Redner(in): Christina Weiss
Datum: 04.05.2005

Untertitel: Zur Eröffnung der Ausstellung zum 60. Jahrestages des Kriegsendes "Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerung an den Krieg 1941-1945" am 4. Mai 2005 im Museum Berlin-Karlshorst sprach Kulturstaatsministerin Christina Weiss über den Umgang mit der Erinnerung an die Kriegs- und Nachkriegszeit.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/46/825746/multi.htm


Der Name Karlshorst verbindet sich mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945. Überliefert ist das Ereignis durch Bilddokumente, die das Ende des Zweiten Weltkrieges vor aller Welt bezeugen. Die Aufnahmen zeigen Militärs an einem Tisch: Generalfeldmarschall Keitel, Generaladmiral von Friedeburg und Generaloberst Stumpf, Marschall Shukow als sowjetischen Oberkommandierender und den britischen Air-Marschall und Stellvertreter Eisenhowers Sir Arthur Tedder.

Die Bilder geben in ihrem nüchternen Stil auch nicht annähernd wieder, was das Ende der größten Katastrophe seit Menschengedenken für die Welt bedeutete. Ende und Beginn einer Epoche: auf Fotos und Film ein förmlicher, bürokratischer Akt, die Unterschrift auf einem Blatt Papier.

Im Kampf gegen die NS-Herrschaft hat die Sowjetunion die größten Opfer gebracht: 27 Millionen Tote! Millionen von Soldaten, die im Kampf fielen, Millionen von Zivilisten, die von Nazis als "Untermenschen" ermordet wurden. Karlshorst erinnert in seiner Dauerausstellung an diesen Krieg und seine Schrecken, und es ist heute ein Ort der gemeinsamen Erinnerung von Russen und Deutschen.

Karlshorst ist jedoch in der Nachkriegszeit nicht der Ort geworden, an dem des Kriegsendes zentral gedacht wurde. Es hat viele Jahre gedauert, bis hier auch eine Gedenkstätte eingeweiht werden konnte. Erst 1967 entstand das "Museum der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg 1941 - 1945". Er war primär dem Großen Vaterländischen Krieg, also dem Sieg der Sowjetunion gewidmet, doch auch die westlichen Alliierten hatten hier ihren Platz.

Der "Sieg über den Faschismus" als sowjetischer Sieg hatte in Ostdeutschland einen anderen Ort, einen symbolischen wie realen, an dem der Sieg manifestiert werden konnte. Schon 1945 war von der sowjetischen Besatzungsmacht ein Wettbewerb ausgeschrieben worden, den die Architekten Belopolskij und der Bildhauer Evgenij Vucetic gewannen. Nach deren Entwürfen ließ die Besatzungsmacht zwischen 1945 und 1949 dann das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park errichten. Am 8. Mai 1949, dem 4. Jahrestag des Kriegsendes, wurde es unweit vom Zentrum der Stadt Berlin eingeweiht.

Die gesamte Anlage ist auf die monumentale, 30 Meter hohe Figur des Kriegers ausgerichtet. Er trägt statt einer Kalaschnikow ein Schwert in der rechten Hand. Auf seinem linken Arm trägt er ein Kind, das, so will es die Legende, ein Rotarmist aus dem Kampfgetümmel in Berlin gerettet habe. Sein Fuß steht auf einem zerschmetterten Hakenkreuz.

Die Sowjetunion feiert hier zu Recht ihren Triumph über den Nationalsozialismus, aber sie feiert ihn als Sieg des kommunistischen Systems.

Für die DDR wurde die jährliche Feier am 8. Mai, dem sogenannten "Tag der Befreiung", Pflicht - am Vorabend des sowjetischen "Tag des Sieges". Die hochrangigsten Vertreter der DDR hielten Reden zur Ehren ihrer Befreier. Alle mussten antreten. Kränze wurden niedergelegt und die Nationalhymnen beider Staaten erklangen.

Das Bild des sowjetischen Ehrenmals gehörte in den Kanon der Erinnerung. Zum 40. Jahrestag der Befreiung wurde zur Ehren der Sowjetunion eine 10-Mark-Münze mit dem Bild des Befreiers in Verbindung mit dem Hoheitszeichen der DDR, Hammer und Zirkel, geprägt.

Der Rotarmist, der das Hakenkreuz zertritt und zugleich ein Kind rettet, ist nicht allein zur geläufigen Ikone der DDR geworden, sondern steht für das Geschichtsverständnis des gesamten Ostblocks bis zum Fall des Eisernen Vorhangs.

Meine Damen und Herren, auf den Konferenzen von Teheran 1944 und Jalta 1945 hatten die mächtigsten Alliierten, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Franklin D. Roosevelt, der Premierminister Großbritanniens, Winston Churchill und das Staatsoberhaupt der Sowjetunion, Josef Stalin die Nachkriegsordnung festgelegt.

Dort entstand nicht nur die Teilung Deutschlands, dort wurde Europa gespalten. Stalins Forderung, dass Polen und die Tschechoslowakei, das Baltikum aber auch der Balkan eine Art Sicherheitsring von Satellitenstaaten um die UdSSR bilden sollten, wurde erfüllt und bedeutete in der Konsequenz, dass diese Staaten nach dem Ende des Krieges in den sowjetischen Machtbereich eingegliedert werden sollten. Die Großen Drei haben die vollständige Neuordnung Europas mit ungeheuren Konsequenzen für den Kontinent wesentlich auf diesen beiden Konferenzen festgelegt.

Auch hier gibt es ein Foto, das in seiner fast familiär anmutenden Behaglichkeit im Gegensatz zur Bedeutung der Konferenzen steht: In der trauten Runde der Großen Drei, die sich zum Publikum öffnet, scheint es keinen Dissonanzen zu geben. Die Tragweite der Entscheidungen, die damals fielen, die wir erst heute einschätzen können, verschweigt das Bild.

Das Foto der "Großen Drei" hat im Westen und noch viel mehr im östlichen Europa Geschichte gemacht, und es gibt kaum ein Schulbuch im östlichen Europa, das es nicht in Verbindung mit der Sowjetisierung seines Landes erwähnt.

Das Bild von den Großen Drei steht für die Teilung der Welt, es steht für den Kalten Krieg, es steht für die Besetzung der Länder durch die Sowjetunion, und es steht aus der Perspektive unserer östlichen Nachbarn zugleich für die Freiheit des Westens, der den Osten verraten hat.

Durch die Konferenzen von Teheran und Jalta war nicht nur der sowjetische Machtbereich geographisch ausgedehnt worden. Die Nationen, die in den Sicherheitsring eingeschlossen waren, sollten ihre eigene Geschichte zugunsten der sowjetischen Geschichtsdeutung vergessen.

In den von der Sowjetunion zunächst befreiten, dann besetzten Ländern konnte eine aufrichtige Auseinandersetzung erst nach der Freiheitsrevolution von 1989 beginnen. Bis dahin war die zur Staatsideologie gewordene Deutung des Krieges als "Großer Vaterländischer Krieg" und gemeinsamer Kampf gegen den Faschismus nicht kritisierbar. Erst 1989 durfte offen gesagt werden, dass die Befreier von 1945 für viele osteuropäische Staaten zugleich die Unterdrücker für die folgenden 44 Jahre waren.

Meine Damen und Herren, am 12. September 1990 unterzeichneten in Moskau die Außenminister der vier Siegermächte sowie Außenminister Genscher und Ministerpräsident de Maiziére den Souveränitätsvertrag, den so genannten "Zwei plus vier-Vertrag" für das vereinte Deutschland. Auch hiervon gibt es Fotos, die allerdings im öffentlichen Bewusstsein wenig präsent sind. Auch diese Bilder sagen wenig aus über die Bedeutung jenes Augenblicks. Mit der Öffnung der Grenzen und der deutschen Wiedervereinigung wurde auch die Wiedervereinigung Europas in Frieden und Freiheit möglich. Und wir Deutschen haben allen Grund, Michail Gorbatschow dankbar zu sein, ohne dessen mutige Perestroika diese Entwicklung nicht möglich gewesen wäre.

Der Westen hatte in der Nachkriegszeit von Teheran und Jalta, von der Teilung Europas und vom Kalten Krieg durchaus profitiert. Denn hier haben die Nationen ihre Geschicke selbst bestimmt. Sie haben es in stabilen Demokratien zu Freiheit und Wohlstand gebracht. Für das östliche Europa sind diese Werte so vorbildlich und erstrebenswert, dass sie nach dem Fall der Mauer, nach der gewaltfreien Revolution sofort die Anbindung an den Westen als vorrangiges Ziel formulierten. Seit dem 1. Mai 2004 ist dieser Traum für einige Länder Wirklichkeit geworden. Die Europäische Gemeinschaft hat 10 weitere Länder aufgenommen. Dazu gehören auch Länder aus dem ehemaligen Warschauer Pakt.

Im Westen hat man zwar nicht vergessen, dass diese Länder bis 1989 noch zu einem System gehörten, dass ihnen die staatliche Souveränität verweigerte, aber die unterschiedlichen historischen Erfahrungen von West- und Osteuropäern sind von uns noch nicht wirklich erfasst und wahrgenommen.

Die jetzige Debatte zeichnet sich in fast allen Ländern durch konkurrierende Geschichtsbilder und eine neue, erfreuliche Unübersichtlichkeit aus. Erfreulich ist die Tatsache, dass die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven nun offen miteinander ausgetauscht werden können.

In diesem neuen, europäischen Panorama der Bilder und Geschichtserzählungen spielt das Museum Berlin-Karlshorst eine wichtige Rolle. Mit der Ausstellung "Triumph und Trauma" beweist es, wie gewissenhaft wir uns der Geschichte nähern können, wenn wir den Kontext ihrer Rezeptionen stets mit im Auge behalten.

Die Zukunft wird zeigen, ob es uns im neuen Europa gelingt, die nationalen Diskussionen zum Teil unserer gemeinsamen europäischen Erfahrungen zu machen. Und ob mit der Zeit ein gemeinsamer europäischer Blick auf den Zweiten Weltkrieg möglich ist.

Für Europa, für uns alle, wäre das ein großes gemeinsames Ziel.