Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 04.05.2005
Anrede: lieber Herr Rektor, Herr Ministerpräsident, lieber Freund, Eure Heiligkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/53/825853/multi.htm
Magnifizenz, verehrter,
Es ist für mich eine ganz große Freude, hier an historischer Stelle, gleichsam im Herzen Istanbuls, zu Ihnen sprechen zu können. Die Freude ist umso größer, als Sie mir eine wirklich große Ehre haben zuteil werden lassen, nämlich die Verleihung der Doktorwürde Ihrer traditionsreichen, ehrwürdigen Universität. Es freut mich besonders, als Ehrendoktor der Rechtswissenschaften von nun an Mitglied Ihrer angesehenen Universität und Fakultät sein zu dürfen.
Magnifizenz, Ihnen und den Mitgliedern des Senats der Marmara-Universität danke ich ganz herzlich für diese Auszeichnung. Ich hoffe, ich werde mich noch steigern können: Denn das, was ich bisher für die türkisch-deutsche Freundschaft, die kulturellen, die ökonomischen und die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern habe leisten können, reicht bei weitem nicht. Ich habe jedenfalls die Hoffnung, dass wir, verehrter Herr Ministerpräsident, lieber Freund, noch sehr viel gemeinsam dafür werden tun können.
Die Marmara-Universität besitzt eine mehr als 120 Jahre alte Tradition von ausgezeichneter Lehre und Forschung, und sie genießt einen vorzüglichen Ruf weit über die Grenzen der Türkei hinaus. Als drittgrößte Universität des Landes hat sie eine beeindruckende Reihe von erfolgreichen Absolventen hervorgebracht. Mit dem Herrn Ministerpräsidenten Erdogan will ich einen von ihnen erwähnen. Der Rektor hat mir nämlich eben in einem Gespräch versichert, er sei ein erstklassiger Student gewesen. Herr Ministerpräsident, ich empfinde es als eine besondere Ehre, dass Sie an dieser Feierstunde persönlich teilnehmen. Ich betrachte das als einen wirklich freundschaftlichen Beweis.
Meine Damen und Herren, Deutschland und die Türkei sind seit langem aufs Engste politisch, wirtschaftlich, aber eben auch kulturell miteinander verbunden. Die Region, welche heute das Herz der Türkei bildet, ist eine der Wiegen der europäischen Zivilisation. Seine Magnifizenz hat, wie ich fand, in seiner Rede zu Recht darauf hingewiesen. Das osmanische Reich war nicht nur Erbe von Byzanz und des oströmischen Reiches, sondern zugleich der reichen griechisch-lateinischen und jüdisch-christlichen Kulturen in Anatolien. Berühmte Namen wie Herodot, den "Vater der Geschichtsschreibung", und Orte wie Troja, Pergamon oder den Berg Ararat verbinden wir alle mit dieser Region. Deswegen sage ich das sehr deutlich all denen, die so ganz einfach meinen, Europa und die Türkei gingen historisch nicht zusammen. Diejenigen, die das meinen, blenden wesentliche Teile der gemeinsamen Geschichte aus. Während des Großteils seiner Geschichte spielte das osmanische Reich eine ganz wichtige Rolle in der europäischen Politik. Zugleich inspirierten vor allem französische und englische Reformideen die Modernisierung des türkischen Staates. Europäische Schulen der Philosophie und Soziologie bildeten die theoretische Grundlage für die Schaffung des modernen türkischen Nationalstaates durch Kemal Atatürk.
Meine Damen und Herren, heute, wenige Tage vor dem Gedenken an den 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, will ich aber vor allem an einen Aspekt unserer gemeinsamen Geschichte erinnern, der nicht vergessen werden darf. Auf Initiative Ihres Staatsgründers Kemal Atatürk haben viele Deutsche, die während des nationalsozialistischen Terrors ihre Heimat verlassen mussten, hier in der Türkei freundschaftliche Aufnahme gefunden. Unter ihnen waren viele Politiker, Wissenschaftler und Künstler, wie etwa der Sozialdemokrat Ernst Reuter, der Komponist Paul Hindemith und die Juristen Ernst Hirsch und Andreas Schwarz. Viele deutsche Exil-Wissenschaftler haben damals in diesem Land eine neue berufliche Heimat gefunden. Zugleich haben sie dazu beigetragen, das türkische Hochschulwesen nach europäischem Vorbild auszubauen.
Diese wissenschaftliche Zusammenarbeit hat sich - besonders hier an der Marmara-Universität - bis in die Gegenwart zum gegenseitigen Nutzen fortentwickelt. Ihre Universität - Magnifizenz, Sie haben es gesagt - ist durch ein enges Netzwerk von persönlichen und wissenschaftlichen Kontakten und entsprechenden Austauschprogrammen mit vielen deutschen Universitäten verbunden. Ich freue mich besonders über den Erfolg ihrer deutschsprachigen Studiengänge in Betriebswirtschaft und Wirtschaftsinformatik. Sie sind das Aushängeschild der deutsch-türkischen Hochschulkooperation. Bereits mehr als 500 Absolventen dieser Studiengänge stehen als qualifizierte Nachwuchsführungskräfte für Unternehmen in unseren beiden Ländern - und keineswegs nur hier - zur Verfügung. Die großzügige Unterstützung dieser Studiengänge durch die Wirtschaft, die ich ausdrücklich anerkennen möchte, ist Beleg für die hohe Qualität und für die bedarfsorientierte Ausbildung an der Marmara-Universität.
Die Ehrendoktorwürde, die Sie mir heute verliehen haben, nehme ich auch stellvertretend für alle diejenigen gerne an, die mit großem persönlichem Einsatz zum Erfolg der deutschsprachigen Abteilungen beigetragen haben. Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Ausbau der Abteilungen zu einer deutschsprachigen Fakultät mit stark europäischer Ausrichtung wie geplant wirklich gelänge. Eine solche Fakultät wäre gerade für die jungen Menschen in der Türkei ein weiteres Symbol für die Dichte der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern.
Meine Damen und Herren, die Türkei hat in freier Entscheidung den Weg nach Europa eingeschlagen. Die großen Anstrengungen, die sie dabei bereits unternommen hat, haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union im vergangenen Dezember mit der einstimmigen Entscheidung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen honoriert. Es ist wahr: Ich hatte mich aus guten Gründen - das meine ich auch heute noch - für diese Entscheidung eingesetzt. Nun muss die Türkei diesen Weg mit unser aller Unterstützung konsequent weitergehen. Sie darf in ihren Anstrengungen nicht nachlassen, und ich weiß mich darin einig mit dem Herrn Ministerpräsidenten. Die Reformen müssen umgesetzt und ihre Unumkehrbarkeit sichergestellt werden, insbesondere im Hinblick auf Rechtstaatlichkeit, Grundfreiheiten, den vollen Respekt der Menschen- und Minderheitenrechte und auch die Religionsfreiheit. Misshandlungen durch Sicherheitskräfte, Beschränkungen der Meinungsfreiheit und Diskriminierung von Frauen sind mit diesen gemeinsamen Wertvorstellungen, die wir entwickelt haben, nicht vereinbar. Die Beitrittsverhandlungen - das muss klar sein - sollen und müssen wie vereinbart am 3. Oktober beginnen. Die Voraussetzungen, welche die Türkei hierfür noch im Einzelnen zu erfüllen hat, sind bekannt, und ich bin sicher, sie werden erfüllt werden.
Meine Damen und Herren, ein Thema, das mir persönlich und auch meinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern sehr am Herzen liegt, ist die Lage der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften in der Türkei. Deshalb war es eine Freude für mich, heute mit Seiner Heiligkeit, dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. , zusammentreffen zu können. Auch er setzt große Hoffnungen in den Reformprozess. Ich möchte also all diejenigen, die gemeinsam am Erfolg dieses Prozesses - vor allen Dingen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit - arbeiten, ermutigen.
Europa, meine Damen und Herren, ist eine Friedensgemeinschaft, deren Mitglieder sich um der gemeinsamen Zukunft willen ihrer Vergangenheit stellen. Vor wenigen Tagen wurde in vielen Ländern der Welt des schrecklichen Schicksals vieler Menschen aus Armenien gedacht. Auch der Deutsche Bundestag hat sich mit diesen Fragen beschäftigt. Parlamentarier aller Fraktionen haben sich auch zur deutschen Mitverantwortung bekannt. Ich begrüße und anerkenne ausdrücklich den jüngsten Vorschlag von Ministerpräsident Erdogan, die Ereignisse von vor 90 Jahren durch eine international besetzte Historikerkommission aufarbeiten zu lassen. Ich hoffe, dass dieser weit reichende und kluge Vorschlag auch Gehör in Armenien finden wird. Die Archive in Deutschland stehen dafür offen, und sicherlich sind auch deutsche Historiker bereit, sich daran zu beteiligen.
Gerade wir Deutschen wissen, welche politische, gesellschaftliche und menschliche Herausforderung mit der Aufarbeitung historischer Ereignisse verbunden ist und welchen Respekt und welche Sensibilitäten das auch erfordert. Wir z. B. wissen, dass die Aussöhnung mit Frankreich, mit Polen und anderen Nachbarn nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges zeigt: Sie kann gelingen - zum Wohle aller Beteiligten. Gerade deshalb bin ich überzeugt: Der von Ministerpräsident Erdogan vorgeschlagene Weg weist in die richtige Richtung. Es ist der Weg zur Normalisierung der Beziehungen und damit auch der Weg zur Stabilisierung einer unruhigen Region. Es ist also ein Weg, auf dem es nur Gewinner geben wird. Deutschland ist bereit, wo immer es hilfreich sein kann, diese Hilfe zur Verfügung zu stellen.
Meine Damen und Herren, die Türkei ist für Deutschland und Europa ein geschätzter und verlässlicher Partner. Im Rahmen der NATO, bei der Stabilisierung von Krisenregionen und beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus arbeiten wir eng und vertrauensvoll zusammen. In Bezug auf den Irak hat die türkische Regierung eine umsichtige und verantwortungsvolle Politik bewiesen. Europa und die Türkei haben ein großes Potenzial, bei der Modernisierung und Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens weiter eng und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Daher kann man die Türkei und ihre Führung nur ermutigen, dieses gemeinsame Potenzial auch bei der Stabilisierung anderer unruhiger Regionen, etwa der um den Kaukasus, zu nutzen.
Meine Damen und Herren, ich bedaure sehr, dass im vergangenen Jahr, trotz der konstruktiven Politik der türkischen Seite, eine Lösung der Zypern-Krise nicht zu Stande gekommen ist. Deswegen muss man auch Verständnis für die Enttäuschung haben, die es gelegentlich in der Türkei gibt. Aber ich habe mit dem Ministerpräsidenten Einvernehmen darin erzielt, dass es jetzt darauf ankommt, fair mit dem Norden Zyperns umzugehen, der in dem Referendum deutlich gemacht hat, dass er zum Plan von Kofi Annan steht. Fair heißt, dass das, was an Hilfen von der Europäischen Union zur Verfügung gestellt werden soll, auch zur Verfügung gestellt werden muss und nicht an Einseitigkeiten scheitern darf, die es bedauerlicherweise auch gibt. Fair heißt ebenso, dass man sich kümmert; Deutschland ist jedenfalls bereit, seine Möglichkeiten für die ökonomische Entwicklung des Nordens dieser Insel zu nutzen. Fair heißt schließlich, dass man alles unternehmen muss und soll, um in den Vereinten Nationen einen neuen Anlauf zur Einheit dieser Insel zu machen. Ich weiß mich in dieser Strategie einig mit dem Ministerpräsidenten. Wir geben zusammen die Hoffnung nicht auf, dass wir eine gerechte und faire Lösung finden werden.
Meine Damen und Herren, die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union werden sicherlich lang und mitunter auch schwierig werden. Ihr Verlauf wird maßgeblich bestimmt werden durch den Fortgang des Reformprozesses in der Türkei. Aber der Verlauf und die Ergebnisse dürfen angesichts der weit reichenden historischen Entscheidung vom Dezember letzten Jahres eben nicht von Meinungsumfragen in den Mitgliedstaaten abhängig gemacht werden. Entscheidend dabei ist, dass wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren, und das heißt: der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union.
Die Türkei hat ein großes Potenzial. Dies hat sie bei der Vorbereitung auf den Europäischen Rat im Dezember eindrucksvoll und eindrücklich unter Beweis gestellt. Das hat uns allen Hochachtung abgefordert. Es ist bereits Enormes geleistet worden, es bleibt aber immer noch Enormes zu leisten. Um es mit den Worten des Ministerpräsidenten zu sagen: Es geht nicht nur darum, rechtliche Rahmen zu schaffen, sondern es geht auch darum, Mentalitäten zu verändern, damit sich Bewusstseinslagen im Volk verändern können, die die Voraussetzung dafür sind, dass der Prozess, um den es geht, unumkehrbar ist. Ich kann alle, die dabei mithelfen wollen und mithelfen werden, nur ermutigen, diesen schwierigen Weg mit der Entschlossenheit, die in den letzten Jahren sichtbar geworden ist, weiterzugehen. Deutschland - das sage ich ausdrücklich Ihnen, Herr Ministerpräsident, lieber Freund - werden Sie dabei an Ihrer Seite wissen. Die Türkei und die Europäische Union stehen gewiss vor großen Herausforderungen. Es eröffnen sich aber auch große Chancen, und es sollte uns allen darum gehen, diese zu nutzen.
Als Ehrendoktor der Marmara-Universität und, wenn ich das so sagen darf, als Freund der Türkei werde ich dieses Land weiter darin unterstützen, diese Herausforderung zu meistern und damit unsere gemeinsamen Chancen zu nutzen. Ich danke Ihnen allen sehr dafür, dass Sie gekommen sind und dass Sie mir Ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben.