tummeln. Da müssen wir inzwischen miteinander aufpassen, dass der Zug nicht nur aus Westeuropa, sondern auch aus der Türkei ganz weit weg in die Länder mit immer geringeren Löhnen fährt. Und weil der Trend schwer zu stoppen sein wird, müssen wir uns darüber unterhalten, was unsere gemeinsamen Chancen sind und ob sie nicht vielmehr im Design und im Vertrieb liegen, also im hoch spezialisierten Bereich. Das sind Punkte der Zusammenarbeit, die man, glaube ich, nicht gering achten sollte.
Wir haben hinsichtlich der Landwirtschaft zu reden, vom Tourismus ganz zu schweigen. Wenn Sie es mir zu sagen erlauben, Herr Ministerpräsident, beziehen wir bei der Frage, ob man in der Landwirtschaft und im Tourismus etwas machen kann, Nordzypern ein. Ich habe verstanden, dass man sich in Ihrem Land mitverantwortlich fühlt und auf Fairness bezüglich der großen Entscheidung drängt, die der Norden getroffen hat, als es um die Frage der Einheit der Insel ging. Deswegen glaube ich, dass es nur fair ist, wenn man jetzt darüber nachdenkt, ob es nicht Teil unserer - der deutsch-türkischen - Zusammenarbeit sei kann und muss, auch dort etwas zu tun, gleichsam eine Vorreiterrolle bei der ökonomischen Hilfe für diesen Teil der Insel einzunehmen und damit auch ein Stück friedlicher Entwicklung zwischen beiden Teilen zu ermöglichen. Denn es geht ja nicht darum, den einen Teil gegen den anderen auszuspielen, sondern es geht darum, auf diese Weise das Fundament dafür zu legen, dass es in den Vereinten Nationen zu einer Neuauflage des Versuchs kommt, die Einheit der Insel zu schaffen. Ich glaube, es wird jeder verstehen, wenn das ausgerechnet und gerade ein deutscher Bundeskanzler sagt. Sie wissen, welchen historischen Hintergrund das hat.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen, meine Damen und Herren, und die betrifft die Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem Gebiet und den Ausbildungsbereich. Das sage ich jetzt nicht nur, weil mir heute, worauf ich sehr stolz bin, die Ehrendoktorwürde der Marmara-Universität verliehen worden ist, sondern ich sage es aus ehrlicher Überzeugung: Ich glaube, dass wir auf diesem Gebiet der Zusammenarbeit im Ausbildungssektor und vor allen Dingen auf wissenschaftlichem Gebiet noch Großes vor uns haben. Denn ich bin mir sicher, dass dieser Bereich innerhalb sehr überschaubarer Zeit auch für ein sich so gut und rasch entwickelndes Land wie die Türkei ein zentraler Bereich auch wirtschaftlichen Wohlergehens sein wird. Daher glaube ich, dass wir auch über das hinaus, was jeden Tag an Zusammenarbeit geleistet wird, viel Anlass haben, in diesem Bereich noch besser zu werden, als wir es gegenwärtig sind. Auch hierbei gibt es große historische Traditionen, an die man anknüpfen kann und an die wir anknüpfen sollten.
Meine Damen und Herren, für mich kann ich jedenfalls sagen: Dieser Besuch und unser Gespräch, verehrter Herr Ministerpräsident, lieber Freund, fanden in einer doch ganz wichtigen Zeit statt, nämlich in einer Zeit, in der Zweifel gesät worden sind, ob die Türkei diesen Weg, den wir miteinander im Dezember letzten Jahres eingeschlagen haben, konsequent weitergehen wird, und ob er von allen auch außerhalb der Türkei unterstützt wird. Ich finde, unsere Gespräche, Ihre öffentlichen Erklärungen und ebenso meine Erklärungen haben gezeigt, dass wir diesen Weg, den wir eingeschlagen haben, jedenfalls konsequent weitergehen wollen. Mich freut sehr, dass wir dabei mit der Unterstützung sowohl der deutschen als auch der türkischen Wirtschaft rechnen können. Dafür bin ich all denjenigen, die an diesem großen und großartigen Kongress teilnehmen, sehr dankbar.
In diesem Sinne wünsche ich alles Gute, viel Erfolg für Ihre Arbeit, natürlich erst recht für die Zukunft Ihrer Unternehmen und nicht zuletzt auch für Sie selbst und Ihre Familien. Vielen Dank!