Redner(in): Christina Weiss
Datum: 04.05.2005

Untertitel: Vor sechzig Jahren wurde das Konzentrationslager Neuengamme befreit. Kulturstaatsministerin Weiss eröffnete das neue Begegnungszentrum der KZ-Gedenkstätte mit der Mahnung, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten. "Wenn wir sie vergessen, wäre das ein letzter Sieg des alten Faschismus. Und ein erster Schritt zum Sieg des neuen Faschismus dazu. Dazu wollen wir es nicht kommen lassen."
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/05/825505/multi.htm


Wenn es um die Geschichte und um Erinnerung geht, haben Zahlen keinen guten Ruf. Man sagt Zahlen nach, sie wären nur abstrakte Zeichen, hinter denen die konkreten menschlichen Erfahrungen und Leiden verschwinden. Wenn erst einmal der Schmerz, die Hoffnung, die Trauer und die Freundschaft mit denjenigen gestorben sind, die all dies empfanden, dann bleiben die Zahlen in den Geschichtsbüchern - so heißt es - und mit ihnen erkaltet langsam die Erinnerung. Ich misstraue den Zahlen nicht so sehr. Denn ich habe hier, in der Gedenkstätte Neuengamme selbst erfahren, wie eine unscheinbare Zahl zum Schlüssel werden kann, der späteren Generation die Dimension des Grauens im wahrsten Sinne des Wortes erschließt.

1,80 Meter heißt diese Zahl. So hoch sind die Gewölbebögen in den Kellern von Neuengamme. Verglichen mit anderen Ziffern - etwa den 106 000 Gefangenen, die in dem Konzentrationslager gequält wurden, und von denen 55 000 starben - ist 1,80 Meter eine scheinbar harmlose Zahl. Sie begegnete mir in meiner Zeit als Hamburger Kultursenatorin während des langen Ringens um die würdige Gestaltung der Gedenkstätte auf einem Blatt Papier, das damals auf meinen Schreibtisch landete. Ich habe sie mir gemerkt, weil ich wusste, dass dieses Kellergewölbe bis obenhin für alle Ewigkeit angefüllt sein wird mit Leid und mit dem Nachhall verklungener Schreie, hörbar immer noch für denjenigen, der weiß, was an diesem Ort passiert ist.

In den Erinnerungen vieler Häftlinge, wie sie in Schriften, in Ton- und Bildaufzeichnungen niederlegt sind, gehört dieser Keller zu den finstersten Orten eines Lagers, das ohnehin von einer immerwährenden Nacht der Unmenschlichkeit verdunkelt wurde. Hier trieb man sie bei Luftalarm zusammen, immer unter brutalsten Schlägen, hier blieben auf den Treppen Erschöpfte und Tote liegen, über die die Lebenden hinwegrannten und diese ließ man sie zu Tausenden dort unten zusammengepfercht und atemlos ausharren - oft bis zum Zusammenbruch. Mittelalterliche Theologen haben über die Ausmaße der Hölle spekuliert. In Neuengamme kann man es sehen und lesen: Die Hölle war 1,80 Meter hoch.

Diese Zahl ist auch deshalb so genau vermessen und archiviert, weil es eine deutsche Hölle war. Eine Hölle voller bürokratischer Regeln, voller gebrüllter Kommandos und voller fein ausgetüftelter Hierarchien und Abzeichen. Und wenn das geplante repräsentative Eingangsgebäude je fertiggestellt worden wäre, dann wäre es sogar eine Hölle mit urdeutscher Fachwerkanmutung geworden, in der man die Neuankömmlinge wie anderswo auch mit zynischen Sprüchen im Poesiealbum-Stil begrüßte.

Die Hölle war leer, besenrein und auch teilweise frisch gestrichen, als die englischen Soldaten im Konzentrationslager Neuengamme ankamen. Das ist heute genau 60 Jahre her.

Wir haben diesen Tag zum Anlass genommen, uns hier zu versammeln, obwohl er anders als in vielen anderen Lagern für die meisten Häftlinge kein Tag der Befreiung war. Im Bemühen, die Spuren ihrer Terrorherrschaft zu verwischen, hatte die SS bekanntlich die Gefangenen fortgetrieben, in andere Lager und auf die Häftlingsschiffe in der Lübecker Bucht, wo es dann zu jener versehentlichen Versenkung durch englische Bomben kam, die den deutschen Verbrechern allzu gut passte. Schreckensbilder wie aus Bergen-Belsen oder Buchenwald sind aus dem Hauptlager von Neuengamme kaum überliefert. Den Bürgern der Stadt Hamburg blieb der Anblick von Leichenbergen erspart, mit dem die Alliierten Deutsche anderswo konfrontierten.

Genau wegen dieser weitgehenden Spurlosigkeit konnte auch schon rasch nach dem 4. Mail 1945 jene unglückselige Nachkriegsgeschichte des Lagers beginnen, die wir heute mit der Einweihung der völlig neugestalteten Ausstellungs- , Studien- und Begegnungsstätte endgültig beenden. Die Symbolik der grausamen Bilder hätte möglicherweise niemals den Gedanken aufkommen, man könne die Gebäude und das Gelände des Konzentrationslagers für ein Gefängnis nutzen - wie es ab 1948 getan wurde. Doch die sauber geräumten Häuser waren eine Versuchung, der die Bürokratie der Stadt Hamburg nicht widerstehen wollte. Die Motive des damaligen Senats waren nicht unehrenhaft, doch sie zeugen von einem Wunsch, mit der Geschichte dieses Ortes fertig zu werden, der uns heute verblendet vorkommt.

Man wollte damals gegen den Terror des NS-Unrechtsregimes, gegen die Schande der Geschichte das Gegenbild des modernen, demokratisch legitimierten Strafvollzugs setzen. Heute erscheint uns diese Sehnsucht nach Normalität und die Verdrängung der Schuld unvorstellbar, aber sie war paradigmatisch für die ersten Jahrzehnte deutscher Nachkriegsgeschichte.

Die ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers und ihre Organisation, die Amicale, haben jahrzehntelang darauf gedrängt, dass aus Neuengamme ein würdiger Gedächtnis-Ort wird. Ein Ort, an dem Sie und ihre Angehörigen persönlicher Leiden gedenken. Ein Ort, der die Erinnerung an die Toten wachhält.

Und ein Ort, an dem Besucher auch aus späteren Generationen erfahren, welche Verbrechen von Deutschen an ihren Landsleuten und an Verschleppten aus ganz Europa begangen wurden - im Namen einer rassistischen Ideologie, die auch in der Gegenwart wieder frech ihr Haupt erhebt. Heute stehen wir auf einem neugestalteten Gelände mit einem neuen Begegnungszentrum. Wenn auch nur ein einziger junger Besucher in Neuengamme gegen rechtes und rassistisches Gedankengut immunisiert wird, dann waren das Geld und Mühen, die hier investiert wurden nicht umsonst. Wir wünschen uns, dass der Eindruck des ehemaligen Konzentrationslagers bei allen jene Wirkung haben möge.

Dafür ist es nötig, dass jeder, der hierher kommt, seinen ganz persönlichen Schlüssel zur Vorstellung des zeitlich so fernen und eigentlich nahezu Unvorstellbaren findet. Die neuen Dauerausstellungen und das Archiv bewahren Tausende solcher Schlüssel, und sie bieten sie jedem Besucher an. Das kann eine Zahl sein. Das kann die dokumentierte Erinnerung eines Häftlings sein. Das kann ein Gegenstand sein. Oder auch nur der Anblick des leeren Appellplatzes, auf dem die Häftlinge einst den sadistisch-ausgeklügelten Demütigungsritualen unterworfen wurden und auf dem wir gerade eben gemeinsam der Opfer gedacht haben.

Irgendwann wird einmal die Stimme des letzten Zeugen verstummen, der noch aus eigener Anschauung vom Konzentrationslager Neuengamme berichten kann. Dann müssen andere, Jüngere es übernehmen, von dem zu erzählen, was an diesem Ort passiert ist. Wir wünschen uns alle, dass viele solcher Gespräche in der neuen Begegnungsstätte geführt werden, aber auch das die Botschaft dann über die Grenzen des ehemaligen Lagers hinaus immer wieder in die Welt getragen werden. Denn jedes einzelne Opfer dieses Lagers ruft uns eine deutlich hörbare Warnung zu: Vergesst uns nicht! Wenn wir sie vergessen, wäre das ein letzter Sieg des alten Faschismus. Und ein erster Schritt zum Sieg eines neuen Faschismus dazu. Dazu wollen wir es nicht kommen lassen.