Redner(in): Christina Weiss
Datum: 02.06.2005
Untertitel: Kulturstaatsministerin Christina Weiss hielt anlässlich des Jubiläums "5 Jahre Taut-Preis" am 2. Juni 2005 im Bundeskanzleramt ein Grußwort zur diesjährigen Preisverleihung.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/06/839806/multi.htm
Die Kunst ist hierarchisch, und an ihrer Spitze regiert ein Architekt. - Dies behauptete vor mehr als zweitausend Jahren der Urvater jeder Architekturtheorie: Vitruv. Bereits im ersten Kapitel seiner "Zehn Bücher über Architektur" beschrieb er, was den Architekten von allen anderen Künstlern abhebe: eine lange und gewissenhafte Ausbildung, Erfahrung in allen Künsten und die gleichberechtigte Anwendung von Wissenschaft und Handwerk. Nicht der Geist allein - so warnte Vitruv - und auch nicht die Begabung formen einen guten Architekten. Nur der Gleichklang der Künste und Geschicke, Kenntnisse in Geometrie und Philosophie, Heilkunst und Juristerei, ein Schreibtalent und gleichwohl Arithmetik machten es dem Architekten möglich, Gebäude entwerfen, berechnen, bauen und auch interpretieren zu können. Und obgleich sich nicht all diese Anforderungen in modernen Studienplänen wiederfinden, ist ein Architekturstudium noch heute mit ganz besonderen Herausforderungen verbunden, die man in anderen künstlerischen oder technischen Berufen nicht kennt. Neben einer tiefen fachlichen Durchdringung aller nur denkbaren Bauaufgaben ist es vor allem die Breite gestalterischer Erfahrung, die aus einem begabten erst einen guten Architekten macht. Wer bauen will, muss Gebäude zuerst sehen und erleben lernen, muss sich umtun in der Welt, in Werkstätten und Büros, muss sich einen Bilderschatz erarbeiten, den er an einer Universität, in einer Stadt, ja nicht einmal in einem Land finden kann. Architekten müssen wandern, und es war nicht zuletzt diese alte Weisheit, die die rot-grüne Bundesregierung vor nunmehr fünf Jahren bewog, mit dem "Taut-Stipendium" den höchst dotierten Nachwuchspreis für junge Architektinnen und Architekten als Reisestipendium auszuloben. Mehr als 675.000 Euro hat mein Haus seither für den "Taut-Preis" zu Verfügung gestellt, und insgesamt 40 besonders begabte Absolventinnen und Absolventen deutscher Hochschulen ausgezeichnet. Ihre Auslandsreisen führten sie vor allem in die USA, aber auch nach England, Italien, die Niederlande und in die Schweiz, wo gleich zwei Stipendiaten ihre Meriten im Büro von Herzog & de Meuron erwerben durften.
Diese Zahlen sind ein Grund zur Freude und es erfüllt mich mit Genugtuung, dass sich dieser Preis "rumgesprochen" hat und in jedem Jahr mehr Bewerbungen bei unserem Partner, der Bundesarchitektenkammer, eingehen. Wir feiern diesmal unser erstes kleines Jubiläum, das "5-Jährige", im Rahmen einer Abendveranstaltung und ich freue mich, Herrn Konrad Wohlhage als Festredner und Herrn Heinrich Wefing als Moderator gewonnen zu haben. Nicht zuletzt bin ich aber auch stolz darauf, dass es uns hierfür gelungen ist, das Budget um 9.000 € zu erhöhen, und das dauerhaft!
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Architektinnen und Architekten betreiben die öffentlichste aller Künste. Sie gestalten Bauwerke, Stadträume und Landschaften, denen sich die Menschen nicht entziehen können. Damit tragen sie gegenüber der Gesellschaft eine ganz besondere Verantwortung, die sich nicht in den Wünschen der Bauherren erschöpfen darf. Architektur und Städtebau, wie wir sie kennen, sind eine Werkschau und die Generatoren unserer geistigen Verfasstheit zugleich. Gebäude und städtische Räume sagen mehr über uns, als wir gemeinhin glauben, und sie beeinflussen uns in den alltäglichsten Belangen. So ist es kein Wunder, dass es immer mehr bürgerschaftliche und politische Initiativen gibt, die sich mit der Frage beschäftigen, wie sich die Qualität unserer gebauten Umwelt erhalten oder steigern lässt. Debatten um das Phänomen der "schrumpfenden Städte", die Förder- und Forschungsprogramme "Stadtumbau Ost" und "Stadtumbau West", die Internationalen Bauausstellungen in Deutschland, die ungezählten Vereine, die sich für die Erhaltung des baulichen Erbes einsetzen, und nicht zuletzt die Bundesinitiative Architektur und Baukultur belegen, wie wichtig den Menschen gute Architektur ist. Gerade in Zeiten sich wandelnder Märkte und besonders im Kontext der Einigung und Erweiterung Europas ist es für die Bundesrepublik unumgänglich, sich den Herausforderungen eines modernen Bau- und Planungswesens zu stellen. Ein Viertel des gesamten europäischen Bauvolumens wird in unserem Land erzeugt, und wir wären schlechte Sachwalter der Kultur, würden wir diese enormen wirtschaftlichen Potenzen allein dem Markt überlassen.
Die Geschichte der Architektur belegt eindrücklich, dass sich nicht durchsetzt, was billig und auswechselbar ist. Es ist die gestalterische und die bauliche Qualität, die den Wert eines Gebäudes, eines Platzes und einer ganzen Stadt bestimmen. Architektur und Städtebau sind unüberschätzbare Standortfaktoren, und deshalb tun wir gut daran, in die Qualität unserer gestalteten Umwelt zu investieren. Dass diese Investition in den Köpfen der jungen Architektinnen und Architekten beginnen muss, lehrt nicht zuletzt Vitruv mit seinem Plädoyer für eine ganzheitliche Ausbildung. Wir versuchen, diesem Anspruch mit unserem Taut-Preis Rechnung zu tragen. Zwar warnt uns die antike Schrift, dass ein guter Architekt "nicht dauernd darauf aus sein [soll] , Geschenke zu bekommen." Da mit unserem Reisestipendium allerdings die Hoffnung verbunden ist, dass mit den Preisträgerinnen und Preisträgern neue Ideen und Projekte in unser Land zurückkommen, müssen Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger nicht um ihre "Gesinnung" fürchten, wie Vitruv es ausdrückt. Genießen und nutzen Sie vielmehr unser "Geschenk" und gestatten Sie mir zum Schluss eine Bitte, die ich an dieser Stelle nun schon zum dritten mal gern wiederhole: Kommen Sie zurück, Deutschland, unsere Baukultur, braucht Sie!
Vielen Dank.