Redner(in): k.A.
Datum: 02.05.2005

Untertitel: Vor Sachverständigen der Altenberichtskommission und Seniorenvertreterinnen und -vertretern hat Bundesfamilienministerin Renate Schmidt unterstrichen, dass das in der Gesellschaft immer noch vorherrschende Bild des Alters überholt ist: Ältere Menschen verfügten über wichtiges Fachwissen und erhebliche Potenziale, so die Ministerin. Auf diese Ressourcen dürfe nicht länger verzichtet werden.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/48/824748/multi.htm


Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt, anlässlich der Tagung der Altenberichtskommission mit Seniorenverbänden und Seniorenorganisationen am 2. Mai in Berlin

wenn ich zu Ihnen über das Thema "Potenziale des Alters und ihre gesellschaftliche Bedeutung" spreche, ist es fast so, als würde ich einem Arzt erklären, was es mit der Medizin auf sich hat. Lassen Sie mich trotzdem mit ein paar Beispielen beginnen: Der Physiker Albert Einstein rief 1945 in Reaktion auf den Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki ein Komitee von Atomwissenschaftlern ins Leben, als dessen Präsident er fortan mit zahlreichen Projekten engagiert für die friedliche Nutzung der Atomenergie eintrat. Einstein gründete das Komitee mit 66 Jahren. 1958 hatte der Pianist Arthur Rubinstein die Idee, das komplette Klavierwerk Frédéric Chopins auf Schallplatte zu bannen. Die Gesamtaufnahme nahm 9 Jahre in Anspruch, das Ergebnis ist eine Einspielung, deren Leichtigkeit im Vortrag bis heute als unnachahmlich eingeschätzt wird. Zu Beginn der Plattenaufnahmen war Rubinstein 71 Jahre alt. Und schließlich der Arzt Samuel Hahnemann: Er arbeitete bis ein Jahr vor seinem Tod 1843 an der mittlerweile sechsten Auflage seines die Homöopathie begründenden Werks "Organon". Hahnemann starb mit 88 Jahren.

Vielleicht mögen manche einwenden, dass die hier Genannten doch gute Gründe für ihr Tun hatten: Einstein fühlte sich wahrscheinlich mitverantwortlich für die schrecklichste aller Waffen, die Atombombe. Hahnemann wiederum war von einer Mission beseelt. Der konnte gar nicht loslassen aus Angst, die Bedenkenträger der Schulmedizin würden seine Idee der alternativen Heilmethode sofort versenken, wenn er sie nicht mehr verteidigen kann. Und Rubinstein, der war doch, um es mit Thomas Mann auszudrücken, einfach ein "glückhafter Virtuose".

Aber kommt es überhaupt auf Beweggründe an? Braucht es einen Grund, im Alter noch einmal etwas anzufangen, weiterzuentwickeln, zu vollenden? Kommt es nicht vielmehr darauf an, dass wir in diesen Beispielen Menschen antreffen, die in einem Lebensabschnitt Aktivität entfaltet haben, in dem manch anderer die Hände in den Schoß legt und klagt: "Ach ich bin alt, ich kann das nicht mehr, es traut mir ja auch keiner zu." Solche Selbstzweifel sind der erste Schritt dahin, dass andere, Jüngere plötzlich meinen, die Älteren könnten es wirklich nicht mehr. Aber die Älteren können es nicht nur, sie können es eben oft auch gut oder sogar manchmal besser als die Jüngeren. Am Beispiel Rubinsteins lässt sich das wunderbar knapp verdeutlichen: Sein Klavierspieltalent mag ihm in die Wiege gelegt worden sein. Aber doch nicht die Meisterschaft, mit der er die Gesamteinspielung bewältigt hat! Die Meisterschaft hat er sich über Jahrzehnte hinweg erworben.

Alter ist nicht nur ein Geschenk im Hinblick auf eine höhere Lebenserwartung. Alter ist auch ein Geschenk, weil es dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, sich weiterzuentwickeln, sich zu vervollkommnen. Schauen wir einmal auf Mozart, Schubert oder Chopin, Komponisten, die allzu früh starben. Da wird uns klar, was für ein Verlust ihr früher Tod für die Musik war. Der Wert der geschenkten Zeit, in der wir die Möglichkeit haben, ein Alterswerk zu schaffen, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Sie werden heute mit den Sachverständigen der Altenberichtskommission über Thesen des Fünften Altenberichts diskutieren. Ich habe den Bericht unter das Thema "Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft - Ein Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen" gestellt, weil ich zeigen will, dass das derzeit in der Gesellschaft vorwiegende Bild des Alters überholt ist: Ältere Menschen verfügen über Potenziale, sie haben Fachwissen, sie haben berufliche Erfahrung. Und sie haben dank ihres Alters auch mehr Lebenserfahrung als die Jüngeren. Auf diese Ressourcen dürfen wir nicht länger verzichten. Die meisten zwischen dem 60sten und dem 80sten Lebensjahr fühlen sich wohl und sind gesund. Der von meinem Ministerium geförderte Alterssurvey stellt eine anhaltend hohe und sogar leicht zunehmende Lebenszufriedenheit älterer Menschen in Deutschland fest. Kurzum: Es ist eine Zeit der "gewonnenen Jahre". Der Fünfte Altenbericht wird die Möglichkeiten aktiven Alters in diesem Lebensabschnitt näher beleuchten, nämlich die Potenziale des Alters in der Berufs- und Arbeitswelt, die Potenziale des Alters für die Zivilgesellschaft, die Teilhabe der Älteren am kulturellen und technischen Fortschritt sowie ihre Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben.

Ältere Menschen sind ein Aktiv-Posten in unserer Gesellschaft. Leider ist das bei vielen Unternehmen noch nicht angekommen. Die Deutschen arbeiten eine ungewöhnlich kurze Spanne ihres Lebens. Nur 39 Prozent der Deutschen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren sind derzeit erwerbstätig. Zum Vergleich: In Finnland sind in dieser Altersgruppe über 50 Prozent, in Schweden sogar fast 70 Prozent beschäftigt. Wir müssen endlich mit der Auffassung Schluss machen, dass Männer und Frauen, die das Alter von 50 Jahren überschritten haben, nicht mehr in der Lage sein sollen, dem betrieblichen Geschehen zu folgen und leistungsfähig zu sein. Eine Verbesserung ihrer Chancen im Erwerbsleben ist natürlich auch in einem erheblichen Maße von der Wirtschaft abhängig, die bereit sein muss, das Know-how und die Lebenserfahrung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu nutzen. Von einer veränderten Personalpolitik profitieren nicht nur die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch die Unternehmen selbst. Das beweisen positive Beispiele, wie z. B. das der Firma Fahrion in Kornwestheim, die mit einer Einstellungsinitiative gezielt ältere Ingenieure angesprochen und sich so wertvolle fachliche und persönliche Potentiale als betriebliche Ressource gesichert hat. Oder das Beispiel der Ford AG in Köln, die durch ein betriebliches Gesundheitsmanagement älteren Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen eine an ihren individuellen Fähigkeiten orientierte dauerhafte berufliche Perspektive bietet. Deshalb gilt das Motto: Integrieren statt entlassen! Wir brauchen sie beide, die Graubärte und die Grünschnäbel. Deshalb haben wir die Frühverrentungsmöglichkeiten zu Lasten der Solidarkassen gestoppt. Aber auch die Wirtschaft muss das ihrige tun. Die Unternehmen müssen sich darüber klar werden, dass die Zeit kommen wird, in der sie auf die Älteren angewiesen sind. Betriebe und Verwaltungen müssen ihre "Jugendzentrierung" aufgeben und sich auf die besonderen Beschäftigungsbedingungen altersgemischter Belegschaften einstellen. Arbeitsplätze, Arbeitsorganisation und Arbeitszeit sollten auf das veränderte, stärker durch Lebens- und Berufserfahrung geprägte Leistungsvermögen älter werdender Belegschaften ausgerichtet sein. Wenn sich aber gut qualifizierte Männer und Frauen zwischen Anfang 40 und Anfang 50 hunderte Male erfolglos bewerben und auf Rückfrage gesagt bekommen: "Ja, ein Seniormanager ist bei uns 35", dann ist das eine nicht hinnehmbare Entwicklung.

Wir werden bald die EU-Richtlinie umsetzen, die auch ein Verbot der Diskriminierung wegen des Lebensalters beinhaltet. Das Verbot der Altersdiskriminierung untersagt die Benachteiligung von Männern und Frauen wegen ihres Alters bei der Berufsbildung, dem Zugang zur Beschäftigung, dem beruflichen Aufstieg und den Arbeitsbedingungen. Eine wichtige Voraussetzung für ein längeres Verbleiben im Beruf ist der Erwerb neuer Qualifikationen und die Sicherung von Kompetenzen. In einer Kampagne wollen wir die Maßnahmen der Bundesregierung zum Themenkreis "Potenziale älterer Menschen" in den Handlungsfeldern

lebenslanges Lernen

betriebliche Gesundheit und

Beschäftigung älterer Menschen

bündeln. Es geht darum, zu einer differenzierteren, positiveren Sicht des Alters und damit zu einer altenfreundlicheren Kultur in unserer Gesellschaft beizutragen. Dabei kommt es wesentlich darauf an, eine längere Beteiligung am Erwerbsleben und eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben mit den Bedürfnissen und Möglichkeiten älterer Menschen zu verknüpfen. Nur so werden sie auch motiviert sein, ihre Fähigkeiten einzubringen.

Auch im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements wollen wir die Rahmenbedingungen verbessern. Wir wissen, dass viele ältere Menschen sich für bürgerschaftliches Engagement interessieren. Denn sie sehen in der Freiwilligenarbeit ein sinnstiftendes Element. Die vor wenigen Monaten fertig gestellte zweite Welle des Freiwilligensurveys hat ergeben, dass 40 Prozent der 55- bis 64Jährigen und 26 Prozent der über 65Jährigen ehrenamtlich tätig sind. Die Bereitschaft älterer Menschen zur Übernahme eines Ehrenamts ist damit im Vergleich zu den Daten von 1996 um fast 6 Prozent gestiegen. Senioren und Seniorinnen sind damit die stärkste Wachstumsgruppe, wenn es um bürgerschaftliches Engagement geht. Ältere Menschen suchen zunehmend Tätigkeiten, in denen sie sich eigenverantwortlich einbringen können, in denen sie sozusagen "für sich und andere" gleichermaßen tätig sind, in denen sie sich verwirklichen können. Das bedeutet aber auch: wir müssen über neue innovative Ansätze des freiwilligen Engagements nachdenken. Zum quantitativen Ausbau des freiwilligen Engagements muss auch der qualitative Ausbau treten. Hierzu gehört eine das Engagement unterstützende Infrastruktur. Seniorenbüros, Freiwilligenagenturen oder Ehrenamtsbörsen, um einige Beispiele zu nennen, bilden dabei wesentliche Elemente.

Auf Grund der Empfehlungen der von meinem Ministerium eingesetzten Kommission "Impulse für die Zivilgesellschaft" habe ich zu Ostern 2005 das Programm "Generationsübergreifende Freiwilligendienste" gestartet. Wir wollen in der Praxis herausfinden, welche Rahmenbedingungen solche Freiwilligendienst brauchen - etwa, welche Anreize für Freiwillige wichtig sind. Bei über 50 Einzelprojekten und Projektverbünden übernehmen Bürger und Bürgerinnen jeden Alters nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten Verantwortung nicht nur für sich, sondern auch für andere: Für Junge, für Alte, für Behinderte, Migranten und Migrantinnen, Schüler und Schülerinnen oder auch für besonders belastete Familien. Der Aufbau generationsübergreifender Freiwilligendienste wird hoffentlich weitere Initiativen, besonders auf örtlicher Ebene anstoßen. Auch unser bundesweites Modellprogramm "Erfahrungswissen für Initiativen" soll dementsprechend weiterentwickelt werden. Wir wollen die Entwicklung lokaler Freiwilligendienste durch seniorKompetenzteams erproben. Hierzu soll in den beteiligten Kommunen von den örtlichen Seniorenbüros, Freiwilligenagenturen und Selbsthilfekontaktstellen ein "Runder Tisch für Freiwilliges Engagement im Alter" aufgebaut werden. Die seniorTrainer und seniorTrainerinnen des seniorKompetenzteams, d. h. ehrenamtliche Kräfte, entwickeln Konzepte, sie werben Freiwillige und bauen mit ihnen die Projekte auf, für die vor Ort, in den Kommunen, Bedarf besteht.

Die Potenziale der heutigen Senioren und Seniorinnen sind auch ein Wirtschaftsfaktor. Der "Seniorenmarkt" wird eine zunehmend größere Rolle spielen. Damit eröffnen sich für die Wirtschaft neue und interessante Wachstums- und Beschäftigungsperspektiven. Vor allem im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen und traditionellen Produktionsbereichen wie beispielsweise der Automobil- und Konsumgüterindustrie. Auch jüngere Menschen wissen vielfach den damit verbundenen Komfort zu schätzen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass bereits bestehende Angebote wie beispielsweise Essens-Service, Putz- und Botendienste in höherem Maße nachgefragt werden. Die Bundesregierung möchte diese Entwicklung unterstützen, in dem

das Marktvolumen und die Wachstums- und Beschäftigungspotenziale der Seniorenwirtschaft aufgezeigt werden, Unternehmen für die Bedürfnisse älterer Menschen sensibilisiert und

Entwicklungsimpulse für die entsprechende Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen gegeben werden.

Wenn wir im demografischen Wandel bestehen wollen, müssen wir akzeptieren, dass Kompetenz, Kreativität und Innovationskraft auch jenseits der Lebensmitte vorhanden sind, dass Lernfähigkeit und persönliche Weiterentwicklung nicht mit 50 enden. Die große Mehrheit der Senioren und Seniorinnen von heute bringt beste Voraussetzungen mit, das neue Leitbild des Alters zu verkörpern. Nur mit ihnen gemeinsam kann eine ausgewogene Verteilung von Rechten und Pflichten zwischen den Generationen gelingen. Wir können und wir wollen auf ihr Wissen und ihre Erfahrungen nicht verzichten.

Ich wünsche der Veranstaltung Erfolg und eine fruchtbare Diskussion.