Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 09.05.2005

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/38/828038/multi.htm


Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kriegsteilnehmer aus Russland und aus Deutschland, liebe Jugendliche,

es ist für mich wirklich eine Ehre, hier mit Ihnen zusammentreffen zu können. Der Präsident hat ja Recht, wenn er darauf hinweist, dass kein anderes Land für den Sieg über Hitler-Deutschland einen so hohen Preis entrichten musste wie die Völker der damaligen Sowjetunion.

Aber auch mein Land hat unsagbar unter dem von den Nazis begonnen Krieg gelitten. Es ist fast ein Wunder, dass wir 60 Jahre nach Beendigung dieses unsäglich grausamen Krieges hier zusammensitzen - wir: Deutsche und Russen, Kriegsteilnehmer, Jugendliche, Politiker - und uns über eine Perspektive für unsere Länder und für Europa unterhalten können.

Wer eine bessere Zukunft will, der muss sich erinnern wollen, immer wieder, darf niemals verdrängen und auch nicht vergessen, was passiert ist. Das wurde auf dieser sehr würdevollen Feier deutlich, die Präsident Putin ausgerichtet hat. Wir haben uns an die jungen Männer erinnert, die auf den Schlachtfeldern starben - Russen, Ukrainer, Weißrussen, Menschen aus allen Teilen der früheren Sowjetunion, aber natürlich auch Deutsche.

In der bewegenden Rede des Herrn Präsidenten ist deutlich geworden, dass wir uns auch an die jungen Frauen erinnern, deren Kinder im belagerten Leningrad verhungerten oder erfroren. Wir haben auch an die Opfer der Judenvernichtung gedacht, und wir denken an alle Menschen, die im Krieg Furchtbares erleiden mussten. Lassen Sie mich sehr persönlich hinzufügen, verehrter Herr Präsident: Ich denke z. B. daran, dass Ihre Mutter während der Blockade Leningrads nur um Haaresbreite dem Tod entronnen ist. Gestatten Sie mir ebenso daran zu erinnern, dass in diesem Krieg auch mein Vater gefallen ist. Auch deshalb, denke ich, wissen wir um unsere gemeinsame Verantwortung, dass sich das niemals in der Zukunft wiederholen darf - zwischen unseren Völkern nicht, aber auch nicht zwischen anderen.

Sie haben in Ihrer Rede, Herr Präsident, an die Bedeutung der Aussöhnung zwischen Russland und Deutschland erinnert. Ich bin Ihnen sehr dankbar für dieses Wort, das ich nicht als eine Selbstverständlichkeit ansehe, sondern als eine große Geste für mein Land.

Die Verantwortung, die wir miteinander verspüren, heißt, dass wir dafür zu sorgen haben, dass der Mensch und seine unveräußerlichen Werte im Mittelpunkt unserer Politik stehen.

Totalitäre Ideologien dürfen ebenso wenig Raum haben wie Terrorismus. Deshalb gilt unsere gemeinsame Absage allen Ideologien, die den Menschen seiner Würde und seiner Freiheit berauben, ihn entrechten und gar versklaven. Das ist der Grund, warum wir gemeinsam gegen jede Form von Nationalismus kämpfen und gemeinsam für eine europäische Zukunft arbeiten, die auf gleichberechtigter Partnerschaft beruht.

Dass ein Zusammentreffen zwischen Menschen, die sich bekämpfen mussten, möglich geworden ist, bestärkt mich in meiner Auffassung, dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um zu einer dauerhaften Partnerschaft gerade zwischen Russland und Deutschland zu kommen. Ohne eine solche Partnerschaft wird es sehr schwer sein, das Ziel zu erreichen, das wir alle erreichen wollen, nämlich dauerhaften Frieden und dauerhaftes Wohlergehen der Menschen auf unserem Kontinent möglich zu machen.

Ich kann mir vorstellen, liebe Kriegsteilnehmer aus Russland und Deutschland, dass es Sie freut, hier am Tisch junge Menschen aus unseren Ländern zu sehen, die diesen Auftrag, den wir gemeinsam verspüren, in Zukunft als ihren eigenen annehmen werden. Haben Sie doch ganz erheblich dazu beigetragen, dass Wirklichkeit wurde, was Sie zu Zeiten, als sie jung waren, bestenfalls als einen fernen Traum annehmen konnten.

Jeder wird es an diesem Tisch verstehen - und ich hoffe, alle, die uns zuhören, auch - , wenn ich meinen großen Respekt den deutschen Antifaschisten bezeuge, die nicht unerheblich dazu beigetragen haben, dass wir in die Völkergemeinschaft zurückkehren konnten.

Wenn heute - lassen Sie mich das auch noch sagen - junge Russen und junge Deutsche die Gräber der gefallenen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg pflegen, dann erfüllen sie in sehr konkreter und sehr bewegender Weise das Vermächtnis derer, die in diesem Krieg zu Tode gekommen sind.

Ich bin mir sicher, verehrte Kriegsteilnehmer aus Russland und Deutschland, dass Sie von uns, der heute entscheidenden Generation verlangen, dass wir für Frieden und Wohlergehen unserer Völker sorgen, und zugleich erwarten, dass dieser Kampf, den Sie geführt haben, von der jungen Generation unter - Gott sei Dank - veränderten Bedingungen weitergeführt wird.

Nicht zuletzt deshalb noch einmal herzlichen Dank dafür, dass diese Zusammenkunft möglich wurde und ich hier teilnehmen konnte.