Redner(in): Christina Weiss
Datum: 09.05.2005
Untertitel: Am 9. Mai 1805 starb Friedrich Schiller. Kulturstaatsministerin Christina Weiss appellierte in ihrer Weimarer Rede zum 200. Todestag des Dichters für ein Europa der Kulturnationen: "Die Arbeit an der Kulturnation ist eine geistige Aufgabe, die nie beendet ist. Und sie ist eine europäische Aufgabe. Der Weg ist das Ziel. Wir müssen uns immer wieder neu fragen. Schiller reicht uns dabei die Hand."
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/72/828072/multi.htm
der zweihundertste Todestag Schillers hat uns in den ersten Monaten dieses Jahres viel Schiller beschert. Geradezu als Medienereignis wurde uns der Klassiker präsentiert. Haben wir ihn neu entdecken können? Ist er uns näher gerückt? Fragen, die ich mir selber stelle - als leidenschaftliche Leserin, als Literaturwissenschaftlerin, als Kulturpolitikerin.
Bei unserer langen Schiller-Nacht, mit der wir 24 Stunden lang den Neubau der Akademie der Künste in Berlin am Pariser Platz, im Herzen unseres Landes also, zum ersten Mal dem Publikum öffneten, konnte man staunen. Die Lesungen waren dicht besucht, alle lauschten mit großer Intensität den Texten, denen sie häufig zum ersten Mal nach ihrer Schulzeit in dieser unveränderten Form wieder begegnen konnten. Die Lust am Text war spürbar im Raum. In der tiefen Nacht ging es um ein anderes, ein jüngeres, ein erlebnishungriges Publikum: da wurden Schiller-Verse von Diskjockeys mit elektronischen Rhythmen unterlegt. Einen der DJs konnte man abends in den "Tagesthemen" sagen hören "dieser Schiller war doch auch ein echtes Partytier".
Eine hauptstädtische Tageszeitung druckt täglich ein Schillerzitat - Meditationsgrundlage für den Tag, aber beworben wird die Serie mit einer kleinen Zeichnung, auf der Schillers Haare punkrot entflammt sind. Passend dazu sieht das Logo, mit dem das ZDF für seine zahlreichen Schillersendungen wirbt, aus wie eine Tätowierung: Ein Messer und eine Spritze durchbohren ein blutrotes Comic-Herz. In Stuttgart haben Studenten Schillers "Räuber" mit Playmobilfiguren nachgestellt. Auf diese Weise wollte ja auch schon Harald Schmidt weiland seinen Zuschauern große Werke der Weltliteratur nahe bringen.
Das alles und noch viel mehr ist ehrenwert, es zeugt von Leidenschaft und Phantasie und manchmal ist es auch lustig und bringt Gewinn. Jeder ist in diesen Wochen irgendwie davon überzeugt, dass der Olympier, der vor 200 Jahren starb, trotzdem ein Zeitgenosse ist. Und gerade deswegen werden Sie, meine Damen und Herren, mir verzeihen, wenn ich heute einmal davon spreche, wie fremd uns Schiller doch eigentlich ist. Das soll auch eine kleine Wiedergutmachung sein. Denn ich bin Politikerin, und Schiller ist gerade von der Politik in grotesker Weise vereinnahmt worden. Schon im 19. Jahrhundert nahm sich jeder aus dem Werk, was er brauchte: Die 48er-Demokraten verschworen sich in seinem Namen wie ihre Vorbilder auf dem Rütli.
Und die braven Bürger wollten, dass das Werk den Meister lobt, der Schweiß heiß von der Stirn rinnt und drinnen die züchtigte Hausfrau waltet. 1859 war Schiller Hoffnungsfigur für alle, die auf die nationale Einigung drängten. Später schufen sich Nazis und Kommunisten einen Schiller nach ihrem Bilde. Und zu guter Letzt haben sich auch noch die undogmatischen Linken an den faulen Äpfeln halbverstandener Schiller-Lektüre berauscht. Jeder fand irgendwo im Werk eine scheinbare Legitimation für das Missverständnis, Schiller sei "unser".
Es steht uns also ganz gut an, im Sinne einer Übung in Demut, auf Zurückhaltung gegenüber einer vermeintlich immerwährenden Zeitgenossenschaft zu beharren.
Zwar hat Schiller selbst von sich behauptet, ein "Zeitgenosse aller Zeiten" zu sein. Aber gerade dieser große Anspruch kann auf die Distanz zu heute aufmerksam machen. Damals wollte die Literatur Religion, Bildung, Philosophie und Politik zugleich sein. Maßlos war das rebellische Pathos des stürmenden, drängenden jungen Schiller, und genauso maßlos war der Anspruch des reifen Schiller, den politischen Vulkanismus seiner wahrhaft explosiven Epoche in der Kunst zu domestizieren.
Man muss kein düsterer Donnergott wie Botho Strauß sein und keine von der Gegenwart angeödete Künstlerseele wie Andrea Breth, um beiden beizupflichten, wenn sie sagen, dass unser Zeitalter doch mit etwas kleinerer geistiger Münze handelt.
Wenn man sich heute mit Autoren unterhält, die im Alter des Mannheimer Schiller sind, dann glaubt keiner mehr, er könne zur ästhetischen Erziehung des Menschen beitragen - allein der Gedanke ist ihnen ein Graus. Keiner maßt sich mehr an, zu sagen: "Ich bin die Nation","Ich bin die Religion","Ich bin die Revolution" oder wenigstens "Ich bin die Kunst" - und wie auch sonst noch die klassischen Zauberformeln produktiver Selbstberauschung einst hießen.
Ihre Legitimation beziehen sie eher aus der Höhe ihrer Verlagsvorschüsse, deren Zahlen sie wie Trumpfkarten ausspielen. Und seien wir ehrlich: Der Kulturbetrieb ist ja auch viel behaglicher ohne alle diese starken Leidenschaften, mit denen sich Literatur früher einmal verband. Aber dann wollen wir uns doch bitte keine Sekunde einbilden, wir stünden mit Schiller auf verständnisseliger Augenhöhe wie mit einem unserer echten Zeitgenossen.
Weil ich aufgrund meines Amtes oft als nationale Sachwalterin der Kultur angesehen werde, begegnet mir besonders häufig einer der verführerischsten falschen Freunde aus dem Werk Schillers: Die Kulturnation. Falsche Freunde "nennen Lehrer jene Wörter einer fremden Sprache, die uns aus der eigenen Muttersprache bekannt vorkommen, aber im anderen Land einen ganz anderen Sinn haben. So verhält es sich ein bisschen mit der Kulturnation. Das erste Missverständnis besteht darin, dass viele glauben Schiller habe das Wort erfunden. Das stimmt nicht ganz. Er hat es nur begrifflich geprägt, als er schrieb:" Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist."
Damals hatten gerade die französischen Revolutionsheere die letzte Herrlichkeit des Heilig-römischen Reichs deutscher Nation heftig gezaust. Dessen offiziellen Untergang 1806 hat Schiller dann genauso wenig noch miterlebt wie die Demütigung Preußens direkt vor seiner Haustür, in der Schlacht von Jena und Auerstädt. Der Dichter versuchte, die Kultur zu einer uneinnehmbaren Bastion auszubauen, in der die Deutschen ihre gerade erst entdeckte nationale Identität und ihre Selbstachtung wahren konnten. Das war ein Stück Eskapismus im besten Sinne: Eine Vision, die einen Ausweg aus dem Gefängnis der Gegenwart wies.
Doch allein der Gedanke, dass man sich mit Hilfe der unzerstörbaren Kultur gegen mächtig waltende politische Kräfte verteidigen könnte, steht uns heute fern - sind die meisten der hier Anwesenden doch hauptsächlich damit beschäftigt, die zarte Kultur gegen die Politik in Schutz zu nehmen.
Unsere Kultur muss zart genannt werden, weil wir sie oft genug im Markt- und Konsumgeschehen verzärteln.
Wir wehren uns doch gewaltig dagegen von den Künsten irritiert, geschockt, durchgerüttelt zu werden, um unser Leben zu ändern, weil wir nach der Rezeption eines Kunstwerks, das uns wirklich berührt hat, die Welt anders betrachten müssen als vorher.
Wir wollen doch lieber geruhsam am Feierabend Kunst wahrnehmen, die sich in Jahrzehnten und Jahrhunderten im gesellschaftlichen Konsens als großes Kulturerbe bewährt hat. Bloß nicht zuviel Gegenwart, bloß nicht zuviel Auseinandersetzung mit uns selbst, bloß nicht zuviel Aufforderung zum Nachdenken, lieber Event und konsumierbar an der Oberfläche.
Die Bereitschaft, sich in der Rezeption von Kunst preiszugeben, sich rühren und herausfordern zu lassen, ist natürlich eine Zumutung für den Alltag, aber für den, der sich darauf einlässt, eine ungeheuer fruchtbare.
Andererseits gibt es eine Parallele zu Schillers Zeit: Wie er haben auch wir das Gefühl, in einer Zeit des Niedergangs und der nationalen Demütigung zu leben. Unser Selbstwertgefühl wird von außen durch die globale Wirtschaftskonkurrenz bedrängt, von innen durch erschütternde Ergebnisse all jener Bildungstests, die heute unter dem Wort PISA summiert werden.
Der Patriotismus der alten Bundesrepublik war ein Wirtschaftspatriotismus, der sich in dem stolzen Wort Exportweltmeister zeigte. Jetzt, wo diese merkantilen Grundlagen des Nationalgefühls erschüttert sind, scheint die Verlockung auf, den etwas angestaubten Schrein der Kulturnation aufzupolieren.
Jahrzehntelang stand die Bildung nicht hoch im Kurs. Nun scheint das Ringen um Bildung wieder notwendig, und die Ringer führen die Kulturnation im Munde, und Schiller ist ihr Zeuge. Wie aber erfüllen wir heute die Vorstellung Deutschlands als Kulturnation?
Der Begriff taucht oft auf, aber eher als Kanone, mit der auf Spatzen geschossen wird: auf Theateraufführungen, die einem nicht gefallen, weil sie die eigene Erwartung nicht erfüllen, auf Enttäuschtsein von einer Kunst, von der man sich nur mitreißen lassen könnte, wenn man sich ihr mit offenen Sinnen und neugierigem Geist nähern würde, auf schlechte Zeugnisse oder die Unlust am Auswendiglernen von Balladen und Gedichten.
Ich bin da skeptisch. Nicht weil die Kulturnation in den vergangenen zweihundert Jahren so oft in Sonntagsreden vernutzt worden ist. Sondern, weil ich zweifle, ob das, was Schiller geschrieben hat, sich so schlicht und ohne jeden Verlust für unsere bequeme Erbauung nutzbar machen lässt.
Seitdem Schiller von deutscher Größe in der Kultur träumte, sind mehrere Epochenwenden vergangen, jede kündigte sich an mit einem rhetorischen Regenbogen, in dem die Wörter "Kultur" und "Nation" besonders schillerten. Jedes Mal haben sich die Bedeutung der Wörter und die Gefühle, die sie umgaben, geändert.
Schiller jedenfalls hat das Schlagwort Kulturnation anders gedacht, als wir den Begriff heute plaudernd verwenden. Er dachte gewiss nicht an eine Nationalmannschaft, er dachte aber auch nicht an eine Kultur, die für uns als bürokratisch umhegtes Gebilde die Spielräume für die Künste bereitet.
Für Schiller waren die Wörter Kultur und Nation eine Herausforderung, wiesen ins Utopische, in Metaphysische. Sie hatten eine quasireligiöse Dimension, die wir nicht mehr hören, weil unsere Ohren für Metaphysik ja mittlerweile völlig ertaubt sind.
Das heißt aber nicht, dass ich Schiller nun ganz und gar verloren geben und der Literaturwissenschaft überlassen möchte. Das wäre eine Überreaktion auf das Gebaren all der kumpelhaften Schiller-Umarmer. Nur sollten wir vielleicht akzeptieren, dass gerade der fremde Schiller der interessante Schiller ist. Was hätten wir denn von einem Schiller, in dessen Auge sich nur die Begrenztheit unserer eigenen Vorstellungswelt spiegelt? Wir neigen dazu, historische Distanz zu verdrängen, um uns vorzumachen, die Menschen der Vergangenheit besser zu verstehen.
Wenn wir also anerkennen würden, wie fern uns Schiller ist, dann wäre das zugleich ein Schritt zur Erkenntnis des ganzen Schiller. Und jedes Gran Verständnis, das wir dieser Fremdheit abringen, würde uns helfen aus klärender Distanz auf unsere eigene Wirklichkeit zu blicken.
Die Kulturnation war einst eine Utopie. Es gab noch keine deutsche Nation und die Kultur konnte die Orientierung geben auf dem Weg dahin. Das war ein großer Anspruch, fast ein größenwahnsinniger - ein Ansatz, der aber bis heute der Kunst zukommt, auch wenn weder die Bürgerinnen und Bürger noch die Politik es ihr zugestehen. Die Kultur als das notwendig emotional motivierende Gemeinschaftsbildende, das die Summe aller regionalen Einheiten nationstauglich zu machen vermag.
Auch im Namen einer gemeinsamen Kultur, die Schiller und seine Zeitgenossen erst geschaffen haben, hat sich die Nation 1871 geeint. Im Dritten Reich haben die Nationalsozialisten die sogenannte Kulturnation überhöht verzerrt, mordend gesäubert und damit verkümmert.
In den Jahren zwischen 1945 bis 1989 war die zerrissene Kulturnation wieder bloße Utopie, in der das Gemeinsame trotz aller politischen Trennungsbefehle sich bewahrte.
Jetzt haben wir wieder eine geeinte Nation - aber um die Kultur scheint es nicht so gut bestellt zu sein. Was begreifen wir heute unter Schillers "sittlicher Größe" ? Wie konzipieren wir heute die Utopie unserer Kulturnation? Ohne sie gleich wieder trivial dingfest machen zu wollen, will ich lieber sagen: Die Vorstellung von der Kulturnation ist fruchtbar anspornende Sehnsucht. Sie ist eine dauernde Ermahnung zur Freiheit des Subjekts in gemeinschaftlicher Verantwortung. Sie ist die Aufforderung zur Wertschätzung der Kultur - die in ihrer ganzen Vielfalt die nationale Gemeinschaft erst motiviert. Unser Radius heute geht aber über die nationalen Grenzen hinaus.
Wir kommen heute stets auf zwei Faktoren zurück, wenn wir Europa zu definieren versuchen: die gemeinsamen Werte und die Kultur. Der Reichtum der kulturellen und sprachlichen Vielfalt taugt nicht nur für Verfassungspräambeln, sondern ist Grundlage unseres Zusammenlebens. Wo ist die Neugier, die Aufbruchstimmung geblieben, das Gespür für die unbegrenzten Möglichkeiten an Ideen und Visionen, die sich mit dem Geschenk von 1989 eröffneten? Wenn die europäische Einigung auch geistig vorankommen soll, müssen wir an unserer gemeinsamen Identität weiterarbeiten. Identität lässt sich aber nur schaffen, wenn es uns gelingt, unsere Wahrnehmung zu verändern und den Zauber Europas wieder zu entdecken. Und dazu brauchen wir die Kultur. Lassen Sie uns also gemeinsam arbeiten für ein Europa der Kulturnationen.
Die Arbeit an der Kulturnation ist eine geistige Aufgabe, die nie beendet ist. Und sie ist eine europäische Aufgabe. Der Weg ist das Ziel. Wir müssen uns immer wieder neu fragen. Schiller reicht uns dabei die Hand. Ich danke Ihnen!