Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 19.05.2005

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder gehalten anlässlich der Enthüllung einer Plakette zur Einweihung des Place Stanislas am 19. Mai 2005 in Nancy.
Anrede: Verehrter Herr Staatspräsident Chirac, verehrter Herr Präsident Kwasniewski, sehr geehrter Herr Rossinot, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/83/832683/multi.htm


heute kann man hier spüren, dass wir eben nicht nur Franzosen, Polen oder Deutsche, sondern wirklich Europäer sind. Man kann spüren, dass Europa mehr als eine Sache des Verstandes ist, sondern allemal auch eine Sache des Herzens. Was dieses uns allen, den Völkern Europas, bedeutet, wer wüsste es besser als Franzosen, Polen oder Deutsche? Heute gehören diese drei Völker befreundet zu einem einigen und friedlichem Europa. Wer sich die keineswegs immer friedliche Geschichte unseres Kontinents vergegenwärtigt, der spürt und der weiß, dass das ein unerhörter Glücksfall ist - ein Glücksfall, den wir alle miteinander unbedingt bewahren müssen.

Im vergangenen Jahr hatte ich die Ehre, von Präsident Chirac eingeladen zu werden, als es darum ging, den 60. Jahrestag der Befreiung Frankreichs, aber eben auch der Befreiung Europas zu feiern. Ich war danach in Polen, als ich gemeinsam mit Präsident Kwasniewski der mutigen Männer und Frauen gedenken durfte, die im Warschauer Aufstand umgekommen sind. Und vor wenigen Tagen durfte ich als deutscher Bundeskanzler in Russland sein, um des 60. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs zu gedenken - eines Weltkriegs, von Deutschen begonnen, der so unerhört viel Leid über die Menschen, insbesondere in Europa, gebracht hat. Wenn man sich dies vergegenwärtigt, dann spürt man, was uns alle Europa, das ganze Europa bedeutet und bedeuten muss und welche Verantwortung wir haben, es zu bewahren und immer weiter zu entwickeln.

Uns verbindet aber nicht nur die gemeinsame Erinnerung an Krieg und Leid und die richtige Konsequenz daraus. Nein, in Europa verbindet uns mehr. Uns verbindet ein Gesellschaftsmodell, das anders ist als in anderen Teilen der Welt - ein Gesellschaftsmodell, das basiert auf wirtschaftlicher Effizienz, die wir wollen und wollen müssen, wenn wir konkurrenzfähig bleiben wollen, aber eben auch auf sozialer Sensibilität, auf dem Gedanken der Solidarität, auf dem Gedanken der Gleichheit aller Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.

Das sind die Gedanken der europäischen Aufklärung, der französischen Revolution. All das findet sich in der europäischen Verfassung - einer Verfassung, die insbesondere ihren Ausgangspunkt von Frankreich genommen hat, von Franzosen maßgeblich mit gestaltet, eine Verfassung also, die Frankreich eine besondere Verantwortung für diese Verfassung und für ein einiges Europa auferlegt. Meine inständige Bitte ist - in allem Respekt vor der Souveränität des französischen Volkes - , in der Abstimmung am 29. Mai an die Verantwortung für diese großartigen Werte zu denken und mit Ja zu stimmen. Darum bitte ich Sie wirklich von Herzen.