Redner(in): k.A.
Datum: 08.05.2005

Untertitel: Am 8. Mai 2005 machten die Teilnehmer an der Kulturrallye TRIDEM Station in Frankfurt/Oder. Ein Kulturfest auf der dortigen Oderbrücke war die Auftaktveranstaltung des Deutsch-Polnisches Jahres.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/98/826598/multi.htm


eigentlich möchte man jetzt nur noch ausrufen: "Laufet, Brüder, eure Bahn / Freudig, wie ein Held zum Siegen!" Doch das kommt später. Wir haben uns hier auf dieser Brücke versammelt, weil hier die Trennung unseres Kontinents am schmerzlichsten und die Freude über die gewonnene Einheit groß war. Jahrelang lebten Deutsche und Polen mir dem Rücken zueinander, jetzt erst schauen sie einander wieder ins Gesicht. Wir haben uns hier getroffen, um uns gemeinsam zu erinnern, aber auch, um gemeinsam in eine selbstbewusste Zukunft zu blicken.

Die französisch-polnisch-deutsche Kulturrallye TRIDEM hat zwei Drittel ihrer Strecke zurückgelegt. Das Französisch-Polnische Kulturjahr übergibt die Staffel an das Deutsch-Polnische Jahr.

Sechzig Jahre lang herrscht Frieden in Europa. Wir haben zwei totalitäre Diktaturen fallen sehen. Wir haben 1989 - vor allem ausgelöst durch die Gewerkschaft Solidarnosc und Lech Walesa, den mutigen Priester Jerzy Popieluszko, die Arbeiter der Danziger Lenin-Werft, unterstützt von Papst Johannes Paul II. - eine europäische Freiheitsbewegung ohne Beispiel erlebt. Dafür, auch für die deutsche Einheit, gebührt unseren polnischen Freunden Dank, viel Dank. Heute stehen wir hier, der brutal getrennte Kontinent ist friedlich wiedervereint und wir dokumentieren, dass wir mehr sind als nur Franzosen, Polen und Deutsche. Wie gehören zu einem größeren Ganzen: zu Europa.

Die europäische Idee braucht Projekte wie TRIDEM, vor allem aber Enthusiasmus, Emotionen, ein Gefühl für Mentalität und Kultur, ein verändertes Marketing. In einem Buch habe ich gelesen, dass Europa mehr sei als normierte Schweinehälften, sondern vor allem eine große geistige Herausforderung, eine kulturelle Wiederentdeckung, eine Haltung. In einer sich wandelnden und globalisierten Welt werden die künftigen Generationen sich vielleicht zuerst als Europäer ausgeben, und erst dann als Franzosen, Polen oder Deutsche.

Heute, am 8. Mai 2005, jährt sich zum 60. Mal der Tag des Kriegsendes, der Tag, an dem das nationalsozialistische Terrorregime kapitulieren musste, der Tag der Befreiung für die Deutschen. Dennoch hat der Begriff der Befreiung für unsere östlichen Nachbarn einen ganz anderen Inhalt. Für sie ist er schiere Ideologie, denn was dort 40 Jahre wiederkehrend als Befreiung gefeiert werden musste, war nicht anderes als Okkupation. Der 8. Mai 1945 brachte Europa zwar den Frieden - die Freiheit blieb einem halben Kontinent allerdings mehr als vier Jahrzehnte versagt.

Daran müssen wir im Westen denken, wenn wir warmherzig von der Völkerfamilie Europa reden! Erst wenn wir die Geschichte von Schuld und Widerstand, von Unterdrückung und Befreiung in ihrer ganzen Komplexität erfassen, haben wir die Chance, ein friedvolles und zukunftsträchtiges europäisches Haus zu bauen. Andrzej Szczypiorski, dieser wunderbare, viel zu früh verstorbene Autor, sagte: "Und noch eines weiß ich, dass das künftige Europa ohne Gedenken an all diejenigen - abgesehen von ihrer Nationalität - nicht existieren kann, die in der damaligen Zeit voller Verachtung und Hass umgebracht, zu Tode gefoltert, ausgehungert, vergast, verbrannt, aufgehängt wurden."

Tatsächlich ist in diesem Gedenken ein neues Europa entstanden, und der 9. Mai ist zugleich Europatag, der 55. Jahrestag des Schumannplanes zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.

Robert Schumann hatte damals handfest den Weg gewiesen, den Europa nehmen müsse: "Europa", so Schuman,"wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen". Solidarität der Tat: Vergessen wir bei aller notwendigen politischen Debatte nicht, dass wir uns dort am ehesten treffen, wo wir klare gemeinsame Interessen zum gegenseitigen Nutzen zusammen durchsetzen können.

Aber: Nicht nur! Dieses Deutsch-Polnische Jahr soll gerade, wie bereits das Französisch-Polnische Kulturjahr, die kulturelle, die geistige Dimension der bilateralen Beziehungen ins Bewusstsein rücken:

Erst in der Einheit seiner kulturellen Vielfalt kommt Europa zu sich selbst. Und Friedrich Schiller, dessen 200. Todestag wir morgen begehen, Schiller, dessen idealistisches Freiheits-Ethos von Niemandem so begeistert und wirkungsmächtig aufgenommen wurde wie von dem großen polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz, Schiller, dessen Ode an die Freude wir gleich als Hymne Europas hören werden, Schiller erkannte: "Es ist der Geist, der sich den Körper baut".

Also: Laufet Brüder, eure Bahn - nach Europa! Herzlich willkommen zum Deutsch-Polnischen Kulturjahr!